Textatelier
BLOG vom: 19.06.2006

Arzneimittel-Skandal: Kinder als neue Versuchskaninchen

Autor: Heinz Scholz
 
Millionen Kinder sind ungewollt Versuchskaninchen für die Pharmaindustrie. Sie schlucken die verordneten Medikamente, obwohl die Arzneien nie an Kindern getestet wurden (die Dosierungen wurden von den Ärzten bisher nur geschätzt). Die Pharmafirmen sehen sich jedoch vor. Sie bringen Warnhinweise auf ihren Beipackzetteln an, um eventuelle Schadenersatzforderungen aus dem Weg zu gehen. Betrachten wir die Beipackzettel für 3 Medikamente einmal näher:
 
Auf dem Beipackzettel für Acetylsalicylsäure (ASS) ist Folgendes zu lesen: „ASS soll jedoch von Kindern und Jugendlichen mit fieberhaften Erkrankungen nur auf ärztliche Anordnung und nur dann eingenommen werden, wenn andere Massnahmen nicht wirken. Sollte es bei diesen Erkrankungen zu lang anhaltendem Erbrechen kommen, so kann dies ein Zeichen des Reye-Syndroms, einer sehr seltenen, aber lebensbedrohlichen Krankheit sein, die unbedingt sofortiger ärztlicher Behandlung bedarf.“
 
Paracetamol 500 mg Tabletten sind nicht geeignet für Kinder unter 6 Jahren. Hierfür stehen Präparate in Form von Saft oder Zäpfchen mit geringerem Wirkstoffgehalt zur Verfügung.“
 
Auch auf dem Beipackzettel von Ritalin sind zahlreiche Warnhinweise, Wechselwirkungen und Nebenwirkungen aufgeführt (da kann es einem Angst und Bange werden). So können wir beispielsweise auf dem Beipackzettel für Ritalin von Novartis (Präparate für Deutschland) lesen: „Für die Behandlung von Kindern unter 6 Jahren liegen ausreichende klinische Daten nicht vor.“
 
Auf dem Beipackzettel für Ritalin, das in den USA verkauft wird, steht dann unter „Warnungen“ Folgendes: „Ritalin sollte nicht unter 6 Jahren verschrieben werden, da Sicherheit und Wirksamkeit in dieser Altersgruppe nicht nachgewiesen worden sind. Ausreichende Daten über Sicherheit und Wirksamkeit von langfristiger Verwendung von Ritalin bei Kindern sind zurzeit nicht vorhanden.“ (Ausführliche Infos über Ritalin unter http://www.hypies.com/medi/ritalin/ritali19.html).
 
Wieder Versuchskaninchen
90 Prozent der Medikamente für schwerstkranke Kinder wurden nicht an Kindern getestet. Nun soll alles anders werden. Die Mitglieder des Europäischen Parlaments haben kürzlich beschlossen, dass alle neuen Medikamente, die auch Kindern verordnet werden, klinisch getestet werden sollen. Die Regelung, die ab 2007 gelten soll, ist für die Pharmaindustrie bindend. Nun gibt es eine andere Kategorie Versuchskaninchen.
 
Walter Hess kommentierte diese Meldung in einer E-Mail so: „Es ist grausam, dass wehrlose, unmündige Kinder abenteuerliche Medikamente schlucken müssen und nun auch noch in die Testerei einbezogen werden! Ritalin kann erfolgreich durch homöopathische Anwendungen umgangen werden.“
 
Demgegenüber spricht Hannsjörg Seyberth von einem „Meilenstein“ in der europäischen Gesetzgebung. Der genannte „Fachmann“ war bis zu seinem Ruhestand Direktor der Universitätsklinik Marburg und engagierter Vorsitzender für Arzneimittelsicherheit. Kinderärzte fordern schon seit 20 Jahren die Tests an Kindern. Die Wirkung von Arzneimitteln ist nämlich bei Säuglingen und Kindern anders als bei Erwachsenen. So bauen Säuglinge die Wirkstoffe langsamer ab, weil die Leber und Niere noch nicht voll ausgebildet sind. Kinder vom 2. bis 9. Lebensjahr scheiden Arzneistoffe rascher aus als Erwachsene.
 
Die Pharmaindustrie scheute bisher die hohen Kosten und wohl auch die Risiken, um Arzneimittel an Kindern zu testen.
 
29 Milliarden Mehreinnahmen für die Pharmaindustrie
Aber nun wurden die Bosse der Pharmafirmen hellhörig und freudig erregt. Die Pharmafirmen erhalten einen verlängerten Patentschutz von 6 Monaten für das betreffende Medikament, wenn es auch an Kinder getestet wird. Dies wird bereits seit einigen Jahren in den USA so praktiziert.
 
So hatte bereits 1997 der Pharmakonzern Eli-Lily ihr Antidepressivum an Kindern getestet. Die Firma erwirtschaftete durch diesen „Trick“ einen Zusatzgewinn von 700 Millionen Dollar. Die FDA rechnete einmal aus, wie viel die Pharmafirmen auf diese Weise in den nächsten 20 Jahren zusätzlich verdienen werden: Es sind etwa 29 Milliarden Dollar.
 
Das verführt natürlich dazu, dass auch unsinnige Arzneimittel an Kindern getestet werden, wie beispielsweise Prostatamittel (dies ist tatsächlich passiert!) und Bluthochdruckmittel. Sie haben richtig gelesen. Warum sollten diese „Medikamente“ nicht an wehrlosen Geschöpfen getestet werden, wenn diese erst im höheren Lebensalter mit diesen Gebresten konfrontiert werden? Hier wurden die Pharmafirmen entlarvt und zu Recht „angeklagt“, dass sie nicht die Gesundheit der Patienten im Sinn haben, sondern die Steigerung ihrer Umsätze.
 
Dazu Marcia Angell in ihrem Buch „Der Pharmabluff“: „Die Behörde (FDA) kann solche Prüfungen zwar fordern, sie tut es aber nur in seltenen Fällen. Stattdessen bot der Kongress der Branche ein schönes Bonbon an. Dies hat zur Folge, dass die Pharmaunternehmen ihre Kassenschlager – und zwar auch Medikamente, die vorwiegend bei Krankheiten des Erwachsenenalters wie dem Bluthochdruck eingesetzt werden – an Kindern prüfen, weil die zusätzliche Schonfrist so hohe Gewinne bringt. Weniger gewinnträchtige Medikamente werden unter Umständen nicht an Kindern geprüft, obwohl sie bei dieser Altersgruppe viel häufiger eingesetzt werden.“
 
Die Pharmafirmen benutzen übrigens 10 bis 20 verschiedene Taktiken, um ihre Produkte zu schützen (Verlängerung des Patentschutzes). Das nur am Rande.
 
Um unsinnige Experimente an Kindern zu verhindern, wurde bei der Europäischen Arzneimittelagentur in London, der EMEA, ein Pädiatrieausschuss gebildet. „Das müssen sehr integre Leute sein, die ihre Aufgabe unabhängig, kompetent und ehrenamtlich wahrnehmen“, fordert Hannsjörg Seyberth.
 
Die neue Verordnung besagt auch, dass die Tests nur an kranken und nicht an gesunden Kindern durchgeführt werden dürfen. Bevor die Eltern zustimmen, muss eine Aufklärung durch den Arzt erfolgen.
 
Warum keine Computersimulation?
Lislott Pfaff, engagierte Tierschützerin und Bloggerin aus CH-4410 Liestal BL, schrieb mir zu den Medikamentenversuchen an Kindern folgenden aufrüttelnden Kommentar:
 
„Ich bin entsetzt, dass das Elend der Tierversuche nun auch noch auf Kinder übertragen wird. Dass es massenhaft Versuche mit (erwachsenen) Patienten gibt, ist ja bekannt. Man nennt diese Experimente der Pharmaindustrie ‚klinische Prüfungen’, und sie werden meist in Spitälern durchgeführt. Hier kann der Patient immerhin noch Einspruch erheben, da die Ärzte ohne ‚informed consent’ der Versuchsperson kein neues Medikament verabreichen dürfen. Wie aber sollen sich Kinder gegen solche Studien wehren? Erfahrungsgemäss werden die Ärzte gegebenenfalls die Eltern so lange mit Argumenten (‚Es geschieht nur zum Wohle Ihres Kindes’ oder ‚zum Wohle von kranken Kindern’ bearbeiten, bis diese sich mit der Verabreichung der Pille, Spritze usw. bei ihrem Kind einverstanden erklären.
 
Allerdings beweist dieses Vorhaben eines: Tierversuche liefern keine Aussagen über die Dosierung von Medikamenten oder über deren Pharmakinetik im menschlichen Organismus – seien dies nun Kinder oder Erwachsene. Aber auch Experimente an Kindern sind noch lange nicht aussagekräftig, denn auch hier gilt: Kind ist nicht gleich Kind, es gibt grosse individuelle Unterschiede. Allerdings ist es schwierig, neue Medikamente so zu prüfen, dass zuverlässige Resultate dabei herauskommen. Nach meiner Meinung wäre die Computersimulation des menschlichen/kindlichen Organismus für Medikamententests die beste Lösung.“
 
Warum also nicht? Bei allen Berichten und Kommentaren in der Presse war kein Wort von dieser Testmethode zu hören. Das gibt zu denken. Ich bin überzeugt, dass schon heute neue Medikamente nicht mehr an Tieren oder Menschen getestet werden müssten.
 
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