Textatelier
BLOG vom: 02.03.2012

Jenseits von Gut und Besser: Hinschied von G. van den Bergh

 
 
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
„Altwerden ist für diejenigen keine Bürde, die sich freuen,
auf einiges verzichten zu können und andererseits
stets noch etwas Neues hinzulernen zu dürfen.“
C. G. Salis
 *
Dieses Zitat steht oben auf der Todesanzeige in der „Aargauer Zeitung“, die dem Publizisten Dr. Gerhard van den Bergh gilt. Er ist am 20.02.2012 in Menziken AG (Oberwynental) im 92. Lebensjahr verstorben. C. G. Salis war das Pseudonym des Verstorbenen. Es entstand aus dem lateinischen „Cum Grano Salis“: mit einem Körnchen Salz, eine Redensart, welche auch die Bedeutung hat, etwas sei nicht ganz wörtlich und damit wohl nicht ganz ernst zu nehmen. Unter diesem Namen schrieb er zahlreiche gut gewürzte, sogar gepfefferte Kurzkommentare zur Lage, oder aber er beschränkte sich auf anregende, aphoristische Gedankensplitter.
 
Der Autor, so menschlich zugänglich er auch war, hielt sich immer gern im Hintergrund und publizierte mit Vorliebe in Lokalzeitungen, für die er Zusammenfassungen über das nationale und internationale Geschehen schrieb. Den verfügbaren, grossenteils von Nachrichtenagenturen (SDA, SPK, UPI und so fort) angelieferten Stoff brachte er in einen neuen Zusammenhang, reicherte ihn durch eigene Gedanken an und schuf damit informative, erfrischend zu lesende Feuilletons. Als ausgesprochenes Sprachtalent schrieb er zudem immer wieder Glossen zur Sprache und zum Sprachzerfall, etwa unter dem Titel „Jenseits von Gut und Besser“. Und wenn dann ein Schreiber, dessen Worte das legendäre Licht der Welt erblicken, stolperte und es zu Un- und Umfällen kam, dann wurde das prägnant kommentiert:
 
„Wiederlicher“, schreibt ein junger Dichter, „erschienen mir die Freudenmädchen, die auf ihre Kundschaft warten.“ Dafür und dawider.
 
Ich habe diesen Dr. van den Bergh als brillanten Schreiber und unkonventionellen Denker sofort nach meinem Stellenantritt beim „Wynentaler-Blatt“ in Menziken AG am 02.03.1961, also vor 51 Jahren, kennen gelernt. Er schrieb die Leitartikel über das Weltgeschehen, und kleine Salzkörner zum Füllen standen in genügender Menge bereit. Ich machte gern ausgiebig Gebrauch von dieser Würze, die ich, wenn immer möglich, oben rechts auf die Seite stellte, sie dort gut sichtbar ausstellte. Van den Bergh war ein enger Vertrauter des Buchdruckerei-Besitzers und Verlegers Manfred Baumann, was sich für mich günstig auswirken sollte.
 
Mit meinen 24 Jahren und unbelastet von Ortskenntnissen war ich ein journalistisches Grünhorn in jeder Beziehung, schrieb frisch und unbekümmert drauflos, glaubte an die Kraft des Unbeschönigten, Ehrlichen, eckte an und fand gelegentlich auch begeisterte Zustimmung. Die Wogen schwappten hin und her. Erst später habe ich über Umwege erfahren, dass mir Gerhard van den Bergh die Stange gehalten hat (diese Redensart hätte er dem „Massenfriedhof verblichener Bilder“ zugewiesen). Ihm hat meine Art wie alles Unkonventionelle gefallen. Das war ein Glücksfall; sonst hätte ich vielleicht oder wahrscheinlich die Stelle verloren, und meine publizistische Karriere hätte einen anderen Verlauf genommen, wenn es überhaupt dazu gekommen wäre. So war Gerhard van den Bergh also ein Mensch, der mein Leben entscheidend beeinflusst hat. Das habe ich ihm nie vergessen.
 
Hauptamtlich war er bis im März 1986 Rektor der Kaufmännischen Berufsschule Reinach (AG), ein Amt, das er auf seine persönliche Weise ausübte. In seiner Abschiedsansprache sagte er: „Wer einer kleinen Schule vorsteht, dem stehen die Hosen auf Halbmast. Nicht zuletzt deshalb, wenn er in den Wellen pädagogischer Modeströmungen nicht gleich mitschwimmt (...). Einmal habe ich mich mit einem Grossen angelegt, der sich für den Programmierten Unterricht stark machte. Er war in den USA gewesen (wo das Verfahren zwar bereits am Abserbeln war) und hatte begeistert hingehört, dass dort ein Verhaltensforscher herausgefunden habe, dass weisse Mäuse und andere mit kleinen Hirnen Bestückte mit kleinen Schritten grossartig abzurichten seien und solches Vorgehen auch auf Schüler übertragen werden solle. Dem widersprach ich deshalb, weil ich – in diesem Zusammenhang – zwischen Mäusen und Menschen keinen sah und dafür plädierte, dass der Verstand, den sich der Homo sapiens zu erhalten gewusst hat, zu aktivieren wäre. Es ergab sich eine Zeitungspolemik, die just dann abgeklemmt wurde, als mein Widersacher erklärt hatte, meine Meinung entspreche halt dem Niveau aus dem ,letzten Tal’, was natürlich ein schlagendes Argument war.“
 
Er war überdies ein Förderer und Präsident der Stiftung Lebenshilfe Reinach, die aus der ehemaligen Sonderschule hervorging. Dieser Stiftung kam ein Pioniercharakter zu.
 
Gerhard van den Berg war ein politisch, kulturell und religiös nicht einzuordnender Freidenker in der schönsten Ausprägung des Worts. Er hatte holländische Wurzeln, beherrschte auch die entsprechende Sprache, aber sprach dann doch einen reinen Oberwynentaler Dialekt, wenn er als Angehöriger des Stumpenlands, als das man das Oberwynental inkl. das angrenzende Pfeffikon LU bezeichnet, nicht gerade genüsslich an einer Zigarre zog. Er arbeitete mit seinen Schülern zusammen eine Zeitlang an einer Analyse des Wynentaler Dialekts, wobei ich nicht weiss, ob das Werk je vollendet wurde.
 
Auf jeden Fall hatte er seinen eigenen Kolumbus-Verlag, einen „Verlagsbuchhandel mit Schulbüchern, sprachlichen, belletristischen und philosophischen Werken“, mit Büchern, die vor allem seiner eigenen Feder entsprungen waren, so etwa das 1946 von ihm übertragene Werk „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson, wobei er sich als Übersetzer Jonathan Vanbrugh nannte. Er übertrug auch Rosinen von Mark Twain aus dem Englischen und gab ein Handbuch des Englischen und die wichtigsten Eigentümlichkeiten des Amerikanischen („What’s What“) heraus. 1953 verfasste er unter dem Titel „Der Chabis im Chäsblatt“ ein Buch über „die Bedeutung der kleinen und mittleren Zeitung in der schweizerischen Presse“ – die meisten von diesen Kleinzeitungen sind ihm im Tod vorausgegangen, aber das „Wynentaler-Blatt“ gibt es erfreulicherweise noch.
 
Die Sprachen waren Gerhards Handwerkszeug, und mir schien es immer, er habe sie nie erlernen müssen, sondern sie seien ihm in die Wiege gelegt worden, wobei ich nie herausfinden konnte, wo diese eigentlich bei seiner Geburt am 16.08.1920 stand. Das ist auch nicht wichtig.
 
Für mich war es eine besondere Freude und Ehre, als Gerhard vorschlug, wir könnten doch zu Viert eine Irland-Reise unternehmen, also zusammen mit den Ehefrauen; seine Sophie, geborene Spiess, würde sich darüber auch freuen. Es war eine Symbiose für alle: Wir konnten uns um den Mietwagen kümmern, die weiten Strecken fahren – insgesamt brachten wir zwischen dem 23.05.und dem 03.06 1991 über 1500 Meilen hinter uns. Und wir wiederum profitierten von den Kulturkenntnissen und Gerhards Erklärungen der sprachlichen Feinheiten der irischen Sprache (Gaeilge), ein doppelter Genuss. Wir besuchten das vom Nordirlandkrieg gezeichnete Londonderry, eine Stadt, in die wir problemlos vordringen konnten; sie war mit Schranken gesichert, dem seinerzeit geteilten Berlin ähnlich, und wirkte wie ausgestorben. Die Soldaten freuten sich über die damals äusserst seltene Abwechslung des Auftauchens von harmlosen Touristen. Dann erlebten wir die Landschaft Donegal im nördlichen Teil der irischen Westküste mit dem Bloody Foreland –der Name verweist auf die blutroten Sonnenuntergänge. Wir reisten an der Ostküste nach Süden, sahen die phänomenalen Cliffs of Moher (Klippen der Ruine), schwarzbraune ins Meer abfallende Felsen aus Kalksteinschiefer und Sandstein. Unvergesslich ist für mich der Besuch der Stadt Limerick, wo Gerhard einen Limerick nach dem anderen rezitierte, wie dies in der Schweiz auch der Kabarettist César Keiser und der Liedermacher Mani Matter taten, diesmal aber in der Originalsprache: 
„There was a young lady from Riga,
Who smiled as she rode on a tiger.
They returned from the ride
With the lady inside
And the smile on the face of the tiger.
 
Gerhard kannte sich in der britischen und irischen Literatur exzellent aus; schon seine Dissertation hatte er ihr gewidmet: „Der Pessimismus bei Thomas Hardy, George Crabbe und Jonathan Swift“.
 
Eine wohltuende Volksnähe erlebten wir, weil wir im Bed-and-Breakfast-Stil („B&B“) bei eingeborenen Familien übernachteten und so neben dem Land auch den Leuten näher kamen. Dabei gab es keinerlei Verständigungsprobleme. Der Ausdruck Gerhards, schlank, mit buschigen Augenbrauen über fragenden, verträumten Augen, Schurr- und Kinnbart liess ihn als interessierten, verständnisvollen Zuhörer erkennen, eine dominante Gestalt, die über sich und die Welt schallend lachen konnte. Seine Lockerheit war ansteckend.
 
Er hatte das Zeug zum Weltbürger, blieb aber dem Kleinen, Regionalen, Individuellen verhaftet, was ihn mir besonders sympathisch machte. Seine liebenswürdige und verständnisvolle Frau und seine Söhne trauern um ihn. Sein Sohn gleichen Namens, Gerhard van den Bergh, der heute in Küsnacht ZH lebt, gab zum 85. Geburtstag seines Vaters eine Festschrift („Portraits“) im hauseigenen Kolumbus-Verlag heraus, aus der einige Angaben für dieses Blog entnommen sind.
 
Und wie Vater Gerhard seinen eigenen Tod beschrieben hätte, wäre das möglich, kann man sinngemäss einer Glosse zum heutigen Deutsch (1972) entnehmen: „Da segnet keiner das Zeitliche, sondern da hat einer die Socken abgegeben, es gibt ihn nicht mehr, er wurde aus dem Umlauf genommen, schaut die Radieschen von unten an. Und dabei hat er noch eben munter aus der Wäsche geguckt (...) und sein Terminkalender war so voll wie der einer Nutte, wenn die Flotte im Hafen liegt.“
 
Und nun braucht er, Gerhard van den Bergh sen., keinen Terminkalender mehr. Neben den Socken sind uns immerhin ein paar Geistesblitze geblieben. Meinen Dank möchte ich ihm auf Gälisch abstatten: Tapadh leat!
 
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