Textatelier
BLOG vom: 06.07.2007

Die Beschleunigung, Markenzeichen eines neuen Zeitalters

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich
 
Sonntagabend. Ich spaziere mit Primo am Limmatufer. Es hat kurze Zeit geregnet. Die Luft ist rein. Die Spazierenden sind grösstenteils heimgegangen und somit ist hier eine gewisse Ruhe eingekehrt. Hin und wieder klingeln nervöse Velofahrer, damit wir ihnen Platz machen. Sie tun es unverfroren, denn hier wäre allgemeines Fahrverbot.
 
Dann überholt uns eine junge Frau im Laufschritt. Sie joggt und stösst gleichzeitig ihren Säugling im Kinderwagen vor sich her. Sie irritiert mich, scheint sich an diesem Auslauf gar nicht zu freuen. Keuchend spult sie irgendein Programm ab, das gar nicht ihrem Naturell entspricht.
 
Kurz bevor wir unseren Rundgang beenden, kreuzt sich der Weg dieser jungen Mutter mit dem unsrigen nochmals. Auch sie ist im Kreis herumgegangen. Gegenläufig. Noch immer im Trab, noch immer keuchend.
 
Wie erlebt ein Säugling eine solche Tour? Als Tortur? Er wird geschüttelt, weil der Weg einen Kiesbelag trägt. Er wird den ungewöhnlich kurzen Atem der Mutter wahrnehmen. Tut ihm das gut? Passt er sich vielleicht an diesen an?
 
Als ich am Sonntag zuvor im Kino einen Bildhauer in einem Dokumentarfilm über sein Werk sprechen hörte, muss etwas ähnlich abgelaufen sein. Dieser Künstler, offensichtlich ein starker Raucher, atmete schwer. Er redete und rauchte, dass mir bang wurde. Ich musste ein Bonbon zu Hilfe nehmen, um zum eigenen ruhigen Atmen zurückzufinden. Daran denke ich jetzt. Ging es diesem kleinen Kind auch so, dass sein Atem von aussen beeinflusst und in eine Hektik mitgenommen wurde?
 
Wir sind im Zeitalter der grossen Beschleunigung angelangt. Alles geht schnell und muss noch schneller gehen. Gleichgültig, ob es uns zuträglich ist. Die Züge fahren jetzt mit höheren Geschwindigkeiten und erreichen Ziele rascher. Die Fahrgäste werden durch Stollen und Tunnels geführt, gehen aber schönster Landschaftsbilder verlustig. Sie können dösen oder schlafen wie der Säugling. Sie sehen wenig und jene Orte, die kurz auftauchen, zeigen sich nur als Aufwasch. Seitdem ich die Beschriftungen der Bahnstationen wegen der schnelleren Durchfahrt nicht mehr lesen kann, macht mir das Reisen weniger Freude. Zudem wird mir in den Neigezügen schlecht.
 
Ich habe etwas verloren. Der Säugling aber baut sein Leben erst auf. Möglich ist, dass er bestens gerüstet ist, weil ihn seine Mutter von klein auf mit übersetzter Geschwindigkeit vertraut gemacht hat. Oder war das, was ich beobachtet habe, vielleicht nur eine Ausnahmesituation, und rannte die Mutter nur deshalb, weil sie einen Frust loswerden wollte?
 
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