Textatelier
BLOG vom: 13.08.2010

Die umgestaltete Grimselwelt mit ihren Seen und Kavernen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Die Grimsel-Gebirgs- und Gletscherwelt ist auch eine Bergseen-Landschaft; man spricht auch hier von einem „Wasserschloss“, genau wie beim Zusammenfluss von Aare, Limmat und Rhein unterhalb von Brugg im Aargau.
 
Baukunstseen
Die zwischen den Bergen eingebetteten Gewässer sind zum Teil natürlichen und zum Teil künstlichen Ursprungs, wobei der Grimselsee auf 1908 Höhenmetern der grösste von allen ist. Dieser Stausee liegt in der Gemeinde Guttannen BE, die nur bevölkerungsmässig klein ist (rund 300 Einwohner). Auch der Oberaarsee (2303 m), der Räterichsbodensee (1767 m) und der Gelmersee (1849 m) sind Stauseen. Selbstverständlich hat man die riesigen Staumauern nicht etwa als Touristenattraktionen oder zum Besprayen ins Gebirge gestellt, sondern sie dienen der Elektrizitätserzeugung, in welche die Unterwelt der Grimsel einbezogen ist (www.grimselwelt.ch). Wer auf der gut ausgebauten Passstrasse über die Grimsel auf 2164 m, wo der Totesee (Totensee) ist, hinauf kurvt, kann sich keine Vorstellung vom unterirdischen Tunnel- und Maschinenraumsystem in dieser alpinen Landschaft machen. Im Inneren des Gebirgsmassivs gibt es Strassen, schräge Standseilbahnen, ausgeklügelte, sozusagen hybride Generatoren, die mit Pumpen liiert sind und je nach Stromangebot und -nachfrage Energie erzeugen oder verbrauchen, indem sie Wasser in weiter oben liegende Seen pumpen, das dann wieder genutzt werden kann.
 
Die Technik überlagert die Natur
Seit 1925 ist auf der Grimsel eine einzige und wohl auch in ihren Dimensionen einzigartige Symbiose und auch ein Spannungsfeld zwischen Natur und Technik (selbstredend auf Kosten der Natur) entstanden. Denn da sind nicht allein Felsen und Geröllhalden mit eckigen oder bereits etwas gerundeten Felstrümmern. Darauf, dass sogar auf der Passhöhe das Klima noch verhältnismässig mild ist, deuten unter anderem die Arven hin, die dort bis auf 2100 Meter gedeihen und Restbestände einer ehemals viel intensiveren Bewaldung sind. Das milde Walliser Klima und der Göschener Föhn wirken sich bis in jene Höhenlage aus, und sogar Grasfrösche profitieren davon, die in Mooren und Tümpeln eine Lebensgrundlage finden, aber im 20. Jahrhundert durch Baulärm gestört worden sind. Unbeeinträchtigte Feuchtgebiete sind es in erster Linie, in der wir noch Natur in der ursprünglichen Form erkennen. Für Sigmund Freud waren sie das „Es“, das vom rationalen Ich und vom emotionalen Über-Ich kontrolliert, ja gezähmt werden muss.
 
Und so wurde auf der Grimsel-Nordseite im grossen Stil gezähmt, für die Elektrizitätsgewinnung urbarisiert. Zuerst entstanden die Staumauern Seeuferegg, eine 42 m hohe Gewichtsmauer, und Spittellamm, die 114 m hohe Bogenstaumauer, damals die höchste der Welt, auf dass die Schmelz- und Regenwässer von Unter- und Oberaargletscher, Finsteraargletscher, Lauteraargletscher und Konsorten den Grimselsee füllen konnten. Gegen das quer in der Landschaft liegende, stufige, zwischen 1866 und 1873 entsumpfte Haslital hinunter wurden gleichzeitig die Gelmersee-Staumauer und die Kraftwerkzentrale Handeck I (Handegg, 1401 m) zwischen stabilen, teilweise blank polierten Aare-Granitfelsen und neben Wildbachrunsen errichtet. Das Gelmerseewasser fliesst über eine Stollenverbindung aus dem Grimselsee heran; aber auch was an Flüssigem aus dem Einzugsgebiet oberirdisch anfällt, wird in diesem See gesammelt.
 
Unter- und oberirdisch verastetes System
In den Jahren bis 1979 verastete sich in diesem künstlichen Umfeld im Aarmassiv ein ausgeklügelter Kraftwerk-Krake, der 9 Kraftwerke und 8 Speicherseen umfasst – eingedenk des Umstands, dass die Wasserkraft die tragende Säule der schweizerischen Elektrizitätsversorgung ist; über 1200 kleine und grosse Wasserkraftwerke sind der Schweiz in Betrieb. Sie steuern rund 60 % zu unserem Strombedarf bei, und das erschliessbare Potenzial ist zu etwa 95 % ausgeschöpft; weitere Eingriffe in die letzten frei fliessenden Gewässerstrecken sind undenkbar, aber Optimierungen sind noch möglich. Die unselige Strommarktliberalisierung im Rahmen der hirnrissigen Globalisierung hat leider zu empfindlichen, ja schmerzhaften Elektrizitätspreiserhöhungen geführt. Das System ist dereguliert, teilweise den Marktkräften entzogen, wofür ein sozusagen natürliches Monopol (Wasserkraft, Wasser, Luft) denkbar ungeeignet ist. Die Pleite hätte man voraussehen können, wäre man nicht vom grenzenlosen Vereinheitlichungstaumel vollkommen umnebelt gewesen. Einige Weitsichtige haben davor gewarnt und wurden belächelt. Ewiggestrige.
 
Zu den Energieproduktionsanlagen im Grimselgebiet gehören Transformations- und Schaltstationen, Zehntausende Kilometer Stromleitungen, Signalkabel, Computersysteme und Leittechnik, Trink- und Abwassersysteme, Lüftungseinrichtungen, Werkstätten, Lagergebäude, 120 km Wasser führende Stollen und Druckschächte, 23 km sichere Zugangsstollen und befahrbare Tunnels, 33 km Seilbahnen, Stollenbahnen, Windenaufzüge, Standseilbahnen, unterirdische Lifte und Einrichtungen für die Mannschaft – ein riesiger Cocktail, in dem jede Zutat ihre Funktion hat. Ein Nagra-Felslabor ist im Grimselgebirge ebenfalls verlocht, eine Erinnerung an die Existenz von Kernkraftwerken.
 
Noch mehr Kunstlandschaft?
Bereits bestehen bei den Kraftwerken Oberhasli AG (KWO) weitere Ausbaupläne: Die beiden Grimselsee-Staumauern sollen um je 23 m erhöht und der See, der wichtigste Speicher im System, um etwa 0,8 km2 vergrössert werden (Projekt „KWO plus“). Dabei würde das Speichervolumen von 95 auf 170 Millionen m3 erhöht. Das Nonplusultra wäre dieser Ausbau aber nach Auffassung der Naturschützer nicht, weil damit Hochmoore ersäuft würden. Die heutige Grimselstrasse käme auf einer Länge von 700 m unter Wasser, was mit einer Schrägseilbrücke zu lösen wäre. Mit einer einfachen Baubewilligung geht das alles nicht; die Projekterweiterung wurde zum Bestandteil einer Konzessionserneuerung erklärt und hängt somit noch in der Schwebe.
 
Die grundlegenden Fragen bleiben: Darf man die Flussdynamik und die Ökosysteme bei den Quellen des Lebens immer gravierender verändern, um den wachsenden Energiehunger zu befriedigen? Ist das Schutzbedürfnis einer bereits erheblich veränderten Landschaft geringer, weil die Harmonie ohnehin bereits Schaden genommen hat? Darf man umso unbeschwerter daraus ein Techno-Paradies mit spiegelglatten Oberflächen machen, in denen wir uns selbst erkennen?
 
Touristisch und technisch bemerkenswert
Die bestehenden opulenten Energieerzeugungsanlagen zwischen Felsen und dem „ewigen Schnee“, dessen Tage gezählt zu sein scheinen, sind schon heute von touristischem und technischem Interesse. Ich bin schon unzählige Male über den Grimselpass gefahren, bin an die Strassenwindungen und verkehrstechnischen Kunstbauten gewöhnt, habe einige Blicke zu den Staumauern und -seen geworfen und mich auch schon am Nordwestfuss des Sidelhorns über die Panoramastrasse bis zum Oberaarsee vorgearbeitet. Doch hatte ich noch nie Gelegenheit und Musse, in die Grimsel-Unterwelt einzutauchen. Deshalb stieg ich auf eine vom Servicemagazin „Strom“ und der „Infel“ ausgeschriebene Leserreise ein, um am 06.08.2010 in die Tunnels und Schächte zu den Turbinen und sogar zur berühmten Kristallkluft vorzudringen (115 CHF pro Person, inkl. Eurobus-Reise, Aareschlucht-Besuch und Mittagessen im heimeligen, 1932 eröffnetem Grimsel-Hospiz – es wurde zusammen mit den Stauanlagen erbaut: frischer Salat, etwas zerkochte Maggronen, hervorragend geeignet für zahnlose Älpler, und eine perfekte Meiringer-Meringue).
 
Nach dem Mittagessen konnte ich noch die Ausstellung „Stromzukunft – In Zukunft Strom“ im Sockel des Alpinhotels besuchen, wo man das Energiesparen lernen kann, falls man angesichts der gigantischen Verbrauchszahlen nicht resigniert ... (www.kwo.ch).
 
Ein erstes Grimsel-Hospiz wurde schon 1142 urkundlich erwähnt, was belegt, dass die Grimsel schon früh ein beliebter Übergang auf die Alpennordseite bzw. umgekehrt war; die alten Römer kann man auch hier problemlos wieder erwähnen. Und vermutlich im 8. Jahrhundert zogen alemannische Volksteile via das Berner Oberland über den Grimselpass ins obere Rhonetal. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurde es ihnen dort zu eng, und sie traten sozusagen den Rückweg an, allerdings auf neuen Routen wie über den San Bernardino, den nach ihnen benannten Valser- und Safienberg, um sich z. B. im Bündner Oberland niederzulassen; auch anderswo wie in Vorarlberg entstanden Tochtersiedlungen.
 
Zahlreiche Nachfolgebauten der ersten Grimsel-Hospize waren an dieser exponierten, ausgesprochen niederschlagsreichen Lage (über 70 % in Form von Schnee) vom Pech verfolgt; eines durch Brandstiftung des Herbergenwarts zerstört. Und das Hotel „Spittel“, das beim Aufstau des Grimselsees bestand, wurde überflutet; ein Neubau war Bestandteil der Bauauflagen. Das Kreuzritter-Brauchtum blieb immerhin im Trockenen: In Not geratene Durchreisende dürfen jederzeit auf ein Bett, Wasser, Essen und einen Krug Wein zählen.
 
Bei der Gerstenegg ins Berginnere
Wir wurden unter tief liegenden Wolken anschliessend zur Gerstenegg am Fusse der mit Unterwassernixen bemalten Gelmersee-Staumauer verfrachtet. Dort sind die Schleifwirkungen der eiszeitlichen Gletscher an polierten Felsen und Felsbuckeln wunderschön zu sehen. Mit 2 Mercedes-Bussen, mit Benzin betrieben, wurden wir durch einen gross dimensionierten, rund 2,5 km langen, aus dem Granit herausgesprengten Tunnel zum Kraftwerk Grimsel 2 befördert. Im Abgasnebel hustend, fragte ich unseren Gruppenführer Heinz Kohler, wie es zu solch einem Stilbruch kommen konnte; für diesen unterirdischen Shuttlebetrieb wären doch eindeutig Elektrobusse angezeigt. Tatsächlich gab es einen Elektrobus, „Voltino 1“; doch dieses Occasionsfahrzeug soll sehr pannenanfällig gewesen sein, und es wurde wieder ausrangiert. Gleichwohl brüsten sich die KWO auf ihrer Webseite noch heute mit ihrer Elektofahrzeug-Begeisterung: Die KWO engagiert sich seit 2005 auf dem Gebiet der Elektromobilität. Elektroautos sind besonders energieeffizient. Von allen Motoren hat der Elektromotor mit rund 90 % den besten Wirkungsgrad. Elektroautos verbrauchen 75 % weniger Primärenergie als Benzin- oder Dieselfahrzeuge und stossen beim Betrieb keinerlei Schadstoffe aus. Ein naheliegendes Engagement als Produzentin von Strom aus CO2 freier, erneuerbarer Wasserkraft.“
 
Ich wage zu garantieren, dass es Elektrofahrzeuge gibt, die im Stollen einwandfrei funktionieren; selbst der Elektromotor meines Toyota Prius würde das problemlos bewältigen; er ist an Fahrten durch Tunnels aller Art gewöhnt und hat noch nie irgendwelche Probleme gemacht.
 
Grimsel 2
Mehr, ja eine geradezu vollendete Kompetenz beweisen die KWO, die 370 Arbeitskräfte beschäftigt, mit ihrem unterirdischen KW Grimsel 2, das zwischen 1973 und 1980 entstanden ist. Es handelt sich um ein Umwälzwerk: Bei Bedarf produziert es Elektrizität, und im Falle von Überschüssen treten anstelle der Generatoren kräftige, Energie fressende Pumpen in Aktion, welche Grimselsee-Wasser zum Stausee Oberaar hinauf pumpen, das dann ein weiteres Mal genutzt werden kann, und falls es dann wieder den Pumpen vorgeworfen wird, noch mehrmals, ohne zum Perpetuum mobile zu werden; denn der Wirkungsgrad liegt deutlich unter 100 %.
 
Die Netzspannung muss konstant bei 50 Hertz gehalten werden, mögen die Verbrauchsmengen noch so sehr schwanken. Ist sie zu hoch oder zu tief, geht gar nichts mehr. Im Kraftwerk Grimsel 2 wird das Ausgleichswunder vollbracht. Hier nutzen, tief im Bergesinneren, 4 Maschinengruppen mit je einem Pumpenrad und einem Francis-Turbinenrad, die mit der gleichen Welle verbunden sind, das Gefälle zwischen Oberaarsee und Grimselsee, oder aber sie pumpen Wasser vom Grimselsee in den Oberaarsee. Im einen Fallen wird also Energie produziert, im anderen Energie aus dem Netz verbraucht. Die installierte Turbinenleistung beträgt 348 Megawatt (MW) bei einer Durchflussgeschwindigkeit von 93 m3/s und einer Fallhöhe von 400 m. Die Pumpen ihrerseits leisten maximal 363 MW und sorgen im besten Fall für einen Durchfluss von 80 m3/s.
 
Da alle Maschinenteile von Stahlblechverpackungen umgeben und geschützt sind, sind KW-Besichtigungen an sich eine langweilige, um nicht zusagen trostlose Angelegenheit. Gelegentlich spürt man die hier wirkenden Kräfte dank einer dicken, sich unendlich schnell drehenden Welle und am brummenden Geräusch, das die Maschinenhallen erfüllt. Viel Wissen muss man sich via Schautafeln einverleiben, die das Unsichtbare auf schematische Weise sichtbar machen.
 
Die Kristallkluft
Umso attraktiver erscheint die Kristallkluft, an der man auf der stinkenden Fahrt von der Gerstenegg zum KW 2 nach etwa 1,5 km vorbei kommt. Sie ist zuerst hinter einer Art Fensterladen verborgen, und unser Führer Kohler verstand es geschickt, die Spannung durch die Schilderung, was zu sehen sein würde, zu erhöhen: Die am 04.10.1974 entdeckten, bis zu 20 cm langen Bergkristalle sind in 16 Millionen Jahren herangewachsen, und es mehrt den Reiz dieser edlen Steine, die reinste Form des Siliziumoxids, dass sie genau dort bleiben durften, wo sie herangewachsen sind, mitten im glimmerreichen, etwas schiefrigen Grimselgranit. Insgesamt wurden 12 verschiedene Mineralarten gefunden, darunter auch Rosafluorid. Keine andere Kluft in den Alpen ist in dieser natürlichen Form zugänglich.
 
Die spektakuläre Kluft und der dahinter liegende, kristallbesetzte Hohlraum wurden 1974 im Rahmen des Kraftwerkbaus zufällig entdeckt. Wäre der Tunnel wenige Meter nebenan vorgetrieben worden, wüsste man nichts von den Bergkristallen. Doch wurden im Oberhasli mit seinem Grimselgranit anderweitig viele Kristalle und Mineralien gefunden; viele sind im Naturhistorischen Museum in Bern ausgestellt.
 
Als sich der Laden öffnete und die Kluft hinter Glas zu funkeln begann, ertönten ein mehrstimmiges OOO! und AAAhhh! – Ausdrücke ehrlicher, nicht gespielter Faszination.
 
Die Grimselwelt wird unter dem Motto „Natur und Technik“ propagiert. Selbst die Technik ist hier grossartig und nützlich, gerade jetzt bei der Niederschrift dieses Texts am elektrisch betriebenen Computer. Offenbar wohnen auch in meiner Brust 2 Seelen. Aber ein AAAhhh! der Verzückung kann nur von der Natur ausgelöst werden.
 
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