Textatelier
BLOG vom: 21.09.2007

Suhrental: Wie man das Warten auf den Storch überbrückt

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
„Ihr Störche, oh kommet, oh kommet doch all“, singen viele Naturschützer im aargauischen Suhren- und Uerketal – so stelle ich es mir jedenfalls vor. Sie helfen dem Glück etwas nach, indem sie zum Beispiel einen Schwarzerlenstamm entasten oder alte Telefonstangen mit einem alten Wagenrad darauf in die weitgehend ausgeräumte Landschaft stellen. Aber Gesänge und Wagenräder auf Hochsitzen genügen noch nicht, die angelockten Störche brauchen auch eine behagliche Umgebung, wo sie sich ernähren und friedlich paaren können. Sie schätzen etwa Gelbbauchunken, Frösche und Ringelnattern als Delikatessen. Und diese wiederum sind auf Schlickflächen angewiesen, die gegebenenfalls von suhlenden Wollschweinen angelegt werden, je grauslicher desto besser. In braunen Pfützen wühlt der Storch mit grosser Lust.
 
Früher waren die Störche im Suhrental heimisch; Auerhühner und Rebhühner und ähnliche Delikatessen flogen umher, und es gab Frösche in derartigen Massen, dass sie ebenfalls als Speise für die Menschen und auch als Schweinefutter eingesetzt wurden. Doch dann entzog die durch Meliorationen amtlich intensiv geförderte Intensivlandwirtschaft den meisten Tier- und Pflanzenarten aus den Feuchtgebieten den Lebensraum. Entsprechend sensationell ist heute die Begegnung mit einer Sumpfschafgarbe, die in einer Kiesgrube überleben konnte. Jetzt muss versucht werden, die am reinen Hochertragsdenken orientierten Dummheiten aus der Vergangenheit rückgängig zu machen. Bewässerte Wiesen sind für die Störche ein Segen, auch gegen Bewässerungen durch eine Überschwemmung haben sie nichts einzuwenden, gegen Dauerregen in kalten Jahreszeiten aber schon.
 
So wird denn die Horstinfrastruktur mit Vorliebe dort installiert, wo Wiesenbächlein und/oder Feuchtwiesen vorhanden sind, oder aber solche Bächlein werden aus den Röhren hervorgeholt, was man vermehrt ohnehin tun sollte. Die Storchenpaare, die ja einen Bezug zu unserer eigenen Fortpflanzung haben, sind treuherzige Lebewesen, gegenüber ihren Partnern als auch ihren Horsten; das Scheidungsgewerbe wäre bei ihnen zum Konkurs verurteilt. Dabei sind sie selbstbewusst, wählen ihren Horststandort selber aus, es darf auch einmal ein Kirchturm oder eine Hochspannungsleitung sein; die Sache mit dem Elektrosmog ist offenbar noch nicht bis zu ihnen vorgedrungen. Auch 2 Reiswellen („Holzbürdeli“) auf einem Hausdach können gegebenenfalls den Nistzweck erfüllen.
 
Flaggschifftierart Storch
Bei einem Horst am neu geöffneten Reitnauerbach erteilte der Biologe, Artenspezialist und Bezirkslehrer Martin Bolliger eine Lektion in Storchenkunde für Fortgeschrittene; er hat das Suhrentaler Storchenprojekt im beinahe vergriffenen Buch „Konsumwelt mit Naturanschluss“ aus der Verlag Textatelier.com GmbH, 2006 erschienen, ausführlich beschrieben. Bolliger, der auch als Bereichsleiter Naturschutz im Museum Naturama Aarau tätig ist, sagte, an sich sei der Storch, den er als „Flaggschiff-Tierart“ bezeichnete und der 1950 in der Schweiz ausgestorben war, heute in seinem Bestand nicht mehr bedroht. In der Schweiz wachse die Population mit etwa 3 % pro Jahr, das Resultat geglückter Wiederansiedlungen wie z. B. an der Aare in Altreu SO. Inzwischen dürfte es landesweit etwa 200 Paare geben; solche finden sich im Aargau in Brittnau AG, Muri/Murimoos AG und Möhlin. Allerdings gab es in diesem Frühjahr bedeutende Rückschläge in den Bestandesgrössen; bei intensivem Dauerregen erfrieren oder verhungern die Störche. Ihre Durchzugsvillen bieten zu wenig Schutz gegen permanentes Hudelwetter.
 
Im unteren Teil des Suhrentals ist die Suhre, die viel Wasser aus dem Sempachersee (er wurde gerade abgelassen) brachte, zu einem geradlinigen (Mundart: „pfiiiffegraade“) Kanal verkommen; mir schien es schäbig, dass dem Bach in diesem breiten Suhrental, dem sie schliesslich den Namen gegeben hat, nur das absolute Minimum an Platz zugestanden worden ist. Immerhin wurden mächtige Störsteine ins Bachbett gelegt, die dem Wasser zu etwas Bewegung verhelfen sollen; sie waren der grossen Wasserführung wegen im Moment nicht einsehbar. Von den für die Uferverbauung verwendeten Steine zeigte sich Bolliger wenig begeistert; sie sind zu gross, gebrochen (statt abgeschliffen), wie sie von Natur aus wären – da ist bei der Gewässerkanalisierung eigentlich alles schief gelaufen, was schief laufen konnte.
 
Mit Gerhard Ammann im Felde
Ich erzähle diese Storchengeschichte an dieser Stelle, weil ich auf Samstagnachmittag, 8. September 2007, zusammen mit etwa 30 weiteren Personen Gelegenheit hatte, an einer von Dr. Gerhard Ammann, CH-5000 Aarau, inszenierten Privat-Exkursion teilzunehmen. Seiner Lebtag hat sich dieser bekannte Geografielehrer bemüht, sein reiches erdgeschichtliches und ökologisches Wissen unters Volk zu tragen, auf dass es keime und sich neue naturschützerische Zellen bilden würden. Eigentlich ist das eine subversive Tätigkeit mit dem eindeutigen Ziel, den galoppierenden Naturzerfall, der aus Ungebildetheit und der damit einhergehenden Liederlichkeit herauswächst, zu bremsen. Und trotz des fortschreitenden Neoliberalismus, der kaum noch Sinn für natürliche Zusammenhänge hat und selbst vor der Klimazerstörung nicht zurückschreckt, ist Gerhard Ammann noch immer auf freiem Fuss, was er nutzt, um kräftig Gegensteuer gegen Verwüstungen durch den Menschen zu geben. Die eingeebnete Suhrentaler Landschaft bezeichnete er aus ökologischer Sicht als Wüste, und er gab seinem aufmerksamen Publikum einen Denkanstoss: „Von welcher Blume soll ein Sommervogel hier Nahrung finden?“
 
Aufgrund der Michaelis-Karte von 1849 und des heute möglichen Augenscheins am nördlichen Dorfrand von Schöftland erläuterte Ammann die Entwicklung der Dörfer: An ihren Aussenseiten standen die Bauernhöfe. Dies hatte zur Folge, dass es einen sanften Übergang vom Dorf in die offene Landschaft hinaus gab. Die Höfe waren von alten Bäumen umgeben, und an sie schlossen sich im Kulturland die Hochstammobstbäume an (Martin Bolliger zeigte ein rares Exemplar eines Entfelder Jägerapfels herum). In der jüngeren Zeit verwandelten sich laut Ammanns bildkräftiger Sprache „die Dörfer zu neuen Festungen: Die Wohnblöcke wirken wie eine Mauer. Und das wird hier (am Nordrand von Schöftland) folglich so weitergehen. Es hat noch Platz für neue Bauzonen bis nach Hirschthal“.
 
Erinnerungen an die Erdgeschichte
So erkundeten und bewerteten wir die Suhrentaler Landschaft und warteten insgeheim natürlich auch auf die Ankunft der Störche, erfuhren dann aber, dass das noch jahrelang dauern könne, bis sie ankommen und sich niederlassen werden. Also war es naheliegend, die unbestimmte Zeitdauer des geduldigen Abwartens mit weiteren Fortbildungsanstrengungen zu überbrücken.
 
Und so orientierte Gerhard Ammann seine Gäste über die eiszeitliche Entstehung der Suhrentaler Landschaft zwischen Triengen LU und Aarau. Insbesondere ging es ihm diesmal um die würmeiszeitliche Endmoränenlandschaft des Maximalstandes vor 24 000 Jahren bei Staffelbach/Kirchleerau (Bezirk Zofingen). Wir bewunderten die sanft geschwungene, Ruhe und beschauliche Zufriedenheit verbreitende Landschaft zwischen den Seitenmoränen, auf der einmal das Zungenende eines Gletschers lag. Und der Gletscher gab dieser Landschaft ihr leicht wellenförmiges Aussehen.
 
In der Regel werden Zungenbecken aus Respekt vor der Eiszeitgeschichte nie überbaut; doch hier haben die Behörden, wohl wider besseres Wissen, den Bau eines Industriebetriebs („Claviag“) ermöglicht. Ammann resigniert: „Passiert ist passiert.“ Bei Staffelbach standen wir anschliessend dort, wo einst das riesige Gletschertor war, und Martin Bolliger vernahm an dieser Stelle das sanfte Dauerklingeln einer Zwitscherheuschrecke, der gefrässigsten unter den Laubheuschrecken. Ich hatte das Gefühl eines minimen Tinnitusanfalls ... Mein Wahrnehmungsvermögen hatte bisher eindeutig zu wenig Zwitscherheuschreck-Erfahrung, wie ich eingestehe.
 
Die Gletschergeschichte erklärt auch, weshalb alle Findlinge im Jura aus dem Wallis stammen und eine runde Form haben, wie ich unverhohlen zugeben muss.
 
Kiesgruben-Dynamik erwünscht
Gute Einblicke ins Erdinnere gewährleisten insbesondere die Kiesgruben, diese Orte mit Eiszeitablagerungen, und sie sind auch wertvolle Lebensräume. Die Kiesgrubenbesitzer haben aus dieser Erkenntnis eine Tugend gemacht und tun jetzt so, dass sie das Kies allein aus naturschützerischen Gründen abtragen würden – praktizierter Umweltschutz. Und der Biologe Bolliger bestätigte den Wert von Kiesgruben durchaus, besonders wenn sie noch in Betrieb sind.
 
Die Gesellschaft begab sich also hinauf zur Kies- und Sandgrube Hubel bei Schöftland, einem Betrieb der Ortsbürgergemeinde Schöftland, vorbei an ganzen Ansammlungen von Drüsigem Springkraut. In diesem Kies-Eldorado aus der 2. Eiszeit (Mindel) auf 600 m Höhe weisen die Kieswände verschiedene Grau- und Brauntöne auf, die laut Gerhard Ammann ebenfalls zur Natur gehören – es muss nicht immer Flaschengrün sein. Martin Bolliger seinerseits bezeichnete den rohen Kies mit wenig Vegetation als wichtigen trockenwarmen Standort mit der höchsten Bedeutung für die Natur während des Abbaus. Dann sind hier die Sukzessionen (Abfolge der Pflanzen- und Tiergesellschaften) zu erleben, und in den Wasseransammlungen bilden sich Laichmöglichkeiten. In der Schweiz darf der Kies in den Talböden nicht bis zum Grundwasser hinunter abgebaut werden – in Deutschland schon; man spricht dort dann von Baggerseen.
 
Angesichts des Drüsigen Springkrauts (Impatiens glandulifera) aus dem Himalaja holte Bolliger zu einem Exkurs über die Neophyten (Neuzuzüger aus aller Welt) aus. Zu diesen Neuankömmlingen aus der Fremde gehört der Asiatische Marienkäfer, der in belgischen Gewächshäusern eingesetzt wurde und sich dann frei machte, den Maul-und-Klauenseuche-Viren, die ein schlampiges britisches Forschungslabor verlassen konnten, ähnlich. Der gefrässige Marienkäfer sollte sich auf Blattläuse spezialisieren, doch frisst er sozusagen alles, was kleiner ist als er, auch alle kleinen Käfer. Er richtet also ein unheimliches Schlamassel an. Und die gräulich-grauenhafte Spanische Wegschnecke, eine aggressive Fressmaschine, die mit Topfpflanzen importiert wurde, haben wir auch schon. Das Globalisierungselend macht eben auch vor der Natur nicht Halt.
 
Nach all den aufrüttelnden Wechselbädern zwischen Zuversicht und Elend brauchten Expeditionsteilnehmer und -leiter eine Stärkung aus hofeigener Bioproduktion, die im Bauernhof Galegge in Suhr unter der riesigen Platane bereit stand: Herrlich duftendes, währschaftes Schwarzbrot, Ziegenkäse, Gemüsestreifen, Süssmost und Weisswein aus Herznach (hoffentlich mit einem besonderen Eisengehalt). Nach allem, was sich im Galegge-Innenhof abspielte, würde ich auch uns Menschen zu den gefrässigen Lebewesen zählen. Betrachtet man das ökologische Geschehen schon im Zusammenhang, kommt man um den Einbezug des Verhaltens dieser Spezies nicht herum. Vielleicht könnte man sie, erdgeschichtlich betrachtet, ebenfalls zu den Neophyten zählen.
 
Ich werde den lieben Gerhard Ammann, der einen immer auf abwegige Gedanken bringt, bei nächster Gelegenheit fragen, ob er dem vielleicht zustimmen könne.
 
Hinweis auf weitere Ausflugsberichte und Blogs zur Reisethematik von Walter Hess
(Reproduktionsfähige Fotos zu all diesen Beschreibungen können beim Textatelier.com bezogen werden.)
 
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