Textatelier
BLOG vom: 04.05.2012

Mosaiksteine aus dem Alltag: Wie verändert sich Indien?

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Indien hat eine Nord-Süd-Ausdehnung von zirka 3200 km. Was sagt das aus? Ich versuche einen Vergleich mit dem Finger auf der Landkarte: Von der Insel Sylt, hoch im Norden Deutschlands in der Nähe der dänischen Grenze, bis zum Süden bei Oberstdorf sind es etwa 900 km, fahren wir dann etwa 220  km durch die Schweiz, sind wir in Italien. Dieses Land durchwandern wir mit dem Finger und kommen nach ca. 1200 km ganz im Süden des Landes am Mittelmeer an. Direkt südlich ist Libyen mit einer Nord-Süd-Ausdehnung von 1500‒2000 km. Wenn man die Kilometer zusammenrechnet, ist man nach 3200 km also mitten in Libyen in der Wüste. Nun sind wir von Sylt aus durch 3 Länder gewandert, haben das Mittelmeer überquert und sind in der Wüste.
 
Versuchen Sie jetzt einmal, Gemeinsamkeiten zwischen den Norddeutschen in Schleswig-Holstein, den Schweizern, den Italienern und den Libyern hinsichtlich der Kultur, der Menschen, der Gesellschaft usw. zu finden ... Überlegen Sie bei diesem Vergleich, was es bedeutet, im Norden Indiens an der Grenze zu Nepal zu leben oder ganz im Süden in Kerala oder in Tamil Nadu, 3200 km Luftlinie entfernt. Ganz Indien hat zirka 1,2 Milliarden Einwohner. Allein der Bundesstaat Karnataka hat ungefähr so viele Einwohner wie ganz Deutschland und ist nur geringfügig kleiner, was seine Fläche anbelangt. Seine Hauptstadt Bangalore hat ungefähr (genau weiss man das nicht) so viele Einwohner wie die ganze Schweiz. Sie haben es also mit vielen verschiedenen Bundesländern, noch viel mehr völlig unterschiedlichen Sprachen und Schriften sowie verschiedenen Volksstämmen und Gruppierungen zu tun. Schauen Sie einmal bei Wikipedia oder vielen anderen Darstellungen über Indien nach! Wenn Sie dann noch meinen, Sie könnten von Indien und den Indern sprechen, wenn Sie z. B. Verhaltensweisen, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen ansprechen, kann ich nur sagen, dass Generalisierungen völlig unmöglich sind, was im Norden so ist, ist in der Mitte oder im Süden vermutlich ganz anders.
 
Gestern sagte mir noch eine indische Frau, in Mumbay (Bombay) gebe es in den meisten Stadtteilen auch nachts kaum eine Minute, in der man von Ruhe oder Stille sprechen könne, vielleicht am ehesten noch zwischen 2 und 4 Uhr nachts. Ansonsten sei es immer laut durch vielerlei Geräusche, vor allem wegen des Strassenverkehrs, aber auch durch religiös bedingten „Lärm“ wie das Trommeln der Hindus, durch den Muezzin, durch Kirchenglocken oder durch Böllerschüsse bei Hochzeiten oder wenn sich die Kricket-Fans freuen usw. Sie können in Indien aber auch absolute Stille geniessen: in den Bergen, in der Wüste im Norden oder etwa im Seengebiet (Backwaters) Keralas.
 
Alle Aussagen über Indien und die Inder sind also persönliche, von Medien vermittelte, durch „Hörensagen“ und statistische Aussagen erzeugte Meinungen und Darstellungen. Was für Teile von Bangalore richtig sein kann, muss noch lange nicht für das Umland stimmen.
 
Mein Bloggerkollege Heinz Scholz sandte mir dankenswerter Weise den Link zu einem Spiegel online-Bericht http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/0,1518,827919,00.html
zu und fragte mich, wie ich denn das hier vor Ort in Bangalore so sehe.
 
Ich bin jetzt 4 Monate hier gewesen. Ich habe, wie Sie aus meinen vorangegangenen Blogs lesen konnten, Eindrücke gesammelt. Das sind meine persönlichen Eindrücke. Andere Personen sehen das vielleicht ganz anders oder aus einer anderen Sichtweise heraus. Meine Antwort an Herrn Scholz lautete so:
 
Die Einwohnerzahl von Bangalore hat sich in den letzten 10 Jahren verdoppelt, auf jetzt 7‒8 Millionen. Hier in der Stadt ist ‒ jedenfalls nach aussen hin ‒ die Kastenfrage aufgehoben; die Menschen werden nicht mehr nach ihrer Zugehörigkeit zur Kaste beurteilt. Dennoch: Diejenigen, die vom Müll leben, d. h. ihn aussortieren, abholen, darin wühlen, Plastikflaschen etc. herausholen, Papier, vor allem Zeitungspapier, separieren, haben alle eine dunklere Hautfarbe als die meisten anderen hier in der Stadt. Das deutet darauf hin, dass sie unteren Kasten angehören, ebenso wie die Bauarbeiter, die mit ihrer Familie in kleinen Steinhäuschen mit 1‒2 Zimmern hausen: Licht ja, aber Toiletten oft ebenso wenig wie fliessendes Wasser. (Heute Morgen wuschen solche Leute vor dem unfertigen Neubau auf den Steinen ihre Wäsche).
 
Ein Ehepaar der Mittelschicht entscheidet sich (manchmal, oft?) ‒ wie bei uns auch ‒ ganz bewusst für oder gegen Kinder, wahrscheinlich auch oft gegen den Wunsch der Eltern. In der Stadt leben auch unverheiratete Paare in einer Wohnung zusammen, wenn auch die Grossmutter das nicht wissen darf; die Mutter akzeptiert das.
 
In der Stadt sieht man Frauen in traditioneller Kleidung (Saree etc.), aber auch in Jeans und Bluse, manchmal auch Hand in Hand mit ihrem Partner.
 
Es gibt mehr weibliche Autofahrer und weibliche Verkehrspolizisten als früher. Sex und dergleichen sind absolute Privatsache und Tabu, auch wenn es in der Times of India inzwischen eine Rubrik gibt, in der sehr offene Fragen darüber gestellt werden. Auf der Strasse habe ich den Eindruck, dass sich Männer und Frauen ausschliesslich auf neutraler Ebene begegnen; eine „Anmache“ oder so etwas findet nicht statt.
 
Die Mittelschicht hat mehr Geld. Gestern wurden in einer Bar, die gut gefüllt war, fleissig Getränke gemixt, und die Flasche Bier kostete umgerechnet 2,50 Euro.
 
Berufstätige wie Rikschafahrer, kleine Angestellte, Verkäufer, Sicherheitsleute, die vor oder in den Läden usw. stehen, essen in der Imbissbude oder am Karren für 30 Rupien (50 Eurocent) ihren Reis und ein Omelett oder ihr gebackenes Fladenbrot mit Sosse im Stehen oder manchmal in den Imbissstuben, die wie Kantinen aussehen, und trinken ihren Tee für 5‒10 Rupien.
 
Leute mit etwas mehr Geld gehen in die besseren Restaurants und zahlen für ähnliche Gerichte das 4- bis 5-Fache, sitzen klimatisiert und werden bedient. Das heisst, die Lebensmittel werden teurer und das Leben für die Leute mit wenig Einkommen schwieriger; aber es ist möglich, sich mit wenig zu ernähren.
 
Das Interesse, mit der technischen Entwicklung mitzuhalten, ist in allen Gesellschaftsschichten vorhanden. So habe ich heute Morgen vor einem der oben erwähnten Steinhäuschen der Bauarbeiter und ihrer Familien einen Mann beobachtet, der sich einerseits gerade die Zähne putzte, andererseits aber ein Handy am Ohr hatte und telefonierte. In Indien haben laut Statistik und Zeitungsberichten mehr Menschen zu diesem Medium Zugang als z. B. zu privaten oder öffentlichen Toiletten! Die jährliche Inflationsrate liegt bei 7‒8%.
 
Das eine Bild aus Bangalore stammt im Spiegel-online-Artikel aus Electronics City, ein Stadtteil mit internationalen Firmen (die Deutsche Bank hat dort 1500 Angestellte, Bosch 3500). Es gibt Nobel- und auch Mittelklassehotels wie IBIS. Die Wohnungspreise erreichen mindestens 2 Drittel des westlichen Niveaus. Die Firmenbürohäuser sind Glaskästen, vollklimatisiert, wie in Frankfurt oder Zürich. Das ist aber nur ein Stadtteil unter vielen, und neben den Luxusbürohäusern kann man auch kleine Slums mit viel Abfall darum herum sehen.
 
Das heisst, die Kontraste sind gerade in der Grossstadt enorm. Neben einer Luxusherberge in der Seitenstrasse stehen Karren mit Essensausgabe, bei den man für 30 Rupien (50 Eurocent) eine Mahlzeit bekommen kann, während in dem Hotel die Übernachtung 250 Dollar kostet und in der dazu gehörenden Einkaufs-Mall amerikanischen Stils ‒ diese ist übrigens bei Weitem nicht die einzige in der Stadt ‒ Kleidungsstücke und Schmuck für Preise verkauft werden, deren Gegenwert ein Bauarbeiter 50 m daneben auf einem Neubau nicht in einem Jahr annähernd verdient.
 
Bildung spielt eine enorm wichtige Rolle. Privatschulen gibt es massenhaft; Eltern aus der Mittelschicht geben viel Geld dafür aus. Die Mittelschichtkinder werden fast alle Ingenieure (IT, Mechanik usw.) mit B.A.-Abschluss.
 
Lehrer dürfen die Kinder nicht mehr körperlich züchtigen, was gerichtlich verfolgt würde.
 
Die Schulabsolventen scheinen noch Arbeitsplätze zu finden und suchen sich, wenn sie mit dem gegenwärtigen Job unzufrieden sind, eine neue Anstellung.
 
Zur rush-hour sind die Strassen richtig voll mit allen möglichen Fahrzeugen, die westlichen Marken wie VW, BMW, Audi sieht man zwar seltener als die kleinen Autos und Mittelklasse-Wagen, aber man sieht sie.
 
Die Angehörigen der Mittelschicht fahren in der Regel mit der Rikscha oder im Taxi in die Stadt. In Stadtbussen sieht man sie selten, ausser vielleicht in klimatisierten Bussen mit dem doppelten bis 3-fachen Fahrpreis.
 
Es gibt nach Angaben inzwischen auch den „Nachbarschaftsneid“ nach dem Motto: „Hast Du einen Vento, kaufe ich mir einen Audi.“
 
Dennoch, meine Kolleginnen und Kollegen und ich kommen mit 30 000 Rupien (500 Euro) im Monat aus, inklusive Miete usw., einige sogar mit Familie. Dann fahren sie eben Motorroller oder Motorrad, in den meisten Fällen mit 100-ccm-Motoren. Das Benzin kostet zwischen 80 und 120 Eurocent pro Liter.
 
Häuser- und Grundstückspreise gehen in die Höhe, 2011 in Bangalore um 25 %, jetzt nicht mehr ganz so schnell. Das heisst aber auch, dass sich die Leute diese Aufwendungen leisten können.
 
Eltern aus der Mittelschicht klagen über den Anpassungsdruck, z. B. bei den Kindern in der Schule, trotz Schuluniform, und darüber, dass sie dadurch Geldprobleme haben.
 
Mittelschichtangehörige leisten sich teure Deutschkurse beim Goethe Institut, oft ohne direkten beruflichen Nutzen oder ein Ziel: „Ich mag Sprachen und lerne gern Deutsch!“
 
Der Strassenbau hat sich enorm verbessert, teilweise als Mautstrassen, teilweise auch als städtische Strassen oder als Nationalstrassen. 4-spurige Autobahnen habe ich vor 8 Jahren noch nicht so häufig wahrgenommen.
 
Ich habe Gegenden auf dem Land besucht, wo Reis usw. angebaut wird. Die Grundeigentümer klagen darüber, dass sie immer weniger Arbeitskräfte bekommen, denn diese wandern in die Stadt ab.
 
„Arrangierte“ Ehen, in Dörfern oft streng nach Kastenzugehörigkeit geregelt (über Morde wird in den Medien berichtet, wenn sich eine Frau sich nicht an die Regel hält), werden in der Stadt anders gehandhabt: Eltern schlagen der Tochter einen jungen Mann als Ehemann vor. Wenn er der Tochter aber nicht gefällt, wird nicht geheiratet und die Eltern suchen weiter (oder Töchter finden auch selbst jemanden).
 
Das sind Eindrücke, die ich in den letzten Monaten vor allem hier in der Grossstadt gewonnen habe. Sie treffen für Bangalore zu, jedenfalls aus meiner Sicht und ergaben sich aus meinen Gesprächen heraus. In diesem riesigen Land finden Sie Facetten und Ausprägungen aller Art.
 
Das Interessanteste an Indien ist, so empfinde ich es, dass das Land demokratisch ist. Die Demokratie funktioniert, wenn auch viele Bürger sagen, die Politiker seien korrupt, würden viel versprechen und nach der Wahl wenig halten. Die Entscheidungswege in einer Demokratie sind langwierig und schwierig. So mussten geplante Preiserhöhungen für Eisenbahnfahrten „eingefroren werden“, weil zwar der Minister für Bahnverkehr dafür, aber die Ministerin für Soziales dagegen war. Deshalb dauert eine sicher sehr erforderliche Modernisierung der Gleise und Züge noch sehr lange.
 
China hat da als kommunistische Diktatur und dadurch mit seiner Politik der direkten Anordnung gewiss Vorteile, die von dem Land auch ausgespielt werden und steht damit in direkter Konkurrenz zu Indien. Das Regime in China führt aber auch zu Nachteilen, weshalb es spannend ist, die wirtschaftliche Entwicklung beider „Bevölkerungsriesen“ zu beobachten, inklusive der enormen Unterschiede bei den Bevölkerungsschichten in beiden Ländern.
 
 
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