Textatelier
BLOG vom: 03.11.2010

Kruzifix-Streit: Folterszenen als Werbegag fürs Christentum

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Der Immunologe Beda M. Stadler von der Universität Bern, der die Naturheilkunde nicht versteht, hatte in der Sendung „Arena“ des Fernsehens DRS am Abend des 29.10.2010, als es um das Kruzifix-Gezänk ging, einen glänzenden Einfall: „Zum Glück starb Jesus nicht auf dem Elektrischen Stuhl, sonst würden jetzt auf Bergen und auch sonst überall Elektrische Stühle herumstehen.“
 
Ich teile Stadlers Ablehnung der ständigen Zurschaustellung von Folterinstrumenten. Die ans Kreuz genagelten, blutverschmierten Jesus-Figuren und -Figürchen, die uns in allen künstlerischen, meist aber kitschigen Variationen begegnen, sind nicht nur ein Hinweis auf eine von Gewalttätigkeiten umrankte Religion, sondern zuerst einmal eine Zumutung für jeden Menschen mit einem noch einigermassen normalen Empfinden, mit einer gewissen Sensibilität. Eine Verletzung friedlicher Gefühle. In meinem Elternhaus hing auch so ein abscheuliches Kruzifix, also ein Kreuz mit einer Darstellung des zu Tode gemarterten Jesus (von lateinisch cruci fixus = ans Kreuz geheftet), um für allfällige unangemeldete Kontrollbesuche durch den Ortspfarrer gewappnet zu sein. Der Anblick dieses in Einsiedeln beschafften Hinrichtungssymbols betrübte mich in meiner Kindheit immer wieder. Und ich kann nicht begreifen, dass man sich Nachbildungen solch scheusslicher Folterwerkzeuge um den Hals binden oder gar in Schulzimmern aufhängen kann.
 
Die jugendunfreie Bibel
Folterszenen gab es in der Geschichte des Christentums en masse. Sie wurden während der etwa 700 Jahre dauernden Inquisition zur religiösen Praxis, von Päpsten abgesegnet. Zehntausende von Ketzer wurden auf grausame Weise umgebracht, viele von ihnen auf lodernden Scheiterhaufen. Und das Ganze wird durch die Bibellektüre untermauert, laut welcher der liebe Gott den Krieg gegen alle Feinde seines Volks will, die ja auch seine Feinde sind. Wer nicht an ihn glaubt, soll massengemordet werden. Denn der Herr ist zornig und will vor allem einmal mit den Heiden aufräumen, sie verbannen und gar zum Abschlachten überantworten.
 
Alles andere als jugendfrei sind beispielsweise auch die genüsslichen Schilderungen des Sündenpfuhls Sodom in 1 Mose 19. Dort wohnte der „rechtschaffene“ Lot, Vater von 2 Töchtern, die er dem gewalttätigen Mob zur Massenvergewaltigung freigibt, damit den bei ihm zu Besuch weilenden, mit ungesäuertem Kuchen bewirteten 2 Engeln nichts geschieht: „Siehe, ich habe 2 Töchter, die wissen noch von keinem Manne; die will ich herausgeben unter euch und tut mit ihnen, was euch gefällt.“ Gewissermassen im Zeichen des Jugendschutzes gehen die Grausamkeiten weiter: Bevor es zu den Missbräuchen der Töchter kommt, schlagen die Engel Gottes die Menge mit Blindheit, so dass sie ihre Pläne nicht weiter verfolgen kann. Kurz darauf lässt Gott Pech und Schwefel über Sodom und die Nachbarstadt Gomorra regnen. Erbauungsliteratur.
 
Sicher ist es eine Zumutung, wenn man das Gemüt unschuldiger Kinder mit solchem Bocksmist schädigt. Die Bibel liefert Hunderte von Argumenten dafür, dass man die Kinder von ihrer Lektüre verschonen müsste. Schon die Story von Kain, der seinen Bruder Abel erschlug, ist an Einfalt nicht zu übertreffen: Zum Bruderzwist kam es, weil der HERR lieber das Fleisch als Opfergabe des Hirten Abel denn die Früchte des Ackerbauern Kain hatte – das pure Gegenteil von Vegetarismus.
 
Die Theologen haben die Gewalt in der Bibel, von der einleitend das Alte Testament dicht durchzogen ist, immer elegant umschifft und herausgepflückt, was ihnen in den Verkündigungskram passt. Vor Grausamkeit und Sexexzessen einigermassen gereinigte Bibeln wurden als „Kinderbibeln“ auf den Religionsmarkt gebracht.
 
Der Kruzifix-Streit
Abtempierungen des christlichen Grundgesetzes hin oder her: Religionskriege und Streitereien über Religionsäusserungen terrorisieren die Menschen seit über 2000 Jahren bis auf den heutigen Tag, was bei den Grundlagen aller monotheistischen (auf einen einzigen Gott fixierten) Bibel-Religionen, die ganz verschiedene Messiasse für sich in Anspruch nehmen, nicht verwundert. Im Moment ist in der Schweiz gerade ein heftiger Streit über Kruzifixe in Schulzimmern entbrannt, der vom Freidenker David Schlesinger (41) beflügelt wurde. Er war mit seiner Familie aus Deutschland nach Triengen LU zugezogen und konnte durchsetzen, dass die Kruzifixe im Schulzimmer seiner Kinder abgehängt und durch schlichte Steinkreuze ersetzt wurden. Psychologisch ist es sicher nicht unproblematisch, wenn sich ein Einwanderer bald einmal für eine Umkrempelung der schlechten Sitten im Gastland einsetzt, auch wenn er in der Sache zweifellos Recht hatte. Er konnte wohl nicht damit rechnen, mit welch harten Bandagen selbst Religionskleinkriege geführt werden, erhielt Morddrohungen und verliess auf Anraten der Polizei die Schweiz mit seiner Familie wieder.
 
An den mittelalterlichen Zuständen der Machtausübung durch Religionsführer und den ihnen ergebenen Politikern hat sich wenig geändert. Das hat auch der Walliser Lehrer Valentin Abgottspon aus Stalden, Präsident der Walliser Freidenker, erfahren müssen. Er hängte die Kruzifixe im Klassenraum seiner Schule ab, und dann brach das Kreuz mit dem Kruzifix über ihn herein: Er erhielt eine fristlose Kündigung und hat jetzt Zeit, in den Medien für sein Anliegen zu werben. Auch er erhielt Morddrohungen, wie das die Bibel im Prinzip durch Vorbilder lehrt. Gegen die Kündigung wird der Lehrer nun mit Unterstützung der Schweizer Freidenker und des Lehrerverbands gerichtlich vorgehen. Das Schweizer Bundesgericht kam in den 1990er-Jahren hinsichtlich der Kruzifixe in Schulräumen zur Erkenntnis, der Staat dürfe die Empfindsamkeit von Schulkindern oder deren Eltern nicht verletzen. Ausserdem könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich gewisse Menschen in ihrem religiösen Glauben beleidigt fühlen. Jener sympathische Lehrer bekam also Recht.
 
Die Schweizer Bundesverfassung regelt in Artikel 15: „Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen.“ Der Staatwissenschaftler Thomas Gächter von der Universität Zürich legte das gegenüber der „Tagesschau“ des Schweizer Fernsehsenders (sf.tv) so aus: „In dem Unterricht, dem ein Kind folgen muss – also in der Volksschule – sind Kruzifixe gemäss Bundesgerichtsurteil nicht erlaubt.“ Freiwillige Schulen, etwa katholische Privatschulen, dürfen dagegen Kruzifixe aufhängen. Abgottspon ist also gesetzeskonform, die gegen ihn verhängten Strafaktionen sind verwerflich, ein Verstoss gegen die Gesetze und die Zeitrechnung gleichermassen.
 
Auch der deutsche Freidenker Michael Schmidt-Salomon, Mitbegründer und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, teilt die Ablehnung herumhängender Kruzifixe (in einem Interview mit dem „Tages-Anzeiger“ vom 25.10.2010): „Eine Schule in einer offenen Gesellschaft sollte nicht mit religiösen Symbolen befrachtet werden. Das Kreuz in der Schule vermittelt den Eindruck, dass hier eine privilegierte Weltansicht existiert. Dabei ist das Christentum aus einer philosophisch-wissenschaftlichen Sicht nicht privilegiert, sondern überholt.“
 
Der Gipfel
Zu begrüssen ist, dass solche Themen nun in einer breiten Öffentlichkeit überhaupt diskutiert werden, was vielleicht und hoffentlich hier und dort die Augen auch für andere Machenschaften anmassender Religionen öffnet. In die neuen Diskussionen einbezogen ist auch eine Initiative zur Verhinderung neuer Gipfelkreuze im Gebirge. Diese Initiative ist sicher sinnvoll, zumal die „Verkreuzigung“ der Landschaft das noch einigermassen zumutbare Ausmass weit überschritten hat. Vielleicht stehen demnächst Fahrradständer für Mountaibikes auf den Bergen ... Oft belegen Wegkreuze (auch kleine Kapellen) jene Stellen, wo einst verehrte Bäume standen. An einer Seitenwand der St.-Theobald-Kapelle („Diepoldenchäppeli“) oberhalb des Fleckens Beromünster steht in grosser Schrift (mit Bezug auf Leopold III. von Habsburg): 
„Eine deutsche, edle Eiche,
Ruht’ einst auf diesem Stein.
Herzog Leopolds Leiche
Soll hier gerastet sein.“ 
Vom Christentum wurde keine Naturverehrung geduldet. Die Herrscher über die Gläubigen waren aber darauf erpicht, an den exponiertesten Stellen in der Natur ihre Machtsymbole zur Schau zu stellen, als ob unsere Landschaften und vorab die Anhöhen solch einen merkwürdigen „Schmuck“ nötig hätten.
 
Kirche und Staat konsequent trennen
Die Religionsfreiheit ist ebenso wie die Meinungsfreiheit garantiert, und das ist eine Selbstverständlichkeit, muss so sein. Dazu gehört auch die Freiheit, ohne Religionsanbindung leben zu dürfen, was ich persönlich in vollen Zügen schon immer getan habe. Anders aber verhält es sich mit der Religionsausübung, das heisst mit der Schaustellung religiöser Aktivitäten im öffentlichen Raum. Hier gelten staatliche und damit gesellschaftlich akzeptierte Regeln. Wenn eine säkulare Gesellschaft auf der Grundlage demokratischer Einflussnahmen keine Minarette in der Landschaft und keine Kruzifixe in Schulzimmern tolerieren will, dann gilt das und hat rein gar nichts mit der Unterdrückung mit der Religionsfreiheit zu tun.
 
Das bedingt aber auch eine strikte Trennung von Staat und Kirche, auch in Steuerfragen, mit anderen Worten: klare Kompetenzen. Die Vermauschelung von Religion (Religionen und Religionsgemeinschaften aller Art) und Politik führt zur Verhinderung befriedigender Lösungen, und das verfluchte Religionsgezänk findet hier immer neue Nahrung, weil die Zustände verwirrlich sind und saubere Lösungen fehlen.
 
Die Kreuz-Symbolik
Die Streitereien um die christliche Kreuzsymbolik sind natürlich nur ein Nebenkriegsschauplatz, der einfach auf das Unbehagen rund um die diffusen Einflüsse abgehalfteter Religionen aufmerksam macht. Das Kreuz, das in ganz unterschiedlichen Abwandlungen erscheint, ist an sich nichts Schlechtes. Das weisse Schweizerkreuz auf rotem Schild ist ein nationales Symbol, das wegen des Erfolgsmodells der noch immer ziemlich unabhängigen Schweiz immer häufiger als Werbemittel eingesetzt wird – beim Roten Kreuz sind die Farben vertauscht.
 
1889 legte die Bundesversammlung in einem Bundesbeschluss die heutige Form des Schweizerkreuzes fest: „Das Wappen der Eidgenossenschaft ist im roten Felde ein aufrechtes, frei stehendes weisses Kreuz, dessen unter sich gleiche Arme je einen Sechstel länger als breit sind.“ Das Grössenverhältnis des Kreuzes zum Quadrat ist nicht definiert.
 
Kreuze sind nicht gleich Kreuze. Sie entwickeln je nach Art und Zusammenhang eine starke Aussagekraft, was gerade das Hakenkreuz mit den abgewinkelten Armen als Hoheitszeichen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei besonders prägnant veranschaulicht. Es ist in vielen Staaten seit 1945 verboten. Anderseits stört sich am Schweizerkreuz, das auch für Freiheit und Frieden steht, kein Mensch.
 
Padre Benedetto
Nach der Vorstellung des Buchs „Arme Teufel sind wir alle ...“ über den Religionskritiker Robert Mächler (Herausgeberin: Gabriele Röwer) mischte sich am 23.10.2010 im Barocksaal des „Limmathofs“ im Bäderquartier von Baden AG Padre Benedetto unters Publikum (www.padrebenedetto.com). Der Satiriker im schwarzen Collarhemd mit Stehkragen (römischen Kragen) war angeblich gekommen, um den hier anwesenden wohl einflussreichsten Religionskritiker (Autor der auf 10 Bände angelegten „Kriminalgeschichte des Christentums" ) zu bekehren, zu missionieren, was angeblich im ersten Anlauf nicht gelungen sein soll ... („eine harte Nuss“).
 
Dem Gemeindepräsidenten von Stalden VS, Egon Furrer, der an der Entlassung Abgottspons beteiligt war, unterschob der Satiriker-Padre, dieser wolle in allen Staldener Schlafzimmern eine Rund-um-die-Uhr-Kameraüberwachung, um das neu erlassene Masturbationsverbot wirksam durchzusetzen. Zudem beabsichtige er, die Gemeindeversammlungen per sofort auf Latein abzuhalten ...
 
Der Padre, laut Selbstdarstellung im Internet „ein ökonomisch-katholischer Priester in Heiliger Mission“ (das Adjektiv „ökonomisch“ ist kein Druckfehler) trug ein gut 50 cm langes christliches Holzkreuz mit der verlängerten senkrechten Achse bei sich. Was er denn da Komisches mit sich herumschleppe, fragte ich ihn. Der Padre antwortete schlagfertig: „Das ist ein Schweizerkreuz, bei dem man vergessen hat einen Schenkel auf die richtige Länge abzusägen.“
 
Hinweis
Die Webadresse der Freidenker-Vereinigung der Schweiz: www.frei-denken.ch
 
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