Textatelier
BLOG vom: 01.10.2012

Medizinhistorie in Zürich: Universitäre Krankengeschichte

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Das Medizinhistorische Museum der Universität Zürich habe jetzt ja viel Reklame. Ob denn die Besucherzahl entsprechend angewachsen sei, fragte ich eine eine Studentin, die in jenem Museum den Verkaufsstand betreute. Es kämen schon einige Leute mehr, antwortete sie, es seien einfach andere.
 
Was das genau für Andere sind, blieb offen. Ich zählte mich vorsichtshalber zu diesen. Denn eigentlich bin ich nicht sehr erpicht auf Anschauungsmaterial über Seuchen, Krankheiten und Knochenschlosserei. Meine Eltern hatten ein „Doktorbuch“, wie sie es nannten, ein dicker Wälzer mit vielen, zum Teil farbigen Abbildungen von Verwachsungen, Geschwüren, gebrochenen Gliedern, heraus- und aufgeschnittenen Organen sowie dem Werkzeug, mit dem Zahnärzte und Ärzte ihre Kunden ängstigten und malträtierten. Mir kam es beim Durchblättern jeweils vor, als sei die ganze Erde ein einziges Siechenhaus, wie man sich damals noch ausdrückte, eine einzige universale Absonderungsstätte für bedauernswerte Aussätzige. Für mich war das abstossend, und folglich drückte mich immer um Leichenschauen bei Beerdigungen herum. Als mein Götti (Taufpate), ein pflichtbewusster, liebenswerter Briefträger, im Bunt zwischen Lichtensteig und Wattwil SG gestorben war und in der eigenen Wohnung aufgebahrt wurde, musste ich zusammen mit meinen Eltern seinen Überresten die letzte Ehre erweisen. Ich mochte nicht hinschauen.
 
Den Besuch im Medizinhistorischen Museum an der Rämistrasse 69 in Zürich wagte ich am 25.09.2012 einfach deshalb, weil ich einen persönlichen Eindruck vom Zustand dieses Museums erhalten wollte. Denn dessen Konservator, Christoph Mörgeli, profilierter SVP-Nationalrat, war in den letzten Monaten als Museumsleiter in die Abschusslinie von seinen Vorgesetzten geraten. Ihm wurden fachliche Mängel als Konservator vorgeworfen. Als er sich wehrte und dahinter ein politisch motiviertes Mobbing, an dem vor allem Mörgelis direkter Vorgesetzter, Institutsleiter Flurin Condrau, beteiligt gewesen sein soll, erkannte, wurde er plötzlich nicht mehr wegen seiner fachlichen Qualitäten kritisiert, sondern wegen „schwerer Loyalitätsverletzungen“ seinen Vorgesetzten gegenüber. Diese hatten allerdings die Loyalität Mörgeli gegenüber verletzt und direkt oder indirekt einen vertraulichen Bericht dem „Tages-Anzeiger“ zugespielt. Mörgeli wurde als Museumsleiter fristlos entlassen.
 
Uni-Rektor Andreas Fischer machte einen etwas belämmerten Eindruck, als er am 21.09.2012 vor der Medienversammlung das Communiqué vorlas, Mörgeli habe die Kündigung als Konservator erhalten; die Titularprofessor-Funktion dürfe er behalten. Denn der Rektor ahnte gewiss schon damals, was er mit diesem Rausschmiss lostreten würde. Es handele sich um einen Fall, bei dem laut dem Anwalt Valentin Landmann „die Sachlichkeit mit der Lupe zu suchen ist“. Die Zürcher SVP stellte ein „widerliches Polit-Mobbing“ fest. Nach SVP-Forderungen sollen die „von links unterwanderten geisteswissenschaftlichen Fakultäten“ nun genauer unter die Lupe genommen werden (so Christoph Blocher). So brilliert den die berühmte Zürcher Universität mit Mobbing, das in schmutzige Wäsche eingepackt ist, statt mit geisteswissenschaftlichen Höhenflügen.
 
Das Gebäude Rämistrasse 69 mit dem Museum
Nach jener Sachlichkeit, die im Gestrüpp des Kampfs gegen einen missliebigen, profilierten Politiker und Konservator verloren ging, suchte ich vor Ort, wenigstens was den äusserlich Zustand des Medizinhistorischen Museums anbelangt. Dieses befindet sich in einem Neurenaissance-Palazzo, der in den Jahren 1884‒87 nach Plänen von Julius Otto Weber, basierend auf Ideen von Gottfried Semper, gebaut wurde. Semper war damals ein Architektur-Guru, der u. a. das Polytechnikum (heute ETH Zürich) sowie auch die ETH-Sternwarte und das Stadthaus Winterthur zeichnete – immer mit den obligaten Säulen, die sich beim Museum auf den Vorbau vor dem Portal beschränken und die den Dreiecksgiebel tragen, die Andeutung eines griechischen Tempels. In der Architektur sind Plagiate nicht verpönt, sondern geradezu ein Markenzeichen.
 
Das 1987‒90 angenehm restaurierte Haus, das über eine unten doppelte und sich im oberen Teil vereinigende Freitreppe neben einer riesigen Scheinzypresse zu erreichen ist, macht einen noblen Eindruck. Es diente zuerst als Physik- und Chemiegebäude der Universität Zürich. Hier forschten und lehrten 5 Nobelpreisträger, was mich zwar nicht sonderlich beeindruckt; doch die Namen klingen gut: Albert Einstein (Begründer der Relativitätstheorie), Peter Debye (erforschte die Wärme fester Körper), Max von Laue (er erbrachte den Nachweis für die Wellennatur der Röntgenstrahlen und die Gitterstruktur der Kristalle), Erwin Schrödinger (Wellenmechaniker) und Walter Rudolf Hess (Entdecker der Bedeutung des Zwischenhirns bei der Steuerung der Wirkung auf die inneren Organe).
 
Das Innenleben des Museums
Der Eintritt sei frei, sagte die Studentin am Verkaufsstand, und das Fotografieren sei erlaubt. Man fühlte sich willkommen. Mich zog gleich das Prunkstück der permanenten Ausstellung, die Apotheke „St. Kosmas und Damian“ aus dem deutschen Kurrheingebiet (Mitte des 18. Jahrhunderts) an; Kosmas und Damian waren Ärzte und Märtyrer in Syrien, die ebenfalls unentgeltlich wirkten. Die nach ihnen benannte Apotheke im Museum ist mit wunderschönen, in Grün sowie Ocker bemalten und beschrifteten Schubladeschränken, verzierten Gestellen mit bemalten Porzellantöpfen und Menschen- und Tiersymbolen ausstaffiert. Diese Apotheke dient als Beispiel dafür, dass die Medikamente früher vom Apotheker gemixt wurde, bevor die industrielle Fabrikation und damit die Massenproduktion einsetzte.
 
Anschliessend geriet ich einen kleinen Raum, in dem vor einem italienischen Gemälde aus der Pestzeit ein Pestsarg aus Schlattingen TG die Aufmerksamkeit erheischte, vor dem eine ausgestopfte Ratte, darauf hinwies, dass es schon damals nicht immer mit vollkommen sauberen Dingen zuging. Im Dunkel war ein Pestarzt in der düsteren Schutzbekleidung auszumachen. Ein vogelähnliches Aussehen gibt ihm die Gesichtsmaske mit dem langen Schnabel, der mit Riechstoffen (Kräutern) gefüllt war. Er hat einen weissen Peststab bei sich, das Erkennungszeichen dafür, dass er Umgang mit Pestkranken hatte. In der weiteren Umgebung sind auch die Lepra, Syphilis, Pocken, Tuberkulose, Krebs und Aids thematisiert, letzteres allerdings mit den Kunststoff-Modellen auf unbeholfene Art nach den Vorgaben der Wissenschaft, die ihre diesbezüglichen Virentheorien allmählich etwas restaurieren muss. Ob es eine Aufgabe eines Museum sein kann, sich mit solchen Theorien kritisch auseinanderzusetzen, bleibe dahingestellt. Eine „eiserne Lunge“, die noch 1945‒55 zur Langzeit-Beatmung von Poliopatienten im Kanton Zürich in Betrieb war, weist ebenfalls auf das Elend auf dieser Welt hin. Das Ungetüm sieht wie ein kleines Unterseeboot aus. Interessant ist die Gegenüberstellung eines ärztlichen Labors aus der Zeit um 1920 mit einem moderneren Labor von 1990. Und der Wandel in der Psychiatrie wird aus dem Rückblick, das heisst an den damals verwendeten Gegenständen erkennbar: Ketten, Zwangsjacke, Zellengurt und Deckelbad zur Ruhigstellung tobsüchtiger Patienten, wie sie etwa in der Klinik Burghölzli verwendet wurden. Heute werden Leute, die sich unbeliebt machen, mit subtileren Methoden gedeckelt. Im Museum finden sich auch Hinweise auf die Ethnomedizin mit einem bunten Zeremonial- und Tanzgewand der Senufo, und die Beziehungen zwischen Krankheit und Wunderglaube werden ebenfalls angesprochen.
 
Neben den grossen Exponaten wie dem Pestarzt, dem Medizinmann, Mobiliar und dem Modell des Medizinaltrakts einschliesslich des Hospitals, das auf dem St. Galler Klosterplan fusst, die offen gezeigt werden, sind viele kleine thematische Sammlungen in Schaukästen versorgt und von Schrifttafeln begleitet. Akustische Informationen in Deutsch und Englisch geben eine Art Telefonhörer, die man einfach aus der Halterung herausziehen kann. Die Beschreibungen sind in einer einwandfreien Sprache präzise und leicht verständlich.
 
Wie hat ein Museum zu sein?
Es stellt sich immer wieder die Frage, ob ein Museum museal (und damit leicht verstaubt) wirken soll und darf, oder aber ob es nach den modernen Präsentationstechniken mit moderner Technik und dem Einbezug des Besuchers gestaltet sein muss. Das Medizinmuseum ist zweifellos nicht auf der ausstellungstechnischen Höhe – es macht einen hinterwäldlerischen, altväterischen Eindruck. Das vermittelt die passende Atmosphäre zu den handwerklich hergestellten Einrichtungen mit ihrer durchschaubaren Funktionsweise, derer sich die einstigen Ärzte bedienten. Dazu passen auch die Räume an der Rämistrasse mit ihren Parkettböden, den tapezierten Wänden und Gipsdecken; andere sind hell gestrichen.
 
In unregelmässiger Folge, etwa einmal jährlich, gibt es eine Sonderausstellung. 38 solcher thematischer Schauen hat Mörgeli während seiner Amtszeit organisiert. Die letzte, die am 02.09.2012 zu Ende ging, galt der Geschichte und dem Alltag der Pflege in Deutschland. Diesbezüglich besteht ja ein weites Feld, zumal historische und aktuelle Erscheinungen behandelt werden können. In Eva Wannenmachers persönlich gestalteter TV-Sendung „Kulturplatz“ vom 26.09.2012 wurde zum Beispiel auf das umfangreiche Museum des Berliner Grossspitals „Charité“ hingewiesen, wo auch der Medizin-Fortschritt kritisch hinterfragt wird.
 
Diesbezüglich ist das Potenzial unerschöpflich. Die Medizingeschichte entwickelt sich weiter, und das Material ist da: Angeblich sollen rund 100 000 Objekte im tiefen Keller schlummern, jenseits der Ausstellungsräume; wenn etwa jede Injektionsnadel und jeder Reflexhammer einzeln gezählt wird, kommt man bald auf stattliche Zahlen. In der erwähnten DRS-Sendung wurden vor allem teilweise ungeeignete Aufbewahrungsbedingungen („prekärer Zustand“) und das Fehlen eines Inventars kritisiert, was zweifellos ein Manko wäre, sollte dem so sein. Doch laut dem Vorwort von Beat Rüttiman im Buch „Das Medizinische Museum der Universität Zürich“ (Autor: Christoph Mörgeli), erschienen 2005, sind die vorhandenen Sammlungsschätze „in illustrierten Karteien erfasst und in geeigneten Behältnissen abgelegt“. Laut der heutigen Universitätsleitung sind das Museum und die Sammlung ungenügend betreut. Laut Mörgeli gehören die Menschenknochen im Kellerraum zum Anatomischen Institut und nicht zum Medizinhistorischen Museum. Die Leichen im Keller haben offenbar doch noch einige Geheimnisse auf ihren Weg in Jenseits mitnehmen dürfen. Der Keller ist als reines Depot unzugänglich.
 
Condrau hatte Mörgeli schon im Juni 2011 neben verschiedenen anderen Einschränkungen einen Sammelstopp auferlegt, womit er weniger dem Konservator als vielmehr der Institution Museum schadete. Man weiss von praktisch allen Museen, vom Dorf- bis zum Landesmuseum, dass sie mit Gegenständen überhäuft werden und der Platzmangel ein ständiger Begleiter ist. Die Museen erfüllen eine wichtige Aufgabe, indem sie viele unwiederbringliche Gegenstände vor der Vernichtung retten. Viele Leute sind recht froh, wenn sie ihre Wertgegenstände, die sonst niemand haben will, einem Museum zuhanden des öffentlichen Gebrauchs schenken können.
 
Kürzlich habe ich mit dem Betreuer des kleinen Heimatmuseums Schmiedrued AG, Roland Frei, gesprochen, der das vorhandene Material immer wieder aus den Lagerräumen holt und zu neuen thematischen Ausstellungen verarbeitet. Diesbezüglich besteht in Zürich zweifellos ein Nachhol- bzw. Verbesserungsbedarf. Doch bei den Diskussionen um das Medizinmuseum in Zürich wird in der Regel ein Aspekt ausgeklammert: es ist räumlich sehr eingeschränkt – da ist Schmiedrued im abgeschiedenen Ruedertal mit seinem alten Schulhaus halt schon besser dran.
 
Einschränkende Raumverhältnisse
Die räumliche Beschränktheit des Medizinmuseums überraschte mich: Nachdem ich den Rundgang im Parterre absolviert hatte, stieg ich erwartungsfroh die Treppe in die 1. Etage hinauf; ich nahm an, dass oben die Ausstellung erst richtig losgehen würde. Doch dort sind ein Hörsaal, ein Seminarraum, das Sitzungszimmer des Dekanats (der Verwaltung), und das Deutsche Seminar mit Bibliothek und Gruppenarbeitsraum – nichts von Museum. Ich ging dann zum Verkaufsstand im Parterre zurück und fragte, ob das denn wirklich alles sei. Ja. Das war’s.
 
Damit sich das Museum seiner Bestückelung und Bedeutung entsprechend entwickeln könnte, müsste es wohl den ganzen Palazzo und die entsprechenden Mittel zur Verfügung haben. Mörgeli leitet das Museum seit 1994, und in den 18 Jahren wäre für die Universität im Allgemeinen und die Institutsleitung wohl Zeit genug gewesen, Änderungen zu verlangen, falls die Möglichkeiten dazu bestanden hätten. Doch vor dem Wechsel in der Institutionsleitung (im Februar 2011 ging sie von Beat Rüttimann an Flurin Condrau über) hatte Mörgeli immer Bestnoten erhalten, auch wegen seiner zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen.
 
Ich kaufte zur vertiefenden Information die unten aufgelisteten 3 Schriften und nahm einen Schluck aus dem neuen Trinkwasserspender, der laut Condrau (im „Akademischen Bericht 2011“) einzigen positiven Tat Mörgelis im letzten Jahr ... Ausdruck eines systematischen Psychoterrors. Auch fürs Forschungsgebiet Mobbing gäbe es an der Uni Zürich offensichtlich hinreichend Anschauungsmaterial.
 
Die „Weltwoche“ vom 27.09.2012 (Autor: Philipp Gut) erkannte einen „planmässig vollstreckten Rauswurf“ von Christoph Mörgeli; die Entlassung wurde am 28.09.2012 definitiv ausgesprochen. Doch der Betroffene wird sich kaum mundtot machen lassen und alles einfach hinnehmen. Vielmehr dürfte er sich den im Museum ausgestellten Karbolzerstäuber nach Joseph Lister zum Vorbild nehmen: Das Gerat diente zur Desinfizierung der Luft rund um das Operationsgebiet.
 
Hinweise auf Schriften zum Museum
Mörgeli, Christoph, und Schnyder, Eva: „Das Medizinhistorische Museum der Universität Zürich. The Medical History Museum of the University of Zurich“, 2007. Broschüre, 36 Seiten. 5 CHF.
Mörgeli, Christoph, und Schnyder, Eva: „Das Medizinhistorische Museum der Universität Zürich“. 1991. Buch, 141 Seiten. 25 CHF
Mörgeli, Christoph: „Vom Wissen zum Können. 175 Jahre Therapie am UniversitätsSpital Zürich“ 2008. Reduzierter Preis: 5 CHF.
 
Alle diese Schriften wurden vom Medizinhistorischen Institut und Museum der Universität Zürich herausgegeben.
 
Internet
 
Öffnungszeiten des Museum an der Rämistrasse 69
Dienstag bis Freitag: 13.00–18.00 Uhr.
Samstag und Sonntag: 11.00–17.00 Uhr
 
Hinweis auf ein Blog über Christoph Mörgeli
 
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