Textatelier
BLOG vom: 18.09.2010

Die geköpfte Helena auf dem Londoner Ramschmarkt

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Ich bin ein Mensch, der immer wieder etwas findet, das er nicht sucht. So auch am Samstag, 21.08.2010, auf dem Ramschmarkt. Da lag auf dem Kies ein Kopf, fast so gross wie ein Hühnerei. Ich las ihn auf. Er wog mehr als ein Hühnerei und war wie ein braunes Ei gefärbt. Ich drehte den Kopf um. Die Bruchstelle war schneeweiss, wie es dem Carrara-Marmor aus Italien ansteht. Ich steckte den Fund in die Hosentasche und eilte nach Hause, um den Kopf eingehend zu begutachten. Wer hatte diesen Kopf auf dem Ramschmarkt verloren? Es konnte kein Römer gewesen sein. Der Kopf glich jenem der Venus von Milo. Aber er konnte auch aus der griechischen Mythologie stammen. Kurzentschlossen taufte ich den nach der Antike gestalteten Marmorkopft „Helena – die geköpfte Helena“.
 
Der Kopf hatte dem Kies stand gehalten. Nur einen winzigen Splitter Marmor hatte die Holde an der Nasenspitze eingebüsst, stellte ich fest, als sie unter die Lupe nahm. John, der jeweils am Samstag hinter seinem Stand auf diesem Ramschmarkt steht, hatte mir vor Jahren einen alten, zerschlissenen Röteldruck geschenkt. Diesmal musste ich nach diesem Druck suchen, und es dauerte ein Weilchen, bis ich ihn endlich in einer Kartonschachtel fand. Das Blatt zeigte 4 Frauenköpfe aus der Antike, und auf dem unteren Blattrand war vermerkt: „London Published as the Act directs 1st November 1784 by C.M. Metz”. Leider fand ich im Google keinen Hinweis auf C. M. Metz und gab meine Recherche auf. Ich liess es bei der „Helena“ bewenden, zumal ihr gekräuselter Haarputz von einem Stirnband, ähnlich wie bei der Figur 2, umfasst war.
 
Ausgiebig bewunderte ich den fein ausgearbeiteten Frauenkopf mit geheimnisvollem Mona-Lisa-Lächeln. Sollte ich ihr eine Geschichte andichten? Das kann warten. Helenas Kopf war leicht schräg nach links geneigt. Erst von einem Zündholz unterstützt, kippte der Kopf nicht mehr um, sondern blieb aufrecht auf der Tischplatte. Lange überlegte ich hin und her, wie ich am besten diesen Kopf reinigen und von der Nikotinfärbung befreien könnte.
 
Etappe 1: Reinigung
Mit einer alten Zahnbürste gerüstet, bürstete ich den Marmor zuerst mit Seifenwasser. Helenas Teint hellte sich etwas auf. Aber noch immer war der Kopf leicht sonnengebräunt. Sollte ich sie mit Zahnpasta weiterbehandeln? Ich holte die Tube aus dem Badezimmer. Was die Zähne reinigt, kann auch dem Marmor nichts anhaben. „Original Coolmint“ hiess die Zahnpastamarke, mit dem Zusatz „Low abbrasion anti-cavity fluoride toothpaste – the Baking Soda Toothpaste – Gentle Deep Cleaning”. Hätte ich meine Zähne so wacker geputzt wie Helenas Kopf, wären sie blütenweiss geblieben! Helena gewann ihre Marmorweisse zurück und roch angenehm nach Minze. Ich spülte den Kopf mit Wasser und rieb ihm nachher sanft und vorsichtig mit den Fingerbeeren einen Hauch Vaselin übers Haar, Gesicht und Hals. Mit einem feinen Tuch nachbehandelt, gewann der Kopf seinen Glanz von einst zurück. Die gesamte Reinigung hatte knapp 2 Stunden beansprucht. (Bitte Vorsicht: Diese Rosskur eignet sich nicht für Alabaster-Skulpturen!)
 
Etappe 2: Renovation
Wiederum musste ich lang überlegen, wie ich ihren Nasensplitter ausbessern und die unebene Standfläche absichern konnte. Vor etwa 4 Jahren hatte mir ein liebenswürdiger Marmor-Restauretor in Florenz eine kleine Portion Marmorpaste in einer Plastikächeli geschenkt – nachdem ich ihm erklärt hatte, weshalb l kg davon für meinem Bedarf viel zu viel sei. Natürlich war inzwischen diese Pasta ausgetrocknet. Ich stocherte Teigs und fand einen elastisch gebliebenen Kern. Wie gut, dass der Mensch Fingernägel hat! Es gelang mir, den winzigen Nasenschaden mit einem Flöckchen Marmor zu beheben, vom Nagelrücken meines Zeigefingers verstrichen und poliert. Einige grössere Brocken der Paste drückte ich in die Lücken und glättete die Fläche ebenmässig, bis der Kopf nicht mehr wackelte.
 
Auch diese Prozedur dauerte 2 Stunden. So vertagte ich meine Arbeit auf den Sonntag; denn es galt, einen meiner Helena angemessenen Sockel zu finden.
 
Etappe 3: Krönung der Helena auf dem Sockel
Der Ausspruch „La nuit porte conseil“ (Die Nacht bringt Rat) ist verlässlich und stimmte auch diesmal. Mit einem Griff fand ich in einer Schublade das Kristallquadrat mit abgerundeten Ecken: der geeignete Thron für meine Helena. Mit „Super Glue“ tröpfelte ich davon etwas über die stabil gewordene Standfläche. Am frühen Morgen ist auf meine Finger Verlass. Dennoch hielt ich den Atem an, um die lieblich lächelnde Helena auf ihren verdienten Sockel zu heben. Der „Super Glue“ trocknet augenblicklich unverrückbar. Dennoch hielt ich die Helena während 5 Minuten fest auf ihren Sockel gedrückt. Als die Sonne den Gartentisch erreicht hatte, gab ich sie dort der Sonne preis, damit sich der Leim festigen konnte.
*
Solche Zufallsfunde freuen mich immer riesig. Die Helena ist gerettet. Und wenn sie mir ihre Geschichte zuflüstert, werde ich gewiss ein Geschichtlein über sie schreiben.
 
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