Textatelier
BLOG vom: 01.04.2011

Crans-Montana (2): Die hoch veredelten Walliser Küchen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Bei unzähligen Reisen und Exkursionen ins Wallis wurde ich mit Raclette (am Feuer bzw. an der Holzkohlenglut verflüssigter und mit einem Spatel abgestrichener Käse und verschiedenen Beilagen wie gedämpften, kleinen Kartoffeln von der Virgulesorte, Essiggurken mit Estragongeschmack usf.) gefüttert. Dazu kamen die berühmten Trockenfleischsorten mit dem konzentrierten Aroma. Am besten schmeckt das im Schatten von Tannen und Lärchen. Oder es gab ein Käsefondue zu herrlichem, schlankem Fendant- oder etwas üppigerem Johannisbergwein ohne störenden Eigengeschmack. Das waren immer angenehme Erlebnisse. Die Zubereitung der Käsespezialitäten ist einfach, so dass wir solche auch im privaten Familienkreis abseits des Kantons Wallis gern geniessen – dafür muss ich also nicht unbedingt weit reisen.
 
Raclette und Fondue, das es zwar auch in anderen milchbetonten Kantonen gibt, sind gastronomische Urweltrelikte, dem Wallis besonders gut angepasst: einfach, währschaft, schnörkellos. Die Urzeiten beziehungsweise das Mittelalter haben dort auch nach den Feststellungen des Walliser Schriftstellers Maurice Zermatten noch lange über das eigentliche Mittelalter hinaus gedauert. Noch immer essen alte Leute aus Steingeschirr, dessen Formen sich kaum von den neolithischen Funden unterscheiden. Glaube, Aberglaube, Brauchtum und andere archaische Elemente sind noch einigermassen erhalten.
 
Entsprechend auf das Wesentliche reduziert muss auch die Walliser Küche sein, die einst weitgehend auf der Selbstversorgung fusste und selbstgenügsam war. Der Anbau an den Talrändern hatte seine Tücken. Wo das Wasser zu schnell ablief, wurden im Dorfverband künstliche Bewässerungen über Suonen angelegt – hölzerne Wasserrinnen, Bisses genannt, den Felsen entlang und in Wiesen eingegrabene Kanäle.
 
Die Walliser Küche
Was ist das eigentlich, die Walliser Küche? Trockenfleisch und das kompakte, schwere Roggenbrot sind bekannt. Und eben der Käse, eine Folge der ausgedehnten Kuhkultur. Dazu passen die vielfältigsten Weine aus wenig bekannten Sorten, eine Auswahl, die ihresgleichen sucht und aus Rebensäften besteht, die teilweise in Gletschernähe entstanden sind. Die Reben müssen ihre Mineralien tief aus den steinigen Böden beziehen. Seit Ende März 1952 wirkt im Wallis das Office de propagande pour les fruits et les vins (OPAV), um zum Beispiel unter dem Motto „Schmollis mit dem Wallis“ die gebührende Wertschätzung für solche Landesprodukte einzufädeln.
 
Bei unserem Aufenthalt in Crans-Montana suchte ich wieder einmal nach dem gastronomischen Wallis. Ich fragte kurz nach der Ankunft am 24.03.2011 im Informationszentrum nach, wo man denn hier in typischer Walliser Manier festlich tafeln könne und wurde auf 2 gastliche Häuser hingewiesen, die zwar im traditionellen alpinen Stil gebaut sind, aber doch eine internationale Speisekarte vor die Haustür stellten. Nicht einmal ein Risotto mit dem Safran aus Mund auf der Sonnenseite oberhalb von Brig war zu entdecken.
 
Die herkömmliche Walliser Küche ist für einen ambitionierten Koch wahrscheinlich zu bieder, und offenbar suchen die Touristen (mit Ausnahme von uns) nicht danach. Wer stellt denn schon Bohnen- und Rübensuppen als Einstieg oder Äpfel, Birnen, Trauben und Nüsse zum Dessert auf? Die Gerste ist ebenso wie der Polentakuchen ausser Kurs gekommen – zu unrecht. Seitdem die Rhone begradigt und der Talboden landwirtschaftstauglich ist, wachsen dort alle möglichen Arten von Gemüse und Obst – Spargeln, Aprikosen, Erdbeeren, (Tafel-)Trauben usf. Die Vieh- und Rebwirtschaft sind längst nicht mehr das Alleinseligmachende.
 
Die Küche konnte sich zu internationalen Dimensionen aufschwingen. Und die Hoteldynastie der Seiler, die sich in Zermatt niederliess, und ein Oberwalliser Bauernsohn namens César Ritz waren es vor allem, die neue Standards der Hotellerie und der gehobenen Gastronomie schufen, weit entfernt von Raclette und Fondue – und bis in alle Welt hinaus.
 
Im Pas-de-l'Ours
Ich brauchte eine gewisse Zeit, um zu solchen Einsichten zu kommen, und dann waren alle Familienmitglieder bereit, sich solchen Tatbeständen anzupassen und sich auf Edelfrass-Höhenflüge einzustellen. So begaben wir uns in die Hostellerie du Pas-de-l’Ours der Familie Berstenheider, über deren Entdeckung durch Urs ich im vorangegangenen Blog berichtet habe – wir waren ebenfalls von der Architektur der Gebäudeansammlung entzückt. Das Gourmet-Restaurant im Pas-de-l’Ours vermittelt den Eindruck, als sei man in einer wuchtigen Gebirgslandschaft, wo Schmelzwasser über den Alpenkalk tropft und schwere Balken den bemalten Himmel tragen. Kein Kontrast dazu sind die 17 Gault-Millau-Punkte, die auf eine ausgeklügelte Küche unter der Leitung von Franck Reynaud, einem begnadeten Koch aus der Provence, schliessen lassen. Dahinter steht eine solide Kochweise aus jenen klassischen Zutaten, die oft in Vergessenheit geraten sind. Sie sind der Ausgangspunkt für komplexe, mutige und oft auch überraschende Kombinationen. Wir waren zu Viert, bestellten alle etwas anderes, um die Küche zu Höchstleistungen anzuspornen und uns ein eingehenderes Bild über das Angebot machen zu können.
 
Hier beschränke ich mich auf eine Auswahl, die dazu dienen soll, das Gesagte zu unterlegen. Allem voran ist als Entrée die Basilikum-grüne Muschelsuppe zu erwähnen, in der etwas Safran aus dem Bergdorf Mund im Jungfrau-Aletsch-Bietschhorn-Gebiet auftauchte: „Soupe des Moules au pesto, croutons au safran“. Sie imponierte selbst unserem Urs, der sonst kein Spezialist auf Krustentiere ist. Die Damen taten sich an einem mit Sorgfalt angereicherten und ausgarnierten Löwenzahnsalat auf Knochenmark gütlich; der Löwenzahn gehört in unserer Familie ohnehin zu den ersten Ernten, die auch ein Jäten ist, und frischen Delikatessen im Frühling. Eva sticht immer auch die Wurzel aus, die sich in ihren Salatzubereitungen zerhackt wiederfindet: ein entwässerndes Entschlackungsmittel und eine Wohltat für die Bauchspeicheldrüse, Leber, für Galle und Darm, wobei zudem den Appetit angeregt wird. Ich begann mit einem Tatar von schottischem Lachs mit Anisgeschmack und fein geschnittenen Fenchelscheiben („Tartare de saumon d'Ecosse marinéaux épices anisées, Brocolis croquants et carpaccio de fenouil“). Mir ging es darum, zu erfahren, was man aus Lachs auch noch machen könnte und erhielt die entsprechende Anregung.
 
Mein Hauptgang bestand aus dem „Joue de bœuf confite à l'Humagne rouge, moelle à la fleur de sel et mousseline de bintje et légumes d'hiver au beurre frais“, und er war so inhaltsreich wie der Name. Die gehackte Ochsenwange als Rechteck auf einem rahmigen Kartoffelpüree weckte Erinnerungen an ein verfeinertes Corned Beef, dessen Urform mein Vater und ich während meiner Kindheit aus den konischen Büchsen geschätzt haben. Die Humagnesauce war etwas vom Vorzüglichsten, was ich an einem Fleischsaft-Wein-Konzentrat bisher vorgesetzt erhielt – saft- und kraftvoll, abgerundet wie ein von einem Bergbach behauener Stein, aber nicht allein zum Anschauen gedacht. Wir tranken dazu einen vollmundigen Humagne Rouge (2009) von Chevalier in Salquenen (58 CHF).
 
Anita erfreute sich an hausgemachten Makkaroni, Eva an Lamm im Blätterteigmantel (Pastilla d’agneau) und Urs an einem Simmentaler „Hamburger de veau ,2G’“. Die Dessertkarte mit Kuchen, Früchten und Sorbets vermochte durch kunstvoll abgestimmte Kombinationen und Aufbereitungen das Niveau zu halten. Die Präsentation auf verschiedenartig geformten Tellern und Glasplatten konkurrierten mit den Blumenmotiven und muschelförmigen Verzierungen der Holzdiele: wie oben, so unten.
 
Speisen im LeCrans
In Crans-Montana gibt es 2 mit Gault-Millau-Punkten ausgezeichnete Gasthäuser: Das Pas-de-l’Ours und das Hotel LeCrans. Im LeCrans hatten wir unsere Unterkunft – es ist ein 5-Sterne-Luxushotel mit dem integrierten Restaurant „Le Mont Blanc“ etwas oberhalb (nordwestlich) von Crans – im Gebiet Plans Mayens. Es besteht seit 2 Jahren und erfüllt höchste Ansprüche zu vernünftigen, eher zurückhaltenden Preisen. Wie ich erst hinterher beim Studium des „Guide Schweiz 2011“ von Gault Millau feststellte, hatten wir zufällig die beiden besten Häuser von Crans-Montana erwischt, ohne darnach gesucht zu haben.
 
Das Hotel LeCrans, von Anita aus der Ferne treffsicher ausgewählt, befindet sich in einer Hanglage mit einer Prachtsaussicht auf die Walliser Alpen und den Mont Blanc. Das Bauwerk ist gross, abgerundet und aufgelockert und vereinigt in geschmackvoller Art die typischen Elemente der Walliser Architektur: Holzfassaden, verzierte Bretter oder Holzstangen als Balkonabschlüsse, Holzsäulen und Natursteinmauern als tragende Elemente, ausladende, mit Steinplatten bedeckte Dächer, mit Kupfer ausgekleidete Dachrinnen, Natursteinböden. Es handelt sich nicht einfach um eine Fassadenarchitektur, sondern der Stil zieht sich ins verwinkelte und abgestufte Hausinnere hinein. Selbst die Liftkabine ist mit Massivholz ausgekleidet. Man fühlt sich behaglich, sozusagen in einer riesigen Alphütte, die mit allen Attributen hochmoderner Heimelektronik komfortabel ausgestattet ist. Licht, Fernsehen, Radio, Vorhänge bedient man von einem mobilen Steuergerät aus. Am Morgen hängt die bestellte Zeitung in einem Lederetui aussen an der Eingangstür, in meinem Fall der „Walliser Bote“. Eine 2 Tage alte Nummer von „The Times“ aus London lang zusammen mit trockenem Holz in einem Korb vor dem Cheminée zum Anfeuern bereit. Wenn man in der Badewanne mit der elektronischen Steuerung der Massagedüsen sitzt, kann man den Spiegel zum TV-Gerät werden lassen und zum Beispiel den Tanz der Webcams verfolgen, falls man von Japan und Libyen genug hat.
 
Das auffälligste Merkmal war für uns die ausgesprochen spendable Art des Hauses, des Personals, keine Spur von Kleinlichkeit – im Gegenteil: freigiebig und grosszügig von A bis Z. Süssgetränke aus dem Kühlschrank und der Gebrauch der Kaffeemaschine im Zimmer werden nicht berechnet. Das Frühstück stellt man aus einer 2 Seiten umfassenden Karte zusammen und erhält es serviert. Wenn man sich nur für etwas Lachs, Omelettes, gekochten Schinken und dergleichen entschieden hat, wird das durch die aufmerksamen Kellner mit einer Käse- und einer Trockenfleischplatte ergänzt. Der Brötchenkorb überquillt und wird ständig nachgefüllt. Fruchtsäfte sind frisch gepresst.
 
Auch das Abendessen setzte Massstäbe vom Doraden-Tatar (Goldbrasse), bei dessen Zubereitung mir eine Kostprobe zur Beurteilung der Schärfe gebracht wurde, mit Zitronenmousse über die Langusten-Crèmesuppe, zum Lammcarrée auf Bergheu. Oder Mini-Ravioli mit Morcheln. Diesmal hatten wir uns für einen Heidawein aus den Visperterminen (78 CHF) entschieden, von einem Hügel, 1200 m ü. M. in geschützter Südlage. Vor dem Dessert wurde ein „Dessert vor dem Dessert“ aufgetragen, ein Zitronensorbet, und da wir uns mit dem Auswählen des Nachspeise-Hauptgangs abmühten, sammelte der Kellner die Karten ein und sagte, er bringe uns gleich 4 verschiedene Teller, und darunter waren 3 aufwendige, fulminante Neukreationen, Kunstwerke, eines mit einer scherenschnittartig durchbrochenen Roulade aus weisser Schokolade umfasst. Darin war eine Blätterteigrolle, aus der Früchte und Fruchtsaucen herausquollen. Sorbets waren wie auf der Farbpalette eines Malers angeordnet. Süsse Träume. Und wenn im neuen Gault Millau von einer „weit zurückhaltender Preispolitik als in vergleichbaren Häusern“ geschrieben ist, trifft das sicher zu.
 
Zweifellos hätte auch die Küche vom „LeCrans“ 17 Punkte verdient; doch weiss ich noch von meiner ehemals beratenden, den Aargau betreffenden Tätigkeit in der Anfangsphase der Schweizer Ausgabe aus der Zeit nach 1982 her, dass die Gault-Millau-Tester sinnvollerweise auch auf eine längere Kontinuität achten. Weil das Hotel & Spa (Spa = Hinweis auf den Wellnessbereich, urspünglich eigentlich ein Heilbad) erst 2 Jahr alt ist und von GM erst letztes Jahr entdeckt werden konnte, war die Zeit für die Beobachtung des gleichmässigen Fortgangs logischerweise noch zu kurz.
 
Bilanz
Die Kochelite gibt sich nicht mit dem Aufwärmen von Traditionsgerichten zufrieden; dafür eignen sich unsere heimischen Küchen wohl besser, und wegen einer Fleisch-Käse-Platte oder einem Porridge muss man auch nicht in ein ausgezeichnetes Restaurant. Der Koch, der etwas auf sich hält, verarbeitet beste Zutaten, schafft mit Aufwand und Geschick Neues, und dann wird das Essen zum Ereignis. Und es muss erlaubt sein, sich auch über solche Kulturausprägungen zu freuen, sie, auf welcher Haubenstufe auch immer, unterstützend zu fördern. In diesem Sinne hat mich Crans-Montana überrascht, und wir erhielten das Gefühl, dass nach der Phase des ungestümen Bauens nun vor allem auf ein Wachstum der inneren Qualitäten geachtet wird. Man darf zuversichtlich sein.
 
Höhenflüge sind immer willkommen. Über einen solchen mit der Gondelbahn soll im 3. Crans-Montana-Blog berichtet werden.
 
Quellen
Allemann, Fritz René: „25mal die Schweiz“, R. Piper & Co, Verlag, München und Zürich 1977.
Heller, Urs: „Gault Millau. Guide Schweiz 2011“, Verlag Ringier AG, Zürich 2011.
 
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