Textatelier
BLOG vom: 12.11.2015

Helmut Schmidt, deutscher Jahrhundertstaatsmann

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH


Helmut Schmidt, geboren am Vorabend von Heiligabend, dem 23. Dezember 1918, verstorben an Schillers Geburtstag, dem 10. November 2015, war, wenn einer, ein deutscher Jahrhundertstaatsmann.

„Die SPD ist der Untergang Deutschlands“ – Der Satz von Konrad Adenauer, nebst „Keine Experimente“ einer der Wahlkampf-Slogans der Bundestagswahl von 1957, trug dem schlitzohrigen Staatsmann zum einzigen Mal in der Geschichte der Bundesrepublik die absolute Mehrheit für eine Regierungspartei ein. An jenem Wahlsonntag eroberte der Abgeordnete Helmut Schmidt im Wahlkreis VIII von Hamburg sein Direktmandat. Er hielt es generationenlang inne. Mit einer Vertrauenswürdigkeit, die in der Geschichte der deutschen Politik, so weit von Demokratie die Rede sein kann, einzigartig ist. Helmut Schmidt war nicht der einzige, der bewies, dass die SPD nicht der Untergang Deutschlands ist. Man darf sich ruhig daran erinnern, dass die Partei schon 1933 die einzige noch relevante Kraft war, die sich gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz wandte, während damals sogar die Zentristen und Liberale dem Diktator offenbar eine „Chance“ geben wollten. Was daraus geworden ist, wissen wir. Heldenkult ist aber auch im Fall von Helmut Schmidt nicht das Richtige, wiewohl seine Verdienste um die deutsche Demokratie fast einzigartig sind.

In meinem Nachruf in der Schweizer „Weltwoche“ vom 12. November weise ich darauf hin, dass es mutmasslich nur eine Frage der Zeit sein wird, bis auch über Helmut Schmidt eine noch ausstehende kritische Biographie erscheint. Die bisherigen Versuche in dieser Richtung können als gescheitert bezeichnet werden, weil weder herkömmlicher „Antifaschismus“ genügt noch das für Schmidts Generation übliche Frisieren der eigenen Biographie. Selber kannte ich – über die Reinhold-Schneider-Gesellschaft e.V. – noch den hochumstrittenen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger noch persönlich. Dass dieser als Marinerichter für die Hinrichtung eines desertierten Marinesoldaten verantwortlich war, wiewohl ihm nach damaliger Gesetzeslage gar kein anderes Urteil möglich war, hat seinem Ruf und seinem Bild in der Geschichte nachhaltig geschadet. Bei Oberleutnant Helmut Schmitt, der als Zwanzigjähriger befohlener Zeuge beim Volksgerichtshof war (u.a. wurde nach diesem Prozess der Widerstandskämpfer Gördeler gehängt), kann man nicht von einer vergleichbaren Ausgangslage ausgehen. Eher schon ist es mit dem Fall des berühmten Schriftstellers Ernst Jünger zu vergleichen, der in Paris befohlener Zeuge der Hinrichtung eines deutschen Deserteurs war, welche er dann mit einer in der deutschen Literatur einzigartigen Akribie beschrieben hat. Diese Genauigkeit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist auf diese Art und Weise bei Helmut Schmidt nicht überliefert. Bedeutsam bleibt, in der Kriegsgefangenschaft, seine Begegnung mit dem religiösen Sozialisten Hans Bohnenkamp, der seinerseits mal Hoffnungen in Adolf Hitler gesetzt hatte. Sozialdemokrat wurde Helmut Schmidt insofern nicht durch Jugend und Erziehung, sondern durch schmerzliche historische Erfahrung. Dadurch ist er allerdings für Millionen deutscher Linkswähler repräsentativer geworden als diejenigen, die von Anfang an und quasi schon immer „dagegen“ gewesen waren.

Von Bedeutung bleibt, dass Helmut Schmidt sich von linkem moralistischem Zungenschlag immer frei gehalten hat. Innerhalb der deutschen Sozialdemokratie galt er, wie der Katholik und Abtreibungsgegner Georg Leber und der Philosoph Hermann Lübbe (der sich später von der Sozialdemokratie abwandte), als sogenannter „Kanalarbeiter“. Das heisst fast ausschliesslich pragmatisch orientiert, nicht zuletzt für die Teilhabe breitester Volkskreise am neuen deutschen Wohlstand des Wirtschaftswunders engagiert. Helmut Schmidt blieb auch stets ein entschiedener Anhänger der deutschen Wiederbewaffnung, wurde deswegen sogar mal vorübergehend als „Militarist“ aus dem Parteivorstand der SPD ausgeschlossen. Philosophisch orientierte er sich nie nach dem Marxismus, sondern zum Beispiel nach dem kritischen Rationalismus eines Karl Popper und Hans Albert. Bei einer noch wenige Jahre zurückliegenden Diskussion mit dem bekannten Philosophen der Frankfurter Schule, Jürgen Habermas, über den Euro, wandte sich Helmut Schmidt gegen universalisierende Allgemeinplätze zugunsten konkreter Kritik an konkreten politischen Versagern, welche nicht mit Geld umgehen können. So war er nun halt, der grosse Helmut Schmidt.

Unten mein Nachruf in der „Weltwoche“ mit dem ursprünglichen Originaltitel. Deren Herausgeber Roger Köppel hatte Helmut Schmidt vor rund zehn Jahren ein letztes Mal interviewt. Meinen eigenen Vorsatz, mit Helmut Schmidt in Sachen seines Hamburger Freundes und Förderers Alfred Toepfer (1894 – 1993) ins Gespräch zu kommen, dies im Zusammenhang mit meinen Forschungen über den Bauerndichter Alfred Huggenberger, konnte ich leider nicht mehr umsetzen.

 

Helmut Schmidt – Prototyp des „anständigen Deutschen“

„Politik als Beruf“ ist nicht dasselbe wie Berufspolitiker. Max Weber, von dem die erste Formel stammt, meint damit die Praxis der Verantwortung. Als Altbundeskanzler unterhielt sich Helmut Schmidt in London zu diesem Thema mit dem Jahrhundertdenker Karl Popper. Der einstige Hamburger Innensenator, bekannt geworden durch Krisenmanagement bei der Sturmflut von 1962, zitierte Hamburgs Stadtverfassung von 1952: „Jedermann ist verpflichtet, zum Wohl des Ganzen beizutragen.“ Der Satz behagte Popper nicht. Es erinnerte ihn zu sehr an die „Volksgemeinschaft“. Er ergänzte: „Zur grossen Verantwortung gehört, dass einer bereit ist, in seinem Leben Verantwortung für alle anderen zu übernehmen.“

Dieser Herausforderung sah Helmut Schmidt sich 1977 gegenüber, dem Schicksalsjahr seiner Kanzlerschaft. Im Zusammenhang mit der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer und der Entsetzung einer entführten Lufthansa-Maschine in Mogadischu kam es ihm zu, Härte zu demonstrieren, den sogenannten Ernstfall zu bestehen. Das Resultat des Handelns gab ihm erst noch recht. Der Wahlsieg 1980 gegen den bayrischen Volkstribunen Franz Josef Strauss war zum wenigsten der Sieg von Helmut Schmidts zerstrittener Partei. Er war zur Zeit der Thatcher und Reagan schlicht der glaubwürdigste Politiker der Epoche und musste niemandem beweisen, kein Weichei zu sein. Noch über Jahrzehnte nach seinem durch ein Misstrauensvotum erzwungenen Rücktritt blieb er, trotz der Erfolge eines Helmut Kohl, eine politische Autorität, wie es sie in Deutschland seit dem Tod von Altbundespräsident Theodor Heuss wohl nicht mehr gegeben hat. Über alles gesehen ein der Welt vorzeigbares Beispiel für einen anständigen Deutschen.

Das wurde nicht allenthalben so gesehen. Israels Ministerpräsident Menachem Begin erinnerte zum Beispiel daran, dass Helmut Schmidt im August 1944 bei einem Prozess vor dem Volksgerichtshof, gegen Widerstandskämpfer des 20. Juli, zum Zeugen aufgeboten worden sei. War das nicht fast ähnlich wie einst Ernst Jünger, der in Paris als befohlener Zeuge die Hinrichtung eines Deserteurs zwar nicht kommandierte, aber protokollierte?

Es ist bis heute nicht gelungen, dem einstigen Oberleutnant Schmidt den Pauschalverdacht einer vergleichsweise bescheidenen Karriere eines jungen Wehrmachtsoffiziers  als dunklen Fleck in seiner Biographie anzuhängen. Aus der Hitlerjugend soll er früh rausgeflogen sein. Was er als Soldat und später als Politiker schätzte, so eine kritisch sein wollende Biographin, waren „klare Strukturen und Ordnung, Kameradschaft, Fürsorge für den Schwächeren als Einstehen für den anderen. Das sind Werte, die Helmut Schmidt im Innersten prägten.“

Das Gespräch mit Popper brachte es an den Tag: Helmut Schmidt war ein Mann der praktischen Vernunft. Als er dann mal mit Jürgen Habermas, dem Doyen der Frankfurter Schule, über den Euro philosophierte, war ihm nichts so zuwider wie moralische Allgemeinplätze. Einige Regierungen innerhalb der Europäischen Union könnten schlicht nicht mit Geld umgehen, monierte er. So einfach ist das.

Ein historisches Forschungsprojekt für eine Biographie von Helmut Schmidt wäre eine Erkundung seiner jahrzehntelangen Freundschaft mit dem deutschen Alfred Nobel, dem Hamburger Grosskaufmann, Kulturförderer und Naturschützer Alfred Toepfer, auf den Helmut Schmidt 1993 die Grabrede hielt. Naturschutzprojekte waren zumal ein Anliegen von Schmidts Jugendfreundin und Ehefrau Loki, die ihm 2010 im Tode vorausgegangen ist. Zu Alfred Toepfer gibt es einen Schweizer Konnex: Im Oktober 1942 nahm Thurgaus Bauernschriftsteller, wie zuvor der Komponist Otmar Schoeck, in Konstanz den Erwin-von Steinbach-Preis an,  und zwar aus den Händen des späteren Schmidt-Intimus Toepfer. Weil Huggenberger diesen angeblichen Nazi- Preis angenommen hatte, wurde ein Neigezug der SBB nicht nach Huggenberger benannt. Toepfer hat während 60 Jahren mit seiner Stiftung „Freiherr von Stein“ bürgerliche Kulturförderung betrieben, dazu grosse Naturschutzprojekte gefördert.

Wie auch immer: Helmut Schmidt verstand es, in seinem heimatlichen Hamburg die richtigen Beziehungen zu pflegen. Er blieb seinem Freund Toepfer offenbar auch dann noch treu, da dies aus Gründen der politischen Korrektheit nicht mehr empfehlenswert war. In einem Roman von Fontane lesen wir: „Er war ein Mann von Charakter, ein Mann von Prinzipien.“ Ich möchte meinerseits hoffen, dass das Lob von Helmut Schmidt, zu seinem Hinschied jetzt allenthalben vernehmbar, nicht schon bald durch billige Entlarvungsversuche abgelöst wird. Helmut Schmidt war ein Mensch und Politiker, der wie wenige das Ethos von Max Weber gelebt hat: Politik ist praktizierte Verantwortung. „Wer Visionen hat“, fügte der einstige Kanzler hinzu, „soll zum Arzt gehen.“ Dabei blieb Helmut Schmidt fast stets ein ethisch orientierter Politiker: Ethik ist die Theorie der Praxis vernünftigen Handelns. Sich darüber zu besinnen, sogar mit einer Zigarette im Mund, wird sich auch ohne Helmut Schmidt fernerhin lohnen.

 
 
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