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BLOG vom: 15.01.2016

Orthorexie: Krankhaftes Gesund-Essen

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D

 

Es gibt Menschen, die alles, was Ernährungsexperten so von sich geben, gierig aufnehmen und die Empfehlungen auch umsetzen. In meinem Blog vom 29.01.2008 „Ernährungsstudien-Wahn: Verwirrung bei den Verbrauchern“ wies ich auf diverse Studien hin und brachte das Beispiel vom „Gesundesser“  Max. Er nahm die in den Publikationsorganen veröffentlichten Studien über Ernährung begierig auf, stellte seine Ernährung jedes Mal um und hatte ein ruhiges Gewissen, da er sich nach seiner Ansicht jetzt gesünder ernährte. Bei ihm war der Fanatismus nicht so stark ausgeprägt, dass das krankhaft wäre.

Aber es gibt noch eine andere Kategorie von Menschen, bei denen ein eigenes Krankheitsbild bzw. eine Vorstufe zur Magersucht entsteht. Diese Menschen betreiben aus eigenem Antrieb heraus selbst Studien und sind dann felsenfest überzeugt sind, dass auch Gesundes krank machen kann. Der Wunsch nach gesundem Essen kann zur Besessenheit werden.

Sie kennen vielleicht in ihrem Bekanntenkreis eine solche Person. Wie diese vorgehen, soll in einem Beispiel näher beleuchtet werden.

Eine Frau (35) verabscheut Pizzas, Pommes, Süssigkeiten und Fettiges. Sie ist schon einige Zeit auf der Suche nach einer gesunden Ernährung. Zu Beginn ihrer intensiven Suche nach Gesundem  informierte sie sich welches Essen gesund ist. Sie ist überzeugt, dass Vollwertkost, dann vegetarische und vegane Kost das Gesündeste ist. Dann hört sie, dass die so gewählten Ernährungsweisen doch nicht alle wichtigen Nährstoffe enthalten. Sie sucht krampfhaft weiter. Sie achtet besonders darauf, dass die ausgesuchten Lebensmittel kein Gluten, keine Lactose und keine Zusatzstoffe enthalten. Diese Stoffe sind in ihren Augen ungesund, obwohl sie nicht unter einer Nahrungsmittelunverträglichkeit leidet. Als sie las, man könne durch eine Superdiät abnehmen und ein Wohlgefühl erreichen, probiert sie diese natürlich aus, obwohl sie kein Übergewicht hat. Diese Superdiät besteht oft nur aus Obst und grüne Smoothies. Diese Diät enthält nicht alle lebensnotwendigen Stoffe.  Als sich das versprochene Wohlgefühl nicht einstellt, probiert sie eine andere Diät aus.

Die Frau verbringt viel Zeit damit, Nährwerttabellen zu studieren und die in ihrer Nahrung befindlichen Vitamine zu begutachten. Damit noch nicht genug. Sie ist besessen vom gesunden Essen und ist überzeugt, immer noch gesündere Lebensmittel zu bekommen. Sie sucht Geschäfte auf, die Bio-Lebensmittel anbieten, kauft nur dort ein. Sie ist fast krankhaft besorgt, nur gesunde Lebensmittel, die nicht krebs- und allergieauslösend und keine Schadstoffe enthalten, einzukaufen. Sie ist felsenfest überzeugt, nur gesundes Essen sich einzuverleiben.

Sie verabscheut auch einen Restaurantbesuch und nimmt keine Einladungen von Freunden und Bekannten mehr an. Sie ist überzeugt, dort bekäme sie nur ungesundes Essen.

Was sagen Fachleute dazu?
Mediziner sprechen von einer Orthorexie (aus dem Griechischen =  “richtig“ und „Begierde“, „Appetit“) bzw. Orthorexia nervosa. Es ist ein zwanghaftes Essen von gesunder Kost. Der Wunsch nach einem solchen Essen kann  zur Besessenheit führen.

Der Begriff wurde in Anlehnung an die Bezeichnung Anorexia nervosa (Magersucht) vom amerikanischen Alternativmediziner Steven Bratman im Oktober 1997 geprägt. Das Krankheitsbild beschrieb Bratman in seinem Buch „Health Food Junkies“. Nach seiner Ansicht handle es sich um eine handfeste Essstörung.

Auch die Wiener Ernährungswissenschaftlerin Ingrid Kiefer schrieb zu diesem Thema ein Buch („Besessen vom Essen“). Sie betonte, gesundes Essen sei vernünftig, „aber bei Orthorektikern geht das immer weiter. Irgendwann können sie nur noch Obst und Gemüse essen. Und zuletzt muss das Gemüse frisch geerntet werden.“

„Im Zuge der Lebensmittelskandale und der allgemeinen Unsicherheit in Sachen Ernährung hat die Zahl der Betroffenen in den vergangenen Jahren stark zugenommen“, sagte die Ärztin Susanne Dornhofer, Leiterin der Indikationsgruppe Essstörungen an der Schön Klinik Starnberger See.

„Man spricht immer dann von einer psychischen Störung, wenn sie das Alltagsleben der Betroffenen dominiert“, äusserte Cora Weber, Fachärztin für Psychosomatische Medizin an der Berliner Charité.

Die meisten Orthorektiker sind gebildet und zwischen 20 und 40 Jahre alt. Frauen sind nicht häufiger betroffen als Männer. Reinhard Pietrowsky, Professor für Psychologie an der Uni Düsseldorf, fand heraus, dass Vegetarier und Veganer häufiger betroffen sind als die Gesamtbevölkerung.

Wie häufig ist die Orthorexie? 1 bis 2 % der Bevölkerung zeigt ein entsprechendes Verhalten. 1 % verhält sich laut einer Studie, die  von der Psychologin Friederike Barthels durchgeführt wurde, extrem.

Folgen einer Orthorexie
Erstens könnte durch Unwissenheit ein Nährstoffmangel entstehen. Wichtige Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente, aber auch Enzyme, Aminosäuren, Kohlenhydrate und bestimmte Fettsäuren fehlen oder werden ungenügend aufgenommen. Auch herrscht unter den Betroffenen die Meinung, Fette und Kohlenhydrate wären ungesund. Sie realisieren nicht, dass der Mensch auch diese Stoffe braucht.

Die unter einer Orthorexie leidenden Personen isolieren sich zunehmend. Wird jedoch einmal eine angeblich ungesunde Kost aufgenommen, dann plagen sie Schuldgefühle.
Oft leiden die Betroffenen an Untergewicht. Auch die Hormonsituation verändert sich im Körper.

Dann kommen noch das Gefühl der Überlegenheit und ein Missionierungseifer dazu, um andere von ihrer gesunden Ernährung zu überzeugen.

Da die Orthorektiker es besser wissen, lehnen sie eine Beratung  und Behandlung ab. Sie sind so von ihrer Ernährung so überzeugt, dass Angehörige und Freunde kaum helfen können.
Dazu Reinhard Pietrowsky: „Man sollte den Betroffenen vorsichtig ermutigen, nicht so rigide zu sein und sich abwechslungsreicher zu ernähren. Wenn man eine vertrauensvolle Beziehung hat, sollte man die auffällige Beschäftigung mit dem Essen ruhig direkt ansprechen.“ Der Professor empfiehlt, dass sich die Betroffenen bei einer professionellen Beratungsstelle Hilfe holen.

Laut www.gesundheit.de müssen die Betroffenen lernen, sich auch wieder etwas zu „gönnen“, das einfach gut schmeckt. Sie müssen Gesundheitsaspekte und Nährwerte ausser Acht lassen. Ist die Gewichtsabnahme ausgeprägt, dann könnte eine Psychotherapie nötig werden.

Internet
www.gesundheit.de
https://de.wikipedia.org/wiki/Orthorexia_nervosa

Literatur
Lange, Antonia (dpa): „Wenn Gesundes krank macht“, „Badische Zeitung“ vom 29.12.2015.
Stoll, Angela: „Orthorexie: Krank durch gesundes Essen“, www.stuttgarter-nachrichten.de (Bericht vom 17.07.2013).
Orthorexia nervosa: „Besessen von gesunder Ernährung“, chirurgie-portal.de (15.06.2007).

 

Hinweis auf einige weitere Blogs zu Ernährungsfragen
07.09.2015: Gesünder essen – bewusster geniessen
03.07.2015: Fitbleiben: Gesundes Alter durch richtige Ernährung
29.01.2008: Ernährungsstudien-Wahn: Verwirrung bei den Verbrauchern
22.01.2008: Klonen für den Metzger: Essen aus Frankensteins Küche?
19.01.2008: Schutz der Dampfnudel: Eine bayerisch-pfälzische Fehde
12.12.2007: Liebliche Götterspeise: Honig wirkt besser als Medikamente
18.05.2007: Grausige Ess-/Tischsitten: Coca im Wein, Ketchup aufs Filet
04.05.2007: Das Rhabarberkompott: Delikatesse mit erwünschten Folgen
29.08.2006: Brunegg: Langsam essen, Wasser trinken nicht vergessen
01.08.2006: Lust auf Kalorien-Bomben: Die Rückkehr der Monster-Burger
22.05.2006: Erfand wirklich ein Eunuch die Schwarzwälder Kirschtorte?
29.04.2006: Spargelzeit – nach Art der Elsässer und der Wilden
07.03.2006: Junkfood und Bärenhunger: US-Bären lieben Industriefrass
24.02.2006: Gentechnik: Wie lange gibt es noch den reinen Honig?
11.02.2006: Bemerkenswert: Selbst schlaue Tiere lehnen Genfood ab
09.02.2006: Die Zwangsverfütterung von Gentech-Schrott aus den USA
20.01.2006: Biofachhandel-Zukunft: Discounter bauen Biomarken aus
19.01.2006: Mögen wir von Schurkennahrungsmitteln verschont bleiben!
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