Textatelier
BLOG vom: 20.02.2015

Der Ton macht die Musik! Direkte, indirekte Aufforderung

 
Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
Es kommt vor, dass ich die Idee für einen Text im Kopf habe, mich an den Computer setze und schreibe. Danach überarbeite ich den Text, korrigiere das eine oder das andere, bis ich zufrieden bin. Dann schliesse ich die Arbeit ab und sende den Text ein. Oftmals, wenn ich Monate später den Text noch einmal lese, finde ich ihn immer noch gelungen.
 
Manchmal verläuft dieser Prozess ganz anders. Ich habe eine Idee, schreibe den Text, schlafe darüber. Am nächsten Tag zweifle ich, bin unzufrieden, finde ihn nicht mehr logisch, weder im Aufbau noch im Ablauf.
 
Bei dem heutigen Blog erging es mir genau so. Ich habe eine Situation erfunden. Das Thema des Blogs beinhaltet einen Kommunikationsprozess. Ich will aufzeigen, wie unterschiedlich ein Sachverhalt sprachlich umgesetzt werden kann.
 
Meine erste Idee, dem kommunikativen Akt „Leben einzuhauchen“, war, ihn zwischen einem Zuwanderer, Migrant genannt, und einem deutschen Nachbarn stattfinden zu lassen. Dieser Antagonist – der Protagonist ist der deutsche Eingeborene – bleibt stumm, nur der Protagonist äussert sich.
 
Beim erneuten Lesen des Textes fiel mir auf, dass es keinen triftigen Grund gibt, den Antagonisten einen Migranten sein zu lassen, der sich mit einer deutschen Hausordnung nicht auskennt. Die geschilderte Situation ist nämlich unabhängig von der Nationalität der Beteiligten denkbar. Sie hätte auch zwischen einer jungen Person, die ihre erste eigene Wohnung bezieht und einem Nachbarn, der schon länger in diesem Haus lebt, stattfinden können.
 
Der Anlass der Kommunikation, ein Fahrrad, ist auch nicht zwingend. Es könnte ebenso ein Kinderwagen, ein Rollstuhl oder ein Kinderspielzeug sein; auch das ist völlig beliebig für den Ablauf des Monologs.
 
Bei der Sprache spielt neben den Sprachkenntnissen, dem Wortschatz und der Grammatik auch eine wichtige Rolle, wie die Äusserungen in Sprache gekleidet werden. Denn der Tonfall, die Stimmlage, die Formulierung und die Gestik und Mimik sind entscheidend. „Der Ton macht die Musik!“ heisst das Sprichwort, und damit ist auch gemeint, welcher Teil im Satz betont wird und wie.
 
Wissenschaftler erforschen unter dem Oberbegriff Pragmatik den Bereich Soziolinguistik. Gegenstand der Sprechakttheorie sind die Intentionen des Sprechers beim Sprechen.
 
Ich gehe von einer Begebenheit aus, die vermutlich nicht selten ist: Ein neuer Mieter ist in eine Wohnung in ein Mehrfamilienhaus gezogen. Der Vermieter hat ihm einen Mietvertrag und die Hausordnung zugesandt. Den Vertrag hat er unterschrieben, retour geschickt und das Blatt mit der Hausordnung zu den Papieren gelegt. Der neue Mieter besitzt ein Fahrrad. Es ist ein wertvoller Besitz, den er bewahren möchte, und er hat Angst davor, dass das Rad gestohlen wird. Deshalb stellt er es im Hausflur vor seine Wohnungstür, weil in der Wohnung kein Platz dafür ist.
 
Das ist die Ausgangssituation. Es klingelt/klopft an der Tür, ein Nachbar steht davor. Dem Nachbarn stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, dem neuen Mieter klar zu machen, dass das nicht erlaubt ist: 
Stellen Sie das Fahrrad weg!
Seien Sie so freundlich und stellen Sie das Fahrrad in den Fahrradkeller!
Stellen Sie doch das Fahrrad in den Keller!
Ich fordere Sie auf, ich verlange, dass Sie das Fahrrad sofort wegstellen!
Sie stellen das Fahrrad weg!
Sie stellen unverzüglich das Fahrrad in den Keller!
He, Sie stellen das Fahrrad in den Keller!
Sie stellen bitte das Fahrrad in den Keller!
Sie stellen gefälligst das Fahrrad in den Keller!
Sie stellen garantiert das Fahrrad in den Keller, sonst!
Sie werden das Fahrrad in den Keller stellen!
Sie müssen das Fahrrad in den Keller stellen!
Sie sollen das Fahrrad in den Keller stellen!
Sie haben das Fahrrad in den Keller zu stellen!
Sie möchten das Fahrrad in den Keller stellen!
Sie wollen bitte das Fahrrad in den Keller stellen!
Das Fahrrad muss in den Keller gestellt werden!
Das Fahrrad ist in den Keller zu stellen!
Das Fahrrad gehört in den Keller gestellt!
Das Fahrrad kommt in den Keller!
In einer Stunde ist das Fahrrad in den Keller oder nach draussen gestellt!
Wir wollen (doch) das Fahrrad in den Keller stellen!
Wir stellen das Fahrrad in den Keller, nicht wahr?
In den Keller mit dem Fahrrad!
Dass Sie das Fahrrad ja in den Keller stellen!
Fahrrad nicht hier, ab in den Keller, sofort! 
Die Sätze können eine freundliche Aufforderung, eine Bitte, ein höflicher Wunsch, ein nachdrücklicher Befehl, empört oder unmissverständlich sein. Der Tonfall (die Intonation) drückt dies ebenso aus wie die mit der Aussage gezeigte Gestik und Mimik.
 
Manch ein neuer Mitbewohner wird sich dabei direkt angegriffen, beleidigt oder auch verstört fühlen. Vielleicht, so könnte die angesprochene Person denken, könnte man so eine Forderung auch indirekt äussern:
 
Können Sie denn nicht das Fahrrad in den Keller stellen?
Wollen Sie nicht das Fahrrad in den Keller stellen?
Warum stellen Sie nicht einfach das Fahrrad in den Keller?
Es wundert mich, warum Sie das Fahrrad nicht in den Keller stellen?
Sie können doch das Fahrrad in den Keller stellen.
Das Fahrrad sollte in den Keller gestellt werden.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das Fahrrad in den Keller stellen würden.
Ich empfehle Ihnen, das Fahrrad in den Keller zu stellen.
Würden Sie so freundlich sein und das Fahrrad in den Keller stellen? 
 
Der Unterschied zu oben ist erkennbar, bei indirekten Sprechakten wird auf Formen der Höflichkeit Rücksicht genommen und ein gewisser Handlungsspielraum eingeräumt. Sie scheinen unverbindlicher zu sein, aber es kommt darauf an, welche soziokulturellen Erfahrungen der Angesprochene mitbringt.
 
Nach Paul Watzlawik kann man „nicht nicht“ kommunizieren, das gilt für verbale und nonverbale Kommunikation. Immer geht es um die Wechselwirkung zwischen den Akteuren der Kommunikationssituation. Im obigen Fall ist es möglich, dass der Angesprochene nicht antwortet, sich also nicht verbal äussert. Je nach Temperament wird der Protagonist seine Äusserung mit der ihm eigenen Lautstärke und Tonlage mit Gestik und Mimik von sich geben.
 
Kommunikation findet zwischen einem Sender und einem Empfänger statt. Im Verlaufe eines Gespräches wechseln die 2 Positionen. Auch eine nonverbale Reaktion macht aus einem Empfänger einer Nachricht einen Sender.
 
Die Art und Weise der Kommunikation kann je nach soziokulturellem Hintergrund Irritationen und Gefühle auslösen. Hierbei ist durchaus zu berücksichtigen, ob die angesprochene Person mit der den Deutschen oft eigene „direkte Art“ vertraut ist oder nicht. Die Bandbreite der Reaktion kann von Schuldgefühlen, Einschüchterung über Ärger bis zu Empörung wegen des vermeintlichen „Anschisses“ gehen, verbunden mit der Meinung, dass dem sich beschwerenden Nachbarn so ein Verhalten nicht zustehe, da dieser keinerlei Regelkompetenz hat, wie sie etwa ein Hausmeister oder der Vermieter besitzt.
 
Ich kenne viele deutsche Mitbürger, die sich nicht in so eine Gedanken- und Empfindungswelt einfühlen können. Sie haben oft die Auffassung, dass die Hausordnung, Regeln und Gesetze einzuhalten sind, und man müsse „den Anfängen wehren.“
 
Ein interessanter Aspekt wäre es, Sie, der Leser/die Leserin, überlegen sich, wie Sie selbst in diesem Fall reagieren würden. Prüfen Sie einmal, und denken Sie an Ihr eigenes Naturell (lässig, ruhig, verständnisvoll, leicht aufbrausend, schnell wütend, ordnungsliebend, erziehend, usw.), welche der obigen Aussagen in dieser Situation Ihnen über die Lippen kommen würde. Oder würden Sie das Gespräch ganz anders gestalten? Was meinen Sie?
 
 
Quelle
Lühr, Rosemarie: „Neuhochdeutsch“, 5. Auflage, UTB für Wissenschaft, W. Fink Verlag, München 1996.
 
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