Textatelier
BLOG vom: 19.02.2013

Abzocker-Hochkonjunktur: Uneinig über Bremstechnologien

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Das Tätigkeitswort „abzocken“ ist älteren Datums – schon in meinem „Deutschen Universalwörterbuch“ von Duden von 2001 liest man davon: „ausnehmen, abgaunern: Wir wollen uns nicht abzocken lassen.“
 
Die Menschen wurden schon immer ausgenommen, wobei gerade Religionsgemeinschaften ausgeklügelte Systeme unter dem Schutz des Himmels entwickelt hatten. Das Erfolgsmodell wurde dann von den US-Amerikanern perfektioniert, die zu diesem Zweck ganze Juristen-Heerscharen ausbildeten (und es noch immer tun); es sind Spezialtruppen für die Wirtschaftskriegsführung zugunsten der sich leerenden Staatskassen. Kriege um Macht und Rohstoffe verschlangen und verschlingen Unsummen. Das Abzocken erscheint unter dem Deckmantel von Strafmassnahmen; die Bussen steigen sprunghaft in beliebige, unlimitierte Höhen an, dem Staatsdefizit ähnlich.
 
Die Kader von Grossfirmen wie Banken liessen sich inspirieren, zuerst in den USA, dann sich erdweit ausbreitend. Die Manager, die Stellen abzubauen, Betriebe zu zerschlagen und Tafelsilber zu verkaufen hatten, wenn immer die Vierteljahresbilanzen dadurch geschönt werden konnten, schaufelten sich selber mit gütiger Verwaltungsrathilfe Millionensummen zu, und der Verwaltungsrat seinerseits wurde mit Honoraren bestückt, die in keinem Verhältnis zum Können und Aufwand standen. Die Tantiemen verloren den Bezug zum Betriebserfolg und sprudelten selbst dann noch, wenn eine Firma im Strudel roter Zahlen versank. Und wenn wieder einmal ein Versager unter den managenden Renditejägern, der sich als Verlustoptimierer entpuppt hatte, sich anschickte, das Weite zu suchen, wurden an ihm noch goldene Fallschirme montiert.
 
Wenn immer das Aktionärs- und Fussvolk Bedenken gegen diese Millionenverschleuderungen von sich zu geben wagte, wurde es mit dem Hinweis ruhiggestellt, dass dort, wo bei den Managerhonoraren der Sparhebel angesetzt werde, dann eben die besten Leute nicht mehr erhältlich seien – immer mit Verweis auf das US-Vorbild, dieser Brutstätte von Genies. Die Gleichung: Je teurer und geldgieriger ein Manager ist, desto tüchtiger ist er. Das Resultat ist hinlänglich bekannt.
 
Man tröstete sich mit mildernden Umständen: Aus Supersalären fallen hohe Steuererträge für die Öffentliche Hand an, etwas Umverteilung nach sozialdemokratischem Muster. Doch wurden die Exzesse zu Beginn dieses 3. Jahrtausends so gross, dass man in der Schweiz nicht mehr zusehen mochte. Marcel Ospel hatte die UBS für ein Jahressalär von 26,6 Mio. CHF heruntergewirtschaftet, wenn er nicht gerade an einem Basler Fasnachtsumzug (Cortège) teilnahm, und der CS-Chef Brady Dougan, ein Amerikaner, erleichtert die Bank CS um jährlich 70,9 Mio. CHF, was offenbar nicht für den Kurs „Deutsch für Anfänger" der Klubschule Migros ausreicht. Er treibt die CS sukzessive in die Hände der Amerikaner – was übrigens weit schlimmer noch als die Novartis-Vorgänge ist; doch der Zugriff der Amerikaner, vor dem auch die UBS nicht verschont bleibt, wird öffentlich kaum thematisiert.
 
Dem parteilosen Ständerat Thomas Minder aus dem Kanton Schaffhausen, rechtschaffen, kämpferisch und vertrauenswürdig, kam angesichts der schamlosen Plünderungen der einiger Firmenkassen schon vor Jahren die Galle hoch. Er organisierte die Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative „gegen die Abzockerei“, die am 26.02.2008 eingereicht wurde und über die das Schweizervolk am 03.03.2013 endlich abstimmen darf (Wortlaut im Anhang). Wird sie angenommen, muss sie zuerst noch in Gesetzesform umgewandelt werden, wobei jahrelange Umsetzungskonflikte zu erwarten sind. Wird sie abgelehnt, tritt ein vom Parlament ausgearbeiteter Gegenvorschlag in Kraft, falls kein Referendum dagegen ergriffen wird. Dieser könnte theoretisch ab dem 01.01.2014 gültig sein.
 
Die Schweizer haben also eine knifflige staatspolitische Aufgabe zu lösen. Dabei geht es unter anderem auch um die Frage, wie viel die Politik in die freie Marktwirtschaft dreinreden darf und ob die Stärkung der Aktionärsrechte ohne weitere einschneidenden Vorschriften nicht die elegantere, wirtschaftsfreiheitlichere Lösung wäre. Zweifel sind erlaubt: Die internationalen Verflechtungen des Aktionärsbestands beflügeln das Renditedenken – der Rest ist zweitrangig.
 
Ich gebe unumwunden zu, dass mir die Minder-Initiative wegen ihrer Symbolkraft ebenso sympathisch ist wie der gleichnamige Initiant und seine Trybol-Zahnpasta aus Naturmaterialien wie Kreide. Die Initiative ist konsequent, hat allerdings auch ihre Schwächen. So geht der indirekte Gegenvorschlag mit seinen verschärften Bestimmungen zur Sorgfaltspflicht des Verwaltungsrats und zur Rückerstattung von ungerechtfertigen Vergütungen weiter als die Initiative.
 
Jede komplexe Abstimmungsvorlage, bei der es beliebig viele Pro- und Kontra-Argumente gibt, erleidet zwangsläufig dasselbe Schicksal: Sie wird auf ein Kernstück reduziert. Am Schluss gibt ein Ja oder ein Nein den Ausschlag. Diesmal lautet das Exzerpt: „Gegen Abzockerei“. Das spricht dem Volk aus dem Herzen, trifft des Pudels Kern. Es entdeckt allmählich, wie sich amerikanische Verhältnisse über die Schweiz ergiessen und sagt: „Jetzt reicht’s“.
 
Das braucht keine grossen Differenzierungen mehr: Thomas Minder geniesst in der Bevölkerung mehr Vertrauen als die Politik, und oft ist die Marke wichtiger als der Inhalt. Das wird (aller Voraussicht nach) mit der Zustimmung zu seiner Initiative belohnt werden. Die Parteien mit ihrem Wischiwaschi und ein Bundesrat, der Schwäche zeigt, im Allgemeinen mehrheitlich fremdländische statt schweizerische Interessen vertritt und das Volk an der Nase herumführt, erhalten die Quittung. Es geht darum, ein Zeichen zu setzen.
 
Wäre das Fass nicht schon längst übergelaufen, wäre es durch den Novartis-Präsidenten Daniel Vasella definitiv zum Überlaufen, ja geradezu zur Explosion gebracht worden. Wenige Tage vor der Abstimmung über die Abzocker-Initiative gestand er ein, was er zuvor bestritten hatte: Er erhält nach seinem Rücktritt 72 Mio. CHF, verteilt über 6 Jahre, wenn er die Güte hat, sein Wissen nicht an ein Konkurrenzunternehmen zu verscherbeln. Das ist der blanke Hohn, wenn einer, der mit dem Florieren seiner Firma zu unermesslichem Reichtum gelangt ist, noch an die Kandare genommen und mit einem Vermögen in Schranken gewiesen werden muss, damit er sein eigenes Unternehmen nicht gegen noch mehr Geld, das von aussen kommt, heruntermacht.
 
Solche Vorgänge sind Anzeichen von einem unbeschreiblichen, latenten Sittenzerfall – am Schluss muss ein Vater wahrscheinlich noch präventiv reich beschenkt werden, damit er seinen eigenen flügge gewordenen Nachkommen nicht schweren Schaden zufügt. Das Selbstverständliche, dass man zu seiner Familie und zu seinem Werk steht, ist heute offenbar nur noch gegen Geld zu haben – gegen viel Geld, Millionen. Vasella, von einer Lawine des Protests erschlagen, hatte sich beeilt, noch schnell mitzuteilen, seine Abfindung an Hilfswerke weiterzugeben. Und am Ende glaubt man ihm das auch nicht mehr.
 
Der Protest weitete sich im medialen Trommelfeuer aus, so dass Vasella am 19.02.2013 unter dem Druck aus der Öffentlichkeit den Verzicht auf die 72 Mio. CHF ankündigte. Das Novartis-Communiqué war diffus, ging daraus doch nicht hervor, ob damit auch das Konkurrenzverbot aufgehoben ist.
 
Die Minder-Initiative, die nichts Minderes an sich hat (im Gegenteil) und einfach Exzesse bei der Vergütung der obersten Kader vermindern will, hatte durch die Bekanntgabe der Millionenabfindung für Vasella einen zusätzlichen Auftrieb erhalten; schon vor dieser Ankündigung hatte sie laut einer repräsentativen Umfrage 58,8 % der Befragten auf ihrer Seite. Die Zahl der Zustimmenden dürfte noch angeschwollen sein. Die am 17.02.2013 angekündigte Strafanzeige wegen „ungetreuer Geschäftsbesorgung“ gegen Vasella und Novartis, die Aktionärsschützer eingereicht haben, wird ein Weiteres in dieser Richtung bewirken. An ihr wird offenbar auch nach der Verzichtserklärung festgehalten. Ein Ausrutscher von solchen Dimensionen lässt sich nicht so leicht aus der Welt schaffen.
 
Endstation Gerichtssaal? Ist die neoliberale Wirtschaft von allen guten Geistern verlassen? Selbst die EU laboriert zur Zeit an einer Boni-Begrenzung herum, was ja auch eine Massnahme gegen das Überhandnehmen von US-Abzockern wäre. Müssen wir demnächst Auffanglager für gestrauchelte Manager (CEO) einrichten? Die Globalisierung geht weiter. Und diese lässt sich nicht auf ein Vasella-Problem, ein blosses Symptom, einen Warnhinweis, reduzieren. Das ganze System ist faul.
 
 
Anhang
Der Abstimmungstext der Volksinitiative „gegen die Abzockerei“ im Wortlaut
 
I
Die Bundesverfassung vom 18. April 1999 wird wie folgt geändert:
 
Art. 95 Abs. 3 (neu)
Zum Schutz der Volkswirtschaft, des Privateigentums und der Aktionärinnen und Aktionäre sowie im Sinne einer nachhaltigen Unternehmensführung regelt das Gesetz die im In- oder Ausland kotierten Schweizer Aktiengesellschaften nach folgenden Grundsätzen:
 
a. Die Generalversammlung stimmt jährlich über die Gesamtsumme aller Vergütungen (Geld und Wert der Sachleistungen) des Verwaltungsrates, der Geschäftsleitung und des Beirates ab. Sie wählt jährlich die Verwaltungsratspräsidentin oder den Verwaltungsratspräsidenten und einzeln die Mitglieder des Verwaltungsrates und des Vergütungsausschusses sowie die unabhängige Stimmrechtsvertreterin oder den unabhängigen Stimmrechtsvertreter. Die Pensionskassen stimmen im Interesse ihrer Versicherten ab und legen offen, wie sie gestimmt haben. Die Aktionärinnen und Aktionäre können elektronisch fernabstimmen; die Organ- und Depotstimmrechtsvertretung ist untersagt.
 
b. Die Organmitglieder erhalten keine Abgangs- oder andere Entschädigung, keine Vergütung im Voraus, keine Prämie für Firmenkäufe und -verkäufe und keinen zusätzlichen Berater- oder Arbeitsvertrag von einer anderen Gesellschaft der Gruppe. Die Führung der Gesellschaft kann nicht an eine juristische Person delegiert werden.
 
c. Die Statuten regeln die Höhe der Kredite, Darlehen und Renten an die Organmitglieder, deren Erfolgs- und Beteiligungspläne und deren Anzahl Mandate ausserhalb des Konzerns sowie die Dauer der Arbeitsverträge der Geschäftsleitungsmitglieder.
 
d. Widerhandlung gegen die Bestimmungen nach den Buchstaben a–c wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren und Geldstrafe bis zu sechs Jahresvergütungen bestraft.
 
II
Die Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung werden wie folgt ergänzt:
 
Art. 197 Ziffer 8 (neu)
8. Übergangsbestimmung zu Artikel 95 Absatz 3
Bis zum Inkrafttreten der gesetzlichen Bestimmungen erlässt der Bundesrat innerhalb eines Jahres nach Annahme von Artikel 95 Absatz 3 durch Volk und Stände die erforderlichen Ausführungsbestimmungen.
 
Initiativkomitee „gegen die Abzockerei“
Tel.: 052 672 23 21
 
Wo der indirekte Gegenvorschlag von der Initiative abweicht
Der indirekte Gegenvorschlag des eidgenössischen Parlaments hat 17 der 24 Forderungen der Initiative vollständig oder teilweise übernommen, so dass die Abstimmung für Thomas Minder so oder so zu einem Erfolg werden wird.
 
Nicht übernommen hat der Gegenvorschlag insbesondere spezielle Strafbestimmungen (die Initiative fordert Freiheitsstrafen bis zu 3 Jahren und Geldstrafen bis zu 6 Jahresvergütungen), weil das geltende Strafrecht ausreicht. Ferner ist auch keine zwingende Wahl der Mitglieder für den Vergütungsausschuss des Verwaltungsrats durch die Aktionäre vorgesehen. Ein Verbot für Verwaltungsrat und Geschäftsleitung für zusätzliche Arbeitsverträge in einer anderen Gesellschaft der Gruppe enthält der Gegenvorschlag ebenfalls nicht. Nach Auffassung von Thomas Minder handelt es sich dabei um „das grösste Schlupfloch des Gegenvorschlags“. So könnte sich beispielsweise ein Konzernchef oder Verwaltungsrat zusätzlich von einer Tochtergesellschaft als Angestellter oder Berater bezahlen lassen und diese Bezahlung im Vergütungsbericht unterschlagen. Dies widerspräche den bereits geltenden gesetzlichen Offenlegungspflichten.
 
Vergleich der Initiative mit dem Gegenvorschlag
Ein ausführlicher Vergleich der Initiative mit dem Gegenvorschlag des Parlaments, der in Kraft tritt, wenn die Initiative abgelehnt werden sollte, findet sich unter
 
 
Dabei handelt es sich um eine Änderung auf Gesetzesebene, so dass die zeitraubende Umwandlung des Initiativtexts mit all den politischen Ränkespielen obsolet würde.
 
Stellungnahme des Bundesrats
Der Bundesrat gab am 18.12.2012 in einer Medienmitteilung bekannt, er unterstütze in der kommenden Abstimmung den Gegenvorschlag des Parlaments: Dieser sei im Vergleich zur Volksinitiative praxistauglich und sorge eher für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Aktionären, Verwaltungsrat und Geschäftsleitung. Die Abzocker-Initiative schiesse „über das Ziel hinaus”. Zwar teile der Bundesrat die Anliegen der Initiative grundsätzlich, die vorgesehenen Massnahmen würden jedoch zu weit gehen oder gar kontraproduktiv sein.
 
 
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