Textatelier
BLOG vom: 24.12.2015

Vaterschaft: Eine verworrene Familiengeschichte

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London


Dieser Text betrifft ein Ehepaar, beide über siebzig Jahre alt, seit nahezu 50 Jahre miteinander verheiratet, und stützt sich auf folgende Aussage des Ehemanns ab:

Ich habe einen Sohn und eine Tochter, die inzwischen über vierzig Jahre alt geworden sind. Unser Sohn wurde acht Monate nach unserer Heirat geboren.

Wie die Kinder heranwuchsen, bemerkte ich, dass, sehr im Gegensatz zu meiner Tochter, mein Sohn mir ganz und gar nicht glich, weder im Aussehen noch in Wesenszügen. Dies fiel mir mehr und mehr auf, wie er älter wurde und sich antagonistisch der Familie gegenüber benahm. Wir waren erleichtert, als er das Elternhaus verliess und in Amerika sesshaft wurde. Ich unterstützte ihn weiterhin bis auf den heutigen Tag, wiewohl er inzwischen 48 Jahre alt geworden ist. Aber ich konnte ihn nicht in mein Herz schliessen.

Nach der Geburt unserer Tochter wurde meine Frau zum dritten Mal schwanger. Zwei Kinder reichten uns aus. So wurde ihre Schwangerschaft unterbrochen. Es war ein Knabe.

Vor zwei Jahren bot sich mir die Möglichkeit, einen DNA-Test zu veranlassen. Meine Vermutung, dass ich nicht sein biologischer Vater war, wurde bestätigt. Ich verschwieg diesen Befund während eines Jahres meiner Frau gegenüber, ehe ich sie mit dieser Tatsache konfrontierte. Sie reagierte gefasst, als ob sie insgeheim diese Entwicklung erwartet hätte. Sie gestand mir, dass sie eine Woche vor unserer Heirat eine Nacht mit einem Mann verbracht hatte. Sie wusste nicht einmal, wer er war und wie er hiess. Meine Frau rang mir den Schwur ab, dieses Geheimnis zwischen uns zu wahren. Sollte ich den Schwur brechen, drohte sie mit Selbstmord. So schwur ich absolutes Stillschweigen.

Ihr Geständnis hat mich zutiefst aufgewühlt. Meine Frau war die Liebe meines Lebens. Meine Gesundheit war angeschlagen, und ich erkrankte an Krebs. Wir teilten nicht länger das Ehebett. Einige Bruchstücke der einstigen Liebe sind trotzdem erhalten geblieben. Ich konnte mich nicht von ihr trennen. Doch mein Kummer hat sich tief in mir eingefressen. Ich weiss nicht, was ich tun soll.”

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Ich kannte ihn seit unserer Jugendzeit in lockerer Freundschaft verbunden. Ich war als Trauzeuge an ihrer Hochzeit zugegen. Doch seit Jahren trafen wir einander immer seltener und gingen unsere eigenen Wege. Vor wenigen Tagen telefonierte er mir: Er möchte mit mir ganz privat ein persönliches Dilemma besprechen. Auf Rat des Eheberaters, im Beisein seiner Frau, wurde ihm angeraten, seinen Schwur zu brechen, sagte er, nachdem er mir den Hintergrund seines Konflikts geschildert hatte. Widerwillig hatte seine Frau eingewilligt, ihn von seinem Schwur zu entbinden. “Schliesslich sind die Kinder alt genug geworden, um mit der Wahrheit fertig zu werden”, begründete der Eheberater seinen Vorschlag. “Was immer die Auswirkungen sind, sollten sie beide ihr Stillschweigen brechen, und die Wahrheit ihren Kindern gegenüber enthüllen. Damit werdet ihr euch vom schwerwiegenden seelischen Druck nach und nach befreien.”

Somit ist jetzt meiner Frau und mir freigestellt, diesen Weg in unserem letzten Lebensabschnitt zu begehen”, seufzte er kummervoll, “und ich weiss noch immer nicht, was ich tun soll.”

Seine “Beichte” hatte mich arg verwirrt. Ausweichend sagte ich: “Ich kann und will dich nicht mit Gemeinplätzen abspeisen. Du musst dich aus eigener Kraft aus dieser Tragik befreien. Die Zeit wird dir helfen. Deine Wunde, und auch die deiner Gemahlin, werden vernarben, ob ihr beisammen bleibt oder nicht.”

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Nachtrag: Ist diese Geschichte eines Familienvaters glaubwürdig? Ich bezweifle es instinktiv. Er hatte sich von seinem Sohn ohne triftigen Grund entfremdet und ihm seine Liebe versagt. Kein Wunder, dass sein Sohn unter diesem Mangel an Liebe litt und aufsässig wurde. Was trieb diesen Vater hinter dem Rücken seiner Frau zum DNA-Test? Wer schläft schon eine Woche vor der Hochzeit mit einem wildfremden Mann? Vielleicht äussert sich ein Leser dazu.

Hinweis: Diese Geschichte wurde als Leserzuschrift dem Daily Telegraph vom 12.12.2015 entnommen. Wurde der “Briefkastenonkel” (Graham Norton) von dieser Leserzuschrift düpiert?

 


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