Textatelier
BLOG vom: 06.03.2011

Holperpiste tiefgründig sanieren: Ersatz des Bünztalviadukts

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Bei der Fahrt auf der Autobahn A1 durch den Aargau bekommt man von Othmarsingen (Bezirk Lenzburg) nicht viel mit. Der 9,5 km lange Abschnitt Lenzburg-Birrfeld wird zurzeit vollständig erneuert. Eine Brücke (Objekt 403) überquert dort, gleich neben der auf einem Damm verlaufenden Bahnlinie, das Bünztal, in dem die begradigte Bünz im Einschnitt einer Endmoräne, die der Reussgletscher angeliefert hat, dem Dorf Möriken entgegen fliesst. Wer als Mitfahrer einen Blick von der Autobahnbrücke in diese Tallandschaft werfen kann, sieht eine friedliche Bilderbuchwelt, heil und aufgeräumt, vorbeiziehen.
 
Die Fahrt über dieses etwa 30 Meter hohe Bünztalviadukt bietet aber noch mehr: Man spürt etwa ein halbes Dutzend leichte Bombierungen, ohne dass man erkennen kann, dass sich diese jeweils genau über den Brückenpfeilern befinden. Das heisst, der vorgespannte Beton zwischen den Pfeilern hat sich etwas gesenkt, seine Spannkraft verloren. Dabei müsste er einen leichten Bogen nach oben haben. Darauf hat mich kürzlich ein Ingenieur aufmerksam gemacht.
 
Und so wird denn dieses Bünztalviadukt mit seiner Buckelpiste (die Buckel sind am falschen Ort, müssten zwischen den Pfeilern sein) abgebrochen und durch eine neue Zwillingsbrücke ersetzt; die Arbeiten werden etwa 3 Jahre in Anspruch nehmen. Da der Verkehr nicht unterbrochen werden kann, geschieht der Abbruch vorerst nur auf der einen Seite, also zur Hälfte, so dass 4 enge Fahrspuren verbleiben. Die neue Brücke wird dann heraufgezogen; der Verkehr wird über sie führen, und der Rest des morschen Viadukts kann das Zeitliche segnen. Man wird diesem Bauwerk nicht nachtrauern. Es ist eine Art banale, Beton gewordene Jochbrücke (dieser Ausdruck wird eigentlich nur bei Holzbrücken angewandt): Die Fahrbahn liegt auf aufgereihten Pfeilern, die wie ein T ausgestaltet sind.
 
Am 27.02.2011 habe ich den Baustellen-Besuch bei trübem Wetter mit einem Spaziergang durch das Dorf Othmarsingen und zur Bünz verbunden. Ich stellte das Auto beim Bahnhof Othmarsingen ab, wo ebenfalls die schnörkellose Funktionalität das Bild beherrscht. Er hat einige Bedeutung, zumal sich hier 2 SBB-Strecken kreuzen: die West-Ost-Hauptlinie Bern‒Zürich und die Linie Basel‒Brugg‒Arth Goldau. Hier schieben zudem die S-Bahn-Züge der Linie S3 (Aarau‒Zürich‒Wetzikon ZH) und die Regionalzüge nach Brugg‒Baden und Wohlen‒Muri AG einen Halt ein. Für eine Verbindung zum Bahnhof Lenzburg sorgt der Regionalbus Lenzburg.
 
Vom Dorf zum Viadukt
Das Dorf Othmarsingen hat 2 bis 3 Siedlungsschwerpunkte: Der eine ist westlich der Bünz, der andere östlich und der 3., den man zum östlichen zählen könnte, rund um den Bahnhof. Ich durchwanderte den Ostteil, wo sich auch die Lagerhäuser der Firma Disch befindet, die seit rund 100 Jahren Süsswaren und heute auch Arzneimittel herstellt. Gegen die Bünz hinunter gibt es viele Baugespanne, die von einer optimistischen Zukunftserwartung ausgehen. In Gehegen warteten Tiere wie Frischlufthühner und ein ziegenartiges Dallschaf mit dicken, nach unten gebogenen Hörnern und üppigem hellbraunen Pelzmantel auf wärmere Zeiten. Dann nähert man sich dem Eisenbahndamm, in den beim Wilhof ein lastwagentauglicher Tunnel hineinführt. Er ist jetzt in dieser Richtung mit einem einseitigen Fahrverbot belegt, da für die Dauer der Bauzeit der Einbahnverkehr eingerichtet wurde.
 
Am anderen, westlichen Tunnelausgang findet man sich sogleich unter dem alten Strassenviadukt. An der Dammböschung sind die Bäume und Sträucher Anfang 2011 auf einer Fläche von rund 2300 Quadratmetern entfernt worden. Am steilen, von provisorischen Wegen durchzogenen Hang klettern Raupenbagger abenteuerlich umher, und in der Talsohle haben die Unternehmen Implenia und Rothpletz und Lienhard (RL) bereits den Bauplatz mit allerhand (Mannschafts-)Containern und Maschinen bestückt. Strom-, Kommunikations- und Kanalisationsleitungen werden verlegt; die vorbeiführende Erdgasleitung bleibt offenbar unbehelligt.
 
Früher Brückentod
Der Neubau des 275 Meter langen Viadukts wird etwa 29 Mio. CHF kosten – die Gesamtsanierung der A1-Strecke Lenzburg bis Birrfeld ist auf rund 210 Mio. CHF veranschlagt. Die 8 Betonträger des Viadukts bei Othmarsingen genügen den Ansprüchen nicht mehr – die Lastwagen wurden immer grösser, länger, schwerer, legten von 24 auf 40 Tonnen zu, bringen es wohl bald einmal auf 60 Tonnen, als ob sie an einer gravierenden Adipositas (Fettsucht) litten. Die Strasse wurde stärker benützt als ursprünglich angenommen und degenerierte umso schneller zur Holperpiste. Der Betonbelag ist nach der 40-jährigen Betriebszeit (seit 1970) erheblich beschädigt; die einzelnen Elemente haben sich wegen durchgerosteter Verbunddübel verschoben. Ausbrüche in den Platten sind mit Asphalt geflickt worden. Beim Befahren sind Schläge spürbar. Einmal meinte ich, einer der Pneus habe die Luft verloren.
 
Die für eine Betonbrücke doch sehr kurze Lebensdauer von etwa 4 Jahrzehnten hat mich schon etwas erschüttert – sind Betonbrücken in den 1970er-Jahren als Wegwerfartikel gebaut worden? Ein Vergleich: Die 144 Brücken der 1903 eröffneten Albulabahn sind heute noch in Betrieb. Die gemauerten Gewölbe aus einheimischen Steinquadern scheinen für die Ewigkeit gebaut zu sein. Selbst die kühnen Holzbrücken nach dem brückenbauerischen Appenzeller Naturtalent Hans Ulrich Grubenmann haben eine höhere Dauerhaftigkeit, knicken nicht ein. Die alten Brückenbauer, die sich kaum je auf eine Ingenieurausbildung abstützen konnten und oft einfach talentierte Zimmerleute waren, wussten, dass ein nach oben gekrümmter Balken etwa das Siebenfache eines geraden Balkens tragen kann, und die Konstruktionen mit den erstaunlichen Spannweiten ringen noch heute Bewunderung ab.
 
Die moderneren Brücken aus Stahlbeton sind auf die winterlichen Salzorgien besonders anfällig. Zwar ist im alkalischen Vorspannbeton der Stahl normalerweise durch eine Passivierungsschicht geschützt. Bei der Einwirkung von Korrosionsaktivatoren wie Streusalz kann es jedoch zu örtlichen Zerstörungen der Passivschicht und im Anschluss daran zu einer lochfrassähnlichen Korrosion kommen. Ich hatte das Gefühl, auf der Aussenseite eines T-förmigen Einzelträgers der Überbrückung des Bünztals eine solche eine Lochfrassstelle ausgemacht zu haben.
 
Eigentlich hat mich gewundert, dass nicht einfach der Bahndamm verbreitert wurde; der Verzicht darauf wird seine guten Gründe haben. So wird denn demnächst eine neue Doppelbrücke neben ihn gestellt, deren Querschnitt aus 2 kastenförmigen Stahlträgern und einer Fahrbahnplatte aus Beton bestehen wird. Die Spannweite zwischen den Betonpfeilern beträgt 47,5 Meter. Die beiden Stahlträger (2,1 Meter hoch, 0,9 Meter breit) werden aus wetterfestem Stahl bestehen. Sie werden teilweise vorfabriziert und auf der Baustelle zusammengeschweisst. Die rund 60 Tonnen schweren Teile werden mit einem grossen Kran eingehoben. Die Fahrbahnplatte wird vor Ort betoniert und weist eine Dicke zwischen 25 und 50 Zentimeter auf.
 
Ob Verkehr und Korrosionen in den nächsten Jahrzehnten auch damit fertig werden, kann nur vermutet werden. Jeden falls haben Brückenbauer heutzutage mit mehr Tücken als auch schon zu kämpfen. Selbst Brückenheilige wie Nikolaus und Johannes Nepomuk scheinen gelegentlich zu kapitulieren.
 
Quellen
Verschiedene Informationen aus dem ASTRA (Bundesamt für Strassen) im Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation.
Blaser, Walter: „Schweizer Holzbrücken“, Birkhäuser Verlag, Stuttgart.
Böhni, H.: „Die Wasserstoffversprödung bei Spannstählen“ (Materials and Corrosion), WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim, Volume 26, Issue 3, 3-1975.
 
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