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BLOG vom: 02.12.2012

Monarchie in Deutschland – wie man adelig werden kann

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Nicht ernst gemeint ist das Lied mit der Forderung: „Wir wollen unseren Kaiser Wilhelm wieder haben!“ Jedenfalls von den meisten Deutschen, davon gehe ich aus. Die Monarchie in Deutschland wurde 1918 nach dem Ersten Weltkrieg abgeschafft.
 
Es gibt aber Phänomene in Deutschland, die mich zweifeln lassen.
 
Da sind beispielsweise die Schützenfeste, das Volksfest der Schützenbruderschaften und Schützenvereine. Es gibt traditionelle Schützenvereine in Nordrhein-Westfalen, vor allem am Niederrhein, im Sauerland und im Rheinland; in Bayern, Niedersachsen und nach der Wende auch wieder in Ostdeutschland, aber auch in den katholischen Provinzen der Niederlande. In der Schweiz wurden die Schützenfeste einst „Freischiessen“ genannt. Ihr Entstehen geht zurück bis ins Mittelalter, in dem die Städte wegen drohender häufiger Überfälle und Raubzüge noch für eine Bürgerwehr sorgen mussten. Im Zusammenhang mit den Übungen und den Musterungen zur Einführung junger Schützen wurden Umzüge gehalten, dazu wurden auch benachbarte Städte und Gemeinden eingeladen. Später wurden dann zur Landesverteidigung Truppen aufgestellt und die Schützen, der Name wurde von „Schutz“ abgeleitet, später erst von „Schiessen“, überflüssig. Die Tradition aber blieb. Oft bildeten sich mehrere Schützenvereine in den Ortschaften nebeneinander.
 
Über das Schützenfest in Neuss am Niederrhein wird berichtet: „Es wird jährlich am letzten Augustwochenende ausgerichtet. Mit mehr als 7000 marschierenden Schützen und Musikern (ca. 1200 Musiker) ist es zwar kleiner als das Schützenfest Hannover, gilt aber als das weltweit grösste Schützenfest, das von einem einzigen Schützenverein organisiert wird und bei dem keine Gastzüge aus anderen Städten teilnehmen. Im Jahr 2009 wurde die Rekordzahl von 6797 Marschierern erreicht. Das Schützenfest ist mit seiner Königsparade, den Festzügen, dem Königsschiessen sowie etlichen Begleitveranstaltungen ein gesellschaftlicher Höhepunkt in Neuss sowie der näheren und weiteren Umgebung und zieht bis zu einer Million Besucher an. Rekordjahr war das Jahr 2007 mit 1,5 Millionen Besuchern.“
 
Der Ablauf der Schützenfeste, die meistens mehrere Tage dauern, ist traditionell genau festgelegt. An den Häusern und Wohnungen der „amtierenden“ Würdenträger werden die Eingänge mit Tannenzweigen und dem Hinweis, wer da wohnt, ob König, Edeldamen, General und Feldmarschall usw. geschmückt. Diese noblen Herren und Damen werden frühmorgens alle in festliche Uniformen gekleidet, mit einer Truppe feierlich mit Blas- und Trommelmusik abgeholt, am Sonntag auch zur Kirche geleitet. Bei Schiessveranstaltungen, regional unterschiedlich wie Ringschiessen, Scheibenschiessen oder das Abschiessen eines hölzernen Vogels, wird im Laufe des Fests der neue Schützenkönig ermittelt. Im Regionalteil der Tageszeitung wird ausführlich darüber berichtet.
 
So gibt es in Deutschland zahllose „amtierende Schützenkönige“. Über das Jahr engagieren sich viele Vereine auch in der Jugendarbeit.
 
Nicht nur die Schützenvereine haben eine „monarchische Tradition“, auch bei Karnevalsvereinen wird das Prinzenpaar oder auch nur die Prinzessin gekürt, „Tollität“ genannt. Nicht immer gibt es Prinzen, manchmal sind es „Adjutantinnen“. Symbolisch wird der Prinzessin oder dem Prinzenpaar der Rathausschlüssel für die Zeit des Festes übergeben. Die Lokalgeschichte wird bemüht, beispielsweise die Verteidigung der örtlichen Burg in historischen Auseinandersetzungen. So wird in Brüggen, einem kleinen Ort am Niederrhein D, der Amtssitz der Gemeinde durch das Prinzenpaar in die Burg verlegt, mit der Begründung, um „Miesmuffel“ fern zu halten. Auch hier darf der gemeinsame katholische Gottesdienst für die Festgäste, ebenso wie ein Umzug durch den Ort auf festlich geschmückten Wagen, nicht fehlen.
 
Diese Volksfeste gehören zur Tradition in Deutschland. Darin wird wieder lebendig, dass es in Deutschland jahrhundertelang Fürsten, Könige und Kaiser gegeben hat. Die Feste sind Anlässe zur Volksbelustigung und Trinkgelage.
 
Das monarchische Element lebt auch noch anders weiter. So gab es vor ein paar Tagen eine Todesanzeige in der hiesigen Zeitung. Die Grossmutter des ehemaligen Wirtschafts- und Verteidigungsministers Karl Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg war im Alter von knapp 90 Jahren verstorben. Sie hiess Rosa Sophie Reichsfreifrau von und zu Guttenberg, geb. Prinzessin und Herzogin von Arenburg. Zu den Unterzeichnern der Anzeige gehören eine Reichsgräfin, die Gräfin und der Graf von Stauffenberg, mehrere Reichsfreiinnen, Freifrauen und Freiherren. Das Requiem wird in der Päpstlichen Basilika in Marienweiher gehalten. Auch die Gattin des Enkels Karl Theodor ist eine Adelige, Stefanie Gräfin von Bismarck-Schönhausen.
 
Zum Adel zu gehören heisst, in eine dieser Kategorien eingeordnet zu werden: „Der Internationale Adelsverband differenziert wie folgt:
1. Dynastischer Adel,
2. Ritteradel,
3. Träger von Adelsnamen (sogenannter Neuer Adel). 
1919 wurde der Adelsstand abgeschafft. Als gesellschaftliche Gruppe ist er jedoch noch immer präsent. Der dynastische Adel entwickelte sich aus dem historischen Adel und verfolgt seine Herkunft bis ins Alte Rom zurück, und zwar bis zum Senatsadel.
 
Der Ritteradel entwickelte sich ebenfalls im Alten Rom (Esques), und seine Herkunft wird unterteilt in
a) Kirchlicher Ritterstand (einige Orden, wie die Johanniter, Malteser, Grabesritter),
b) Dynastischer Ritterstand (Orden vom Goldenen Flies u. a.),
c) Freier, unabhängiger Ritterstand. 
Der Ritterstand wurde in Deutschland übrigens nicht abgeschafft, man kann weiterhin darin aufgenommen werden. Träger von gekauften Adelsnamen (Neuer Adel) können übrigens Lehrgänge absolvieren und in den Ritteradelsstand erhoben werden, aber „Neuer Adel“ bleibt immer „Neuer Adel“, und er muss im Melderegister eingetragen sein. Das kann auch ein Künstlername sein!
 
Apropos Künstler! Das folgende Beispiel zeigt auf, dass der Adelsname, wenn er eingetragen ist, völlig legal benutzt werden darf:
 
„Benny Blues Graf von Strassenburg (sein Familienname ist wahrscheinlich Benjamin Borczykowski) hat auch einen Adelsnamen von einem Händler gekauft, weil ihm sein alter Name zu komisch vorkam –allerdings in einer Ebay-Auktion des als ‚Titelhändler’ bezeichneten Anbieters 4micromax für nur 19,50 Euro. Seit 3 Jahren tingelt er durch Deutschland, an seinem Hals baumelt ein Königsorden (Karnevalsorden bei Ebay für 2,50 Euro), und seinen Gitarren-Blues-Finger ziert ein gewaltiger Gold-Imitat-Ring mit Königswappen. Er sitzt meistens in Bahnhofsnähe vor den Klohäuschen. Hier spielt er auf seiner Gitarre, singt heiser und verkauft ein Taschenbuch mit Gedichten, die er irgendwann einmal geschrieben hat. Auf dem Pappschild hinter der Sammelbüchse steht: ‚Ich bin der Graf von Strassenburg! Bitte, Ihr herzlieben Bürger, gebt nen Euro für den verarmten Adel!’.“
 
Der Adelsverband schreibt dazu: „Nach Klassifizierung der IFAA-Norm des Adelsverbandes ist der von Benny verwendete Name ein (Adelsname = A), und er hat unter Betrachtung der Zuordnung seines Adelsstatus das Recht, sich als Mitglied des Neuen Adels zu bezeichnen, da sein Adelsname im Melderegister geführt wird. Sein Auftreten als Graf und das Vereinnahmen von ‚Trinkgeldern’ der Passanten für die von ihm erbrachte Musikdarbietung und den Buchverkauf, was ein Rechtsgeschäft darstellt, kann nicht angefochten werden. Seine Geschäftsidee ist genial. Benny: ‚An sonnigen Tagen habe ich meistens so um die 200 Euro in der Büchse, ich habe mein Gewerbe natürlich angemeldet und zahle auch Steuern! Morgen fliege ich nach Las Vegas, hab’ mein Pappschild auf Englisch umgeschrieben!’”
 
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die oben genannten Herrschaften des dynastischen und Ritteradels glücklich damit sind. Sind sie doch im Focus der Regenbogenpresse, die sie zu Märchenfiguren hochstilisiert und ihnen ein bestimmtes Image verpasst. Mutmassungen und Klatsch bestimmen den Inhalt. Der diese Blätter lesenden vielfach weiblichen Leserschaft wird damit suggeriert, dass es sie gibt und dass sie etwas Besonderes seien. Einige von ihnen als Besitzer von Ländereien und Betrieben haben selbstverständlich auch noch etwas zu sagen.
 
Das sind aber längst nicht alle.
 
Die Monarchie lebt auch in Deutschland! Nicht zu vergessen sind die Märchen der Gebrüder Grimm, die bei so manchen Kindern den Wunsch aufkommen lassen, Prinz und Prinzessin, Ritter oder Graf und Gräfin werden zu wollen. Wie wir gesehen haben, geht das sogar in Deutschland!
 
Quellen
Rheinische Post, 21.11.2012, C 7
de.wikipedia.org/wiki/Neusser_Bürger-Schützenfest
http://www.adelsverband.de/html/neuer_adel.html
 
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