Textatelier
BLOG vom: 24.12.2012

Was Weihnachten sein soll, misst sich an der Erinnerung

 
Autorin:
Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich einmal den Duft frisch geschnittener Christbäume so intensiv wahrgenommen habe wie am Freitag, 21.12.2012, als ich mit Primo zusammen nach unserem Tannenbaum suchte. Diese Düfte und dieser kurze Besuch unten auf dem Lindenplatz von Zürich-Altstetten gibt mir gerade den nötigen Schwung für einen Beitrag zur Weihnachtszeit.
 
Ich erinnerte mich wieder einmal an den Übergang von der Herkunfts- zur eigenen Familie, als ich mit Primo zusammen plötzlich dafür verantwortlich war, dafür zu sorgen, dass Weihnachten zu einem besinnlichen Fest werde.
 
Zu den schönsten Augenblicken meiner Kindheit gehören definitiv die Momente am 24. Dezember, wenn wir 5 Geschwister das Christkind erwarteten. Für ein Fest gekleidet und zurechtgemacht, erwarteten wir den Glockenton, der die Weihnacht ankündigte und eröffnete. Der Vater rief uns in die Stube: „Äs isch cho“ (Es ist gekommen).
 
Dieses „Es“ war das Christkind, das uns besuchte und mit einem Baum voller Lichter beschenkte. In keiner Weihnachtsfeier habe ich je wieder diese Ehrfurcht gefühlt wie damals, als wir, unwissend und auf eine Art unverdorben, den Christbaum bestaunen durften. Da war Licht in unserem Haus, und viele der Sorgen wurden für einen Abend lang von diesem verscheucht.
 
Als ich kürzlich in der Stadt weilte und mir auf der Bahnhofstrasse viele Menschen entgegen kamen, fragte ich sie in meinen Gedanken: „Was sucht ihr noch? Was fehlt euch noch? Wie werdet ihr das Weihnachtsfest feiern?“ Unvorstellbar, die Antworten.
 
Ich besuchte dann noch den Christmas Tree, die Plattform für Schülerchöre auf dem Werdmühleplatz. Hier wurden vom 24. November an Weihnachtslieder gesungen. Schon allein die Bühne mit dem abstrahierten Tannenbaum, auf dem die Chöre auftreten können, ist ein Kunstwerk. Pyramidenförmig gestaltet, mit Tannästen verputzt, bietet dieser Christbaum auf 7 balkonähnlichen Etagen Raum und Platz für Sängerinnen und Sänger. Sie tragen rote Zipfelmützen und verkörpern die Weihnachtskugeln am Baum.
 
Diese Institution besteht schon seit 1998 und begeistert uns jedes Jahr neu. Sie verströmt eine frische, echte Weihnachtsstimmung.
 
Als ich dort war, begeisterten gerade junge Leute aus der 2. Sekundarschule Käferholz aus Zürich-Affoltern das zahlreiche Publikum. Sie sangen amerikanische und englische Weihnachtslieder. Und ernteten viel Applaus. Ein junger Schweizer, neben mir stehend, rief begeistert in die Menge: Da mues mer ja gar nüd uf New York! (Da erübrige sich eine Reise nach N.Y.).
 
Zu Hause erzählte ich von meinen Eindrücken. Was ich berichtete, löste Erinnerungen aus. Sie holten Begebenheiten aus unserer Kindheit ans Licht. Primo erzählte mir erstmals von einer Weihnacht in der Zeit des 2. Weltkriegs, als die Fenster verdunkelt werden mussten und man sich zu Hause wie in einer Höhle befand. Seine Familie wohnte im Kreis 5, nahe beim Zürcher Hauptbahnhof.
 
Da sassen sie in der schwach erleuchteten Stube im Parterre. Es hatte geschneit. Es sei still, ganz still gewesen. Auch wegen des vielen Schnees. Die Fensterläden waren geschlossen, die Fensterscheiben mit schwarzem Stoff abgedeckt und die Vorhänge, die zur persönlichen Wohnungseinrichtung gehörten, darüber gezogen. Und dann hörten sie ein Pferdefuhrwerk vorbeiziehen. Aber niemand durfte die Vorhänge lüften. Primo hätte gerne hinausgeschaut. Gefeiert wurde auch still, so still wie möglich. Mit einem bescheidenen Baum. Mit einigen Liedern und bangen Gedanken. Wann denn der in den Texten besungene Friede hier wieder eintreffe, mögen sich die Eltern gefragt haben.
               
Aus dieser Zeit mag das Kerzenlicht unter dem Thema Hoffnung und Zuversicht in uns abgespeichert sein. Das gilt auch für mich. Noch immer sind uns grelle und der Werbung dienende Lichter fremd.
 
Später, in unbelasteterer Zeit, durften Primo und sein Bruder dann dem Vater zuschauen, wie er den Baum schmückte und ihm vorher noch zusätzliche Äste einsetzte, um ihn harmonischer zu machen. Primo sagt heute dazu: Er frisierte ihn auf Ästhetik. Die Buben durften zuschauen und danach Kugeln aus den Schachteln holen und sie aus dem Seidenpapier herauslösen. Sie wählten jene aus, die ihnen am besten gefielen. Die Farben waren prächtig und wichtig. Aus diesem Erbe haben wir einige wenige Kugeln geschenkt erhalten. Sie haben bei uns ihren Platz.
 
Einen Christbaum mitgestalten, macht sicher Freude. Aber so wie es in meinem Elternhaus Tradition war, brachte das Christkind den Baum, und wenn wir die Stube betraten und die Kerzen ihr Licht verströmten, war das einfach unbeschreiblich schön.
 
Mit Primo zusammen entwickelten wir diese 2. Variante weiter, und noch heute, wenn die Töchter mit uns feiern, ist es selbstverständlich, dass man wartet, bis das Glöcklein läutet und der Vater einlädt, in die Stube zu kommen.
 
Einmal, die ältere Tochter war vermutlich 9-jährig, die jüngere 3, war das Christkind auch gekommen. Die Glocke hatte geläutet. Die Kinder stürmten aus dem 1. Stock in die Stube hinunter. Da stand der Christbaum und strahlte. Felicitas, die ältere, konnte nicht genug staunen und ihre Gefühle überfliessen lassen, während Letizia, die jüngere, als erstes wissen wollte: Das hat alles Papi gemacht?
 
In Primos Familie gab es zu Weihnachten Nussgipfel, die der Vater gebacken hatte. Eine Erinnerung an seinen 1. Beruf als Bäcker und Konditor. Und als Erbe aus der italienischen Grossfamilie kamen immer auch die Capelletti auf den Tisch. Tage vorher vorbereitet, beanspruchten sie am Fest selbst nicht mehr viel Kochzeit und Aufmerksamkeit. Man wärmte sie in einer Fleischbrühe, liess sie ziehen. Auch diese Capelletti fabrizierte der Vater. Nach seiner Pensionierung lehrte er mich noch, wie ich diese selber zubereiten kann.
 
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