Textatelier
BLOG vom: 02.10.2011

Der Durchfall, wie wir ihn kennen und sonst noch nennen

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
Ich fühle mich erleichtert, weil ich endlich weiss, warum so viele Fruchtfliegen in der Küche herumtanzten. Das war gar nicht so schnell auszumachen. Ich staune immer, wenn sie auftauchen und ich noch nicht die geringste Ahnung habe, welche Süsse sie angezogen hat.
 
Ich fühle mich auch erleichtert, dass sich die Magen-/Darmgrippe nach und nach zurückzieht, auch wenn ich nicht weiss, welche Wesen dafür verantwortlich sind. Ich konnte keine Darmfliegen wahrnehmen, die mich gewarnt hätten.
 
Es war ein Überfall und der Schrecken gross. Die Sturzbäche der grüngelben leimigen Masse nicht aufzuhalten. Diese Sauerei. Wie gut ich mich auch immer eingepackt hatte, um die Sturzbäche aufzufangen, sie fanden ihren Weg gleichwohl an den Rändern der Textilien vorbei, weil sie flüssig waren und unter Hochdruck standen.
 
Diese mehrtägige Tortur ist gewiss ein Eingriff meiner Selbstheiligungskräfte und einer Hochdruckreinigung in den Rohren unserer Abwässer vergleichbar. Erschüttert war ich gleichwohl, denn eine Magen-Darm-Grippe nimmt schnell alle Energie! „Viel trinken, gell. Und dann Reis-Schleim, Hühnerboullion, und später geraffelte Äpfel mit zerdrückter Banane! – Jetzt lachst Du sicher!!!" schrieb mir Felicitas, denn das war immer die aufbauende Nahrung nach Durchfall oder Erbrechen, als die Kinder/Töchter noch bei uns zu Hause lebten. Ähnlich tönte es von der jüngeren Tochter. Ich freute mich über diese unerwarteten Rückmeldungen und die Gewissheit, dass alle Erfahrungen zum Lebensreichtum gehören. Das waren auch Lichtblicke, die meinen diffusen Zustand etwas erhellten.
 
In den Träumen tauchten alte Geschichten auf, Fragen, Worte, klebrige Antworten. Aber nur als Fetzen und Teile eines Ganzen. Es war, wie wenn sie bei der Reinigung aus ihrem Zusammenhang gerissen worden wären und nun versuchten, noch einige Worte davon in die Welt hinaus zu schreien. Wird das auch so sein, wenn uns der Tod aus dem Leben holt?
 
Döste ich leicht und erwachte von Zeit zu Zeit, standen oft Dialektworte rund um diesen Schissdräck (Kot) vor mir. Ich fühlte, dass ich mich in einem sehr menschlichen Zustand befinde und dass alle Mitmenschen diesen gut kennen müssen. Denn alte, und vor allem vulgäre Worte, um die es sich hier handelt, reden von zutiefst menschlichen Erfahrungen, denen wir von Zeit zu Zeit ausgeliefert sind. Als dann die Kräfte etwas zurückkamen, holte ich das vom Verlag Neue Zürcher Zeitung herausgegebene „Zürichdeutsches Wörterbuch“ hervor und suchte nach dem Begriff Schiiss (Exkrement, Kot) und fand allerlei mir gut bekannte Begriffe, die mich an den schleimigen Kot erinnerten. Schiisser = Feigling, Schiissfras = schlechtes Essen, Schiisswar, schlechte Ware, Schiiszüg = schlechte Sache usw. Und immer wurde ich an die grüngelbliche klebrige Masse erinnert, besonders auch im Wort schiissfrüntli = übertrieben freundlich. Von ganz unfolgsamen, nicht lenkbaren Kindern sagte man zu meiner Zeit „Die Chind folged en Schiissdräck“. Und diese Redewendung befindet sich auch im Wörterbuch.
 
Der Klang der erwähnten Worte führen mich denn auch an meinen Herkunftsort, ins Zürcher Oberland. In die Familie, zu den Verwandten, die kaum Schriftdeutsch sprechen konnten. Ich höre sie gern, auch wenn sie nicht salonfähig sind. Sie führen mich an meine Wurzeln zurück.
 
Zu den Erfahrungen in der Familie gehört aber auch das Gegenstück. Die Ordnung und Sauberkeit, damit ein Patient gesunden kann. Die Hilfe, dass die Lebenskräfte zurückkehren können. Langsam, behutsam. Und diese fängt bei einem sauberen Bett an. Daran erinnere ich mich besonders gern. Waren wir krank, wurden wir am Morgen in die Stube geschickt. Mutter erfrischte das Bett, schüttelte Leintücher und Decken unter dem Fenster aus, richtete alles neu. Sie lüftete den Raum. Und dann durften wir zurückkehren. Das war ein Hochgenuss für mich. Auch heute noch. Steige ich ins frisch bezogene Bett und ziehe den frischen Duft der sauberen Leintücher in mich ein, immer ist meine schon viele Jahre verstorbene Mutter auch dabei.
 
 
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