Textatelier
BLOG vom: 20.09.2013

Altersreise für Leute der Kategorie 70+ zu Kartoffelsalat+

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Zeit haben. In aller Regel haben Pensionierte keine. Sie stehen am Morgen etwas später als das werktätige Volk auf, schlürfen den Kaffee in Musse und wenden sich mit der Inbrunst von Menschen, die ihren Teil zum Bruttosozialprodukt beigetragen haben, den Buttergipfeli zu, die auch einem Gebiss mit jahrzehntelanger Zahnarzt-Vergangenheit kaum Widerstand entgegensetzen. Man holt die Zeitung aus dem Kasten, klappert die Todesanzeigen ab, vergleicht die Lebensdauer der Verblichenen mit der eigenen und kommt zur Einsicht, dass es bei Weitem nicht mehr so lang gehen kann, wie es bereits gegangen ist. Dann ist die Zeit für die Zubereitung des Mittagessens nahe. Man putzt Kartoffeln, dämpft zur Entlastung des Kühlschranks Gemüse, mariniert und kremiert ein Steak. Wie das brutzelt und duftet!
 
Am 17.09.2013 konnten wir Bibersteiner aus der Kategorie 70+ uns solcherart Umtriebe mit dem Mittagessen schenken, hatte der Gemeinderat doch zum 3. Mal zur nunmehr alljährlichen Seniorenausfahrt eingeladen. 43 Personen fanden sich an einer der mehreren Bus-Haltestellen ein und bestiegen rudelweise den modernen Car des Unternehmens Gloor-Carreisen GmbH in nahen Veltheim AG, der vom Firmeninhaber Willy Gloor persönlich durch ein Geflecht von engen Strassen gelotst wurde. An den Aussenwänden flogen aufgemalte Fallschirmchen, wie sie aus dem Löwenzahn-Kelch kommen, mit, Symbole für die Leichtigkeit des Seins.
 
Nach dem Start und der Fahrt hinauf zum Benkerjoch wurden wir zuerst einmal über die Nutzung all des Komforts ins Bild gesetzt, der dem Carreisenden das Leben vereinfacht. So kann, wer die richtigen Hebel findet, die Sitze innerhalb von gewissen Grenzen verschieben, wobei ein besonderes Augenmerk einer bequemen Ellbogenlage gilt. Auch sie ist einstellbar. Selbstredend kann auch die Fussraste in die zweckmässige Position gehievt werden, weil es trotz aller Vereinheitlichungstendenzen noch nicht gelungen ist, die Menschheit mit gleich langen Beinen auszurüsten. Besonders Findige konnten ein Gefäss für Kleinabfälle ausmachen. Der Chauffeur entschied sich für eine Innentemperatur von 22 bis 23 °C, wobei jeder Fahrgast die Luftdüsen über dem Kopf bzw. unter der Ablagefläche auf seine ganz persönlichen Bedürfnisse einstellen konnte. Noch während ich vergeblich versuchte, das Klapptischchen am Rücken des Vordersitzes in die Waagrechte zu drehen, drehte der Fahrer vor Wittnau AG nach Osten ab, um beim Buschberg die Kantonsgrenze Aargau/Solothurn zu überfahren, Richtung Rothenfluh im Ergolztal. Ein Feldmauser machte auf einer Wiese Mauslöcher unsicher; die Welt stellte bereits auf Computer-Mäuse um. Nach Hemmiken winkte uns links oben die Ruine Farnsberg zu, bevor wir die Dörfer Buus und Maisprach im basellandschaftlichen Bezirk Sissach mit unserem grossdimensionierten Reisebus förmlich ausfüllten. Weil in jener Gegend ein Aargauer Zipfel ins Baselbiet hinreicht, erlebten wir noch ein kurzes Aargauer Gastspiel, was natürlich den Trennungsschmerz verminderte. Olsberg, Arisdorf, Frenkendorf, Liestal waren und die nächsten Ziele nach der Fahrt durchs Grüne.
 
Ich erzähle das alles, Zeilen schindend, weil wir etwas Zeit schinden mussten. Denn laut Anweisung des Restaurants Schlosshof Dornach, ein Katzensprung von der rund 800-jährigen Ruine Dorneck entfernt, sollten wir nicht vor 15 Uhr eintreffen, wie die immer gutgelaunte Reiseleiterin Rita Bircher meldete: „S’chunnt sch guet.“ Es kam wirklich gut. Zum grossen Glück hatte eine Mitreisende noch das Bedürfnis, die in den Car eingebaute Toilette zu testen, was mit einem Halt bei weiterlaufender Digitaluhr verbunden wurde. Für die beiden Samariterinnen Cécile Lüscher und Vreni Nadler bedeutete dies kein Ernstfall.
 
Wir passierten anschliessend Seewen im solothurnischen Bezirk Dorneck (die Kantone AG, SO und BL verknäueln sich in jener Gegend) mit dem bekannten Museum für Musikautomaten, dann Hochwald, an das ich mich noch von der Berichterstattung fürs Aargauer Tagblatt erinnerte: Am 10.04.1973 stürzte in der Nähe des Weilers Herrenmatt beim Anflug auf den Flughafen Basel-Mulhouse eine Vickers Vanguard ab – vor gut 40 Jahren war das, und inzwischen konnte Gras über dieses tragische Ereignis wachsen.
 
Kurz nach 15 Uhr erreichten wir das Ausflugsrestaurant Schlosshof mit dem weiten Ausblick übers intensiv verbaute Birstal, also zeitlich programmgemäss. Schwarze, graue und weisse Wolken, vom Westwindwetter beunruhigt, und dazwischen das Blau des Himmels vervollständigte den oberen Teil des Bilds. Gemeinderat René Bircher, noch bis zu seinem Rücktritt Ende Jahr für Kultur in Biberstein zuständig, überbrachte uns Alten die behördliche Wertschätzung. Man kann so etwas immer brauchen.
 
Im Restaurant – und damit an windgeschützter Lage – setzte ich mich neben Hans-Rudolf Lippuner, der in aller Bescheidenheit gerade seinen 83. Geburtstag feierte; nur ganz in seiner Nähe erfuhr man davon. Er hatte 1953‒1982 die Musikgesellschaft Biberstein dirigiert und war während mehrerer Amtsperioden Mitglied des Gemeinderats (Exekutive), wovon die meiste Zeit als Gemeindeammann. Der Jubilar dirigierte die Gemeinde also gleich von 2 verschiedenen Positionen aus. Innerhalb der Aargauer Verwaltung in Aarau war er als Staatsweibel tätig. Er macht heute trotz seiner ruhigen, aufmerksamen Art einen vitalen Eindruck, ist geistig rege, kocht häufig für sich selber; nur an die Besorgung der Wäsche mag er nicht herangehen. Spaziergänge gehören zu seinem Tagesprogramm.
 
Im Restaurant, dem ehemaligen Wirtschaftsgut der Festung Dorneck, wurden Kartoffelsalat und andere Salate sowie Scheiben von heissem Beinschinken aufgetragen; die Kopfsalatblätter, bar jeder Sauce, waren im Naturzustand.
 
Damit auch die eigenen Beine noch etwas vom Ausflug hatten, eilte ich zur Ruine Dorneck – alte, meist restaurierte Steinmauern, vom Laub einiger Baumäste für anspruchsvollere Fotobedürfnisse durchdrungen. Sie war als Festung erbaut, als der Verteidigungswille noch intakt war. Das aussichtsreiche Bollwerk ganz oben ist vom zentral gelegenen Hof aus über eine Eisentreppe erreichbar. Unter mir lag wie eine Oase für Nachdenkliche am Randes des Siedlungsbreis das Goetheanum (1925/28 errichtet), Beton gewordene organische Formen. Das harte Material wurde aus Brandschutzgründen gewählt, nachdem der Vorgängerbau abgebrannt war. In der Umgebung des von Rudolf Steiner inspirierten Anthroposophen-Tempels befinden sich viele Wohnhäuser, die ebenfalls nach anthroposophischen Vorstellungen angenehme Rundungen aufweisen und in denen ich immer die Form eines Gehirns zu erkennen glaube.
 
Die Fahrt nach Biberstein absolvierten wir auf der Autobahn bis Frick und dann über die Saalhöhe. Der Komfort im ruhig dahingleitenden Car verführte mich zum Dösen, Kräfte für einen Schreibabend sammelnd. Als Pensionist hat man selbstverständlich um 18 Uhr noch lange nicht Feierabend.
 
„Warum haben Sie das geschrieben?“ hätte der am 18.09.2013 verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Rancki gefragt, eine banale, wie auch entscheidende Frage. Antwort: Um eine Erinnerung an einen netten Nachmittag festzuhalten und ein kleines Zeitdokument zu schaffen ... ohne jeden literarischen Anspruch.
 
 
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