Textatelier
BLOG vom: 06.04.2010

Aus alten Zeitschriften (1): Gammler, Pfennigabsätze u.a.m.

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
Beim Stöbern in meinem Archiv stiess ich auf mehrere Ausgaben der „Reform-Rundschau“ (RR) und „Kneipp-Blätter“ von 1965 bis 1972. Es war für mich ganz interessant, die Artikel näher in Augenschein zu nehmen. In jenen Jahren wurde über Gammler, Halbstarke, naturgemässe Ernährung, natürliche Geburt, Essen und Trinken in Japan, Kampf dem Krebs usw. berichtet. Namhafte Ärzte und Gesundheitspioniere mit naturheilkundlicher Ausrichtung schrieben für die „Reform-Rundschau“ wie zum Beispiel Prof. Dr. med. W. Kollath, Dr. med. M. O. Bruker, Dr. med. Helmut Anemueller, Dr. med. Herbert Warning, Dr. med. Josef Issels, Prof. Dr. H. A. Schweigart, Prof. Dr. Helmut Mommsen, Prof. Dr. Alexander Mitscherlich, Dr. Johann Georg Schnitzer.
 
Es war für mich damals als junger Autor (22 Jahre) eine besondere Ehre, ebenfalls für die RR zu schreiben. Wahrscheinlich spielten damals die guten Beziehungen zu Dr. Felix Grandel von der Keimdiät in Augsburg D eine wichtige Rolle. Ich war damals sehr an seine Arbeiten und an den von ihm hergestellten natürlichen Produkte interessiert. Das grosse Wissen Grandels, das ich im persönlichen Gespräch und auf Vorträgen erfahren konnte, kam mir immens zugute.
 
Die ersten Arbeiten befassten sich mit den Vitaminen. 1964 wurde meine allererste Arbeit in der RR mit dem Titel „Vitamin A, das Wachstumsvitamin“ publiziert. Die Schriftleitung hatte damals Werner Altpeter inne. 1965 wies die niveauvolle Zeitung eine Auflage um die 300 000 auf.
 
2008 feierte die RR übrigens das 75. Erscheinungsjahr. Die erste Nummer der RR wurde am 01.12.1925 publiziert (1941‒1948 erschienen keine Ausgaben). Bis zum Jubiläum wurden 900 Ausgaben der RR herausgebracht. Sie war damit die älteste Monats- und Kundenzeitschrift für das Reformhaus.
 
Die Ausgabe der RR vom Februar 1965, die mir als älteste dieser Zeitschrift vorliegt, hatte ein sehr schönes SW-Titelbild (wohl das schönste Titelbild der frühen Ausgaben). Die ehemalige Eiskunstläuferin und dreimalige deutsche Meisterin Ina Bauer-Szenes (geb. 1941) ist in einem Sprung beim Training zu sehen. Es fiel mir auf, dass in den meisten Ausgaben der folgenden Jahre entweder schöne Frauen, Kinder, Babys und Paare abgebildet waren.
 
Bruker: Ärzte müssen mutig sein!
Blicken wir einmal in die erwähnte Ausgabe hinein. Schon damals bezeichnete Dr. med. Rudolf Affemann aus Stuttgart die Depressivität als moderne Krankheit.
 
Dr. med. M. O. Bruker schrieb den Aufsatz „Revolution der Krankenernährung“. Er bemängelte, dass die Ernährungsbehandlung vielfach auf dem Stande von 1870 stehen geblieben ist. Einen Grund dafür erkannte er im Zeitmangel des Arztes. Eine Unterhaltung mit dem Patienten über eine gesunde Ernährung „ist immer zeitraubender als ein Rezept zu schreiben“, so Bruker. Er betonte weiter, der Patient würde umständliche Ernährungsrichtlinien als unbequem empfinden. Aber der Arzt müsse den Mut aufbringen, unbequeme Ratschläge zu erteilen. Er empfahl Vollkornprodukte anstelle der Feinmehlerzeugnisse und einen erhöhten Frischkostanteil in der täglichen Nahrung. Dann wies er auf die Verträglichkeit von Vollkornbrot bei chronischer Gastritis und Magengeschwüren hin. Das Vollkornbrot wird gut vertragen, wenn der Industriezucker aus der Nahrung entfernt wird. „Mit einer Heilkost sind Rezidive verhütbar und Dauerheilungen zu erzielen“, resümierte der bekannte Naturheiler.
 
Kollath: Vitaminisierung keine Lösung
Werner Kollath verfasste die Arbeit „Die Entthronung des Vollgetreides“. Er erwähnte die Kleie, die als „Aufzuchtfutter für das Nutzvieh“ verwendet wurde, „und niemandem fiel auf, dass das, was dem Vieh offenbar sehr gut bekam, dem Menschen nunmehr fehlen musste“. Er sprach von der Entthronung also der Entwertung von einer gesunden Nahrung zu einem reinen Wirtschaftsobjekt. Er erwähnte des Weiteren, dass Versuchstiere, die Weissmehlprodukte aufnahmen, dem Tode geweiht waren, während Vollkornprodukte Gesundheit und ein normales Wachstum bewirkten.
 
Kollath ging dann auch auf eine Kontroverse mit Prof. Glatzel ein. Dieser behauptete zwar, Weissmehl weise einen Vitaminmangel auf, aber man könne diesen ja durch Anreicherung des Mehls mit Vitaminen beheben. In den USA begann man mit der Vitaminisierung des Brots ab 1941 (zunächst 30 %, dann später bis 100 %), aber der Gebissverfall ging weiter!
 
Die Fakten sind übrigens in Kollaths Buch „Getreide und Mensch“ nachzulesen.
 
Metzger protestierten
Auf die beängstigende Tiermast wurde auf einer Versammlung der Münchner Metzger-Innung hingewiesen. Wie Obermeister Michael Höck betonte, wirke sich die Zugabe chemischer Stoffe bei der Fütterung negativ auf das Fleisch aus. Wörtlich sagte Höck: „Durch die chemischen Zusätze entstünden u. a. ,Mehlpappkälber mit kaminkehrerschwarzem Fleisch’, ohne dass bisher eine Beanstandung erfolgt sei. Die Schweine erhielten ständig Antibiotika, unter anderem Penicillin und Streptomycin.“ Unter dem Gelächter der Anwesenden erklärte der Obermeister, dass für solche Dinge nicht mehr die Lebensmittel-, sondern bereits die Arzneimittelaufsicht zuständig sei.
 
Ich bin überzeugt, heute dürfte ein Obermeister dies nicht mehr so deutlich sagen. Er müsste seinen Hut nehmen.
 
Das süsse Nichtstun der Gammler
Im Juni-Heft von 1966 ging Werner Altpeter in einer Arbeit auf die Gammler ein. „Man versteht darunter junge Leute im Alter von etwa 18 bis 25 Jahren, die sowohl gegen den Besuch eines Friseurladens als auch gegen den Gebrauch von Seife und gegen jede Art geregelter Arbeit eine betonte Abneigung haben. Dagegen lieben sie das süsse Nichtstun, die Geselligkeit mit Gleichgesinnten und leicht erlangbare Genüsse.“
 
Damals waren meine Schulfreunde und ich im selben Alter. Wir konnten uns keinesfalls im Nichtstun sonnen, zumal wir eine anständige Ausbildung anstrebten. In der Beatles-Zeit wollten wir jedoch längere Haare herumtragen, doch wurde uns von den Eltern der „Marsch geblasen“. Ich musste immer mit einer kurzgeschnittenen Haarpracht herumlaufen. Das stank mir gewaltig. Aber sonst brauchte es keinen Druck seitens meiner Eltern, um uns auf den „richtigen“ Weg zu bringen.
 
Altpeter schreibt weiter: „Es gibt auch Gammlerinnen. Sie tragen ebenfalls langes Haar und lange Hosen und hegen freie Ansichten über das Liebesleben. Sie haben meist einen festen Gammlerfreund, manchmal auch zwei. Vor ,aussenpolitischen Abenteuern’ schützt sie der eigene Körpergeruch.“
 
Der Autor geht dann auf die Entstehung des Gammlertums ein. Er schrieb: „Jede Zeit bringt das hervor, was ihrem innersten Wesen entspricht. Die Gammler sind gleichsam ein Geschwür am kranken Körper der modernen Gesellschaft. Sie sind Ausdruck einer inneren Unordnung und Unsauberkeit, eine Folge des herrschenden geistigen Chaos, der weitverbreiteten Wohlstands-Verblödung und Diesseitsbesessenheit (…) Die Gammler zeigen uns, wohin eine Gesellschaft kommt, die nur auf Bequemlichkeit und Genuss ausgerichtet ist. Wir sollten ihnen für diese Lektion dankbar sein!“
 
Dr. Heinz Graupner, München-Grünwald, schrieb über das „gefährliche Alter“. Er ging zur aktuellen Frage der Östrogenbehandlung in den Wechseljahren der Frau ein.
 
Dr. med. dent. Ernst Löffelmann, Tübingen, berichtete über die Heilwirkung von Schleimstoffen. Er wies auf die Wirkung des Leinsamens als Gleitmittel bei chronischer Stuhlverstopfung hin.
 
Unter „Bunte Nachrichten“ wird auf die damals schon bewegungsfaulen Bundesbürger hingewiesen. Nur 10 % trieben damals Sport. „Mit steigender Intelligenz der Befragten nimmt die sportliche Betätigung zu“, schrieb ein Autor.  Später waren die Zeiten der Faulheit zum Glück vorbei. Die Menschen bewegten sich auf den Trimm-Dich-Pfaden. Dann kam aus den USA die Aerobic- und Jogging-Welle; es gab Volksläufe, zahlreiche Fitness-Tempel, dann folgten weitere Anreize zur Bewegung wie Walking, Nordic-Walking, Marathon- und Halbmarathon-Läufe usw.
 
Ära der Pfennig-Absätze
Damals (1966) war plötzlich die Ära des Pfennig-Absatzes vorbei. „Für zahllose Feinde der spitzen Ferse bedeutet das den endlichen Sieg über eine lange Zeit unschlagbaren Gegner (…) Niemand begrüsst die neue Entwicklung mehr als die Orthopäden. Sie stellten übereinstimmend fest, dass 95 % aller Fussschäden auf die hohen Absätze zurückzuführen sind. Die Stöckel hinterlassen Millionen Knochendeformationen, Muskelschäden und Sehnenscheidenentzündungen.“
 
Leider wurde die Unsitte weitergeführt. Im Laufe der Zeit gab es immer wieder Schuhe mit hohen Absätzen. Auch heute ist das noch so. Schlechte Vorbilder sind die Models, die mit bis zu 14 cm hohen Absätzen über die Laufstege so recht und schlecht gehen. Die Fussschäden sind leider heute an der Tagesordnung.
 
Unter „Verschiedenes“ (1966) wurde auch die „Hörzu“ zitiert. Da ist plötzlich nach Zeiten der Unruhe das Familienleben wieder gefragt. Die Männer wünschen sich „ein schutzbedürftiges Heimchen, stilles Familienglück im Winkel (…) allen trübsinnigen Voraussagen zum Trotz scheint also bei der jungen Generation ein solides Familienleben an Wertschätzung zu gewinnen.“
 
Das Heimchen am Herd hat vielerorts heute ausgespielt. Die Frau entwickelte ein Selbstbewusstsein, ist heimische Managerin oder ist in der Arbeitswelt integriert.
 
Es wird auch gefragt, ob die Frauen „haushaltsmüde“ seien. Sie bevorzugen nämlich das „schnelle Kochen“, indem sie immer mehr Konserven und Nahrungsmittel aus der Gefriertruhe kaufen. Der Absatz an Fertiggerichten in Konservendosen hat im Jahre 1965 einen grossen Aufschwung genommen. Als Käuferinnen wurden berufstätige Ehefrauen und alleinstehende berufstätige Frauen ausgemacht.
 
500 Jahre Zahnbürste
Themen im September-Heft der RR von 1966 waren diese: „Der Natur angepasste Ernährungsdenken“, „Im memoriam Dr. med. Otto Buchinger“ (er starb im 89. Lebensjahr), „Erfahrungen einer Mutter beim Stillen“, „Das Fussball-Fieber“ (Rückblick auf die Fussball-WM in England 1966). Ich schrieb damals den Artikel „Die Pantothensäure (Anti-Graue-Haare-Faktor)“. Leo Capricornus verfasste die Arbeit „500 Jahre Zahnbürste“. Da staunte der Leser, als er erfuhr, dass schon um 1500 eine Zahnbürste mit Schweinsborsten von den Chinesen benutzt wurde. Die Zähne wurden jedoch schon früher gereinigt, aber nicht mit der Zahnbürste. So reinigten die Assyrer um 700  v. u. Z. ihre Zähne mit den Fingern, während die alten Griechen dazu ein Leinentuch verwendeten. In Asien wurden die Zähne durch Kauen bestimmter Hölzer gereinigt. Gegen Mundgeruch verwendete man in Asien das Essen von Blättern des Kaupfeffers.
 
Unter „Bunte Nachrichten“ wurde gemeldet, dass in der Schweiz nur 334 von 852 Gemeinden einer Fluoridierung von Trinkwasser zugestimmt hatten.
 
Es wurde auch dies publiziert: Die Amerikaner essen 16 Mal soviel Speiseeis wie die Deutschen. Nun heute dürften die Westeuropäer gewaltig aufgeholt haben.
 
Bei einer Konferenz der New Yorker Gesundheitsbehörde wurde 1966 bekannt, dass die Zahl der rauschgiftsüchtigen Säuglinge ständig zunahm. Alle diese Säuglinge wurden von süchtigen Müttern geboren und litten nach eingeleiteten Entziehungskuren an den gleichen Beschwerden wie Erwachsene.
 
Schon damals gab es in der Bundesrepublik Deutschland 1,2 Millionen Diabetiker. Bis heute hat sich die Zahl vervielfacht.
 
Wir sind ja so gesund
Bemerkenswertes schrieb in der September-Ausgabe der RR von 1966 der praktische Arzt Dr. Heinz Wagner aus Bad Mergentheim: „In meiner Kindheit kam etwa auf 2000 Einwohner ein Arzt. Sein Wartezimmer war halbvoll. Jetzt kommt auf etwa 1000 Einwohner ein Arzt. Sein Wartezimmer ist prallvoll. Dabei schreiten Hygiene, Vorbeugung, Chirurgie fort, und noch nie waren die Menschen so wahrhaft gesundheitsversessen wie heute. Keiner will sterben, jeder will endlos jung bleiben. Da stimmt doch etwas nicht! Das ist doch alles unlogisch! Neulich las ich, die Ärzte hätten es namentlich mit älteren Leuten zutun. Das stimmt nicht. Auf den Kurpromenaden sieht man sehr oft Kinder mit dem Glas. Das Gros der Kurgäste besteht aus Menschen mittlerer (bester) Jahre. Nur wenig alte Leute! Man sehe sich das prallvolle Wartezimmer eines Frauenarztes an, meist junge Mädchen und junge Frauen. Sehr wenige Familienmütter! Man frage Militärärzte: nur noch 1 % total gesunde Rekruten! Erschreckend häufig ist die Frühinvalidität ab 50, nicht minder das ,Krankmachen’.“
 
Unter „Verschiedenes“ wurden immer mehr Nebenwirkungen der Anti-Baby-Pille abgedruckt. So konnte eine 22-Jährige nach 3 Monate der Pilleneinnahme keinen Gegenstand mehr in der rechten Hand halten. 2 Monate später stellten sich nervöse Muskelzuckungen in Hand und Schulter ein.
 
Unter den Tübinger Studenten suchten innerhalb von 14 Monaten (1965) 6 Studenten den Freitod. Als Ursachen wurden diese Faktoren diskutiert: Die Überforderung psychischer und physischer Natur dürften nur zum Teil Schuld sein. Wie ein Arzt betonte, kommt die Tablettensucht als Hauptursache in Frage. Die jungen Menschen nahmen ständig Tranquilizer, Schlafmittel und Weckamine (Amine mit stimulierender aufweckender Wirkung, wie z. B. Amphetamin, Ephedrin, Koffein). Der Organismus wurde ständig aufgeputscht. Es kam letzten Endes zu schweren Nervenzusammenbrüchen, Depressionen mit Selbstmordgedanken oder Vergiftungserscheinungen mit wirrer Schrift und anderen Symptomen akuter Geisteskrankheit.
 
Fortsetzung folgt
 
Hinweis auf ein weiteres Blog von Heinz Scholz zu Lebensreformen
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