Textatelier
BLOG vom: 26.10.2007

Halbinsel Au: Kanzel im Zürichsee ist immer noch im Schuss

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Ich habe es immer als etwas gewagt empfunden, die Halbinsel Au als Halbinsel zu bezeichnen. Man könnte wahrscheinlich mit gleicher Berechtigung von einer Ausbuchtung, einer nach aussen gewölbten Form (annähernd ein Rechteck) sprechen. Aber „Halbinsel“ tönt zugegebenermassen schon besser. Und die Au erfüllt die Voraussetzungen dafür durchaus: Sie ist ein Gebiet, das von 3 Seiten von Wasser umschlossen ist. Allerdings erwartet man von dem, was eine richtige Halbinsel sein soll, eine schmale Verbindung zum Festland. Und bei der Au ist diese an der längsten Seite des Dreiecks und alles andere als schmal.
 
Aber lassen wir die Wortklauberei: Ein Besuch auf der Au, die zur Gemeinde Wädenswil ZH gehört, ist eine angenehme Sache mit Erholungswert. Sie hat Insel- und Hügelqualitäten, ist ein Kraftort hoch 2. Ich war am Sonntag, 14. Oktober 2007, erstmals nach 21 Jahren wieder dort. Zur ausschliesslich positiven Stimmung trug auch die personelle Umgebung bei: Hans Erni (82) aus Wädenswil, der frühere Leiter der Migros-Filialen Wädenswil und Horgen ZH, hatte uns eingeladen, und auch für uns war es ein Bedürfnis, ihn wieder einmal zu sehen. Vor 5 Jahren hatte er uns in Biberstein besucht. Seine leider vor Jahren an Hepatitis C verstorbene Frau Vreni, geborene Fässler, war eine jüngere Schwester meiner Mutter; Vreni war der Keim zu dieser tödlichen Krankheit zusammen mit einer Bluttransfusion übertragen worden. Sie trug ihn 20 Jahre in sich, bis die Krankheit ausbrach und das Leben zu früh beendete (2002). Seither besorgt Hans den Haushalt selber, reinigt nach einem eigenen Programm täglich einen oder zwei Räume, kocht und wäscht – nur das Bügeln ist seine Sache nicht. Von Arbeitsplatz in der Küche aus hat er einen weiten Blick über den Zürichsee nach Männedorf und Stäfa, und sogar den Säntis kann er bei klarer Luft sehen. An unserem Besuchstag war der Hochnebel um die Mittagszeit gemächlich dabei, sich in ein Nichts aufzulösen.
 
Hans und Vreni gehörten zu meinen beliebtesten Verwandten, weil sie es wagten, in ihrem Denken und Handeln eigene Wege zu gehen, vorgegebene Muster zu überwinden. Sie waren liebenswürdig und kritisch zugleich, weltoffen, und wiederum staunte ich über Hans’ erstaunliches reiches Wissen, das wie ein Sturzbach aus ihm sprudelt. Wir hatten ihm unter anderem frische Baumnüsse aus unserer Eigenproduktion mitgebracht, und sie lösten sofort Informationen über Walnusssorten aus, wobei er besonders auf die Vorzüge der Grenobler Walnuss hinwies; die US-Nüsse behagen ihm aus geschmacklichen Gründen weniger. Und selbstverständlich war auch der Aargau ein ergiebiges Diskussionsthema, hatte Hans doch im Raume Mellingen/Bremgarten den grössten Teil seiner Jugend verbracht (sein Vater betrieb eine Bäckerei in Zürich), und weil er mit den Aargauern Militärdienst leistete; hat er viel Zuneigung zu diesem Kanton.
 
Hans verändert sich wenig; sein ebenmässiges Gesicht, das immer Zuversicht bei einem Anflug von Verschmitztheit ausstrahlt, ist vom Leben gereift. Seine Bewegungen sind etwas langsamer geworden; aber sein Gehirn sprüht vor Lebhaftigkeit wie seit je. Beim Mittagessen im Landgasthof „Halbinsel Au“ (www.halbinselau.ch) erklärte er uns die Wädenswiler Attraktionen im Allgemeinen und die Au im Besonderen. Als stilisierte Zeichnung kam diese auch auf der Etikette unserer Weinflasche vor (ein Clevner 2006, „Halbinsel Au“ von der Hochschule Wädenswil, wie sich die ehemalige, 1890 gegründete Eidgenössische Forschungsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau jetzt nennen darf). Im Vordergrund sind die Au-Rebberge, dahinter der blaue Zürichsee und hinter diesem wiederum die Goldküste, die noch vollkommen unüberbaut ist ... (Etikettenschwindel). Ein Dampfschiff bläst schwarzen Rauch dekorativ in den etwas wolkenverhangenen Etikettenhimmel.
 
Die Hochschule Wädenswil, die schon zahlreiche Trauben-, Erdbeer-, Apfel-, Kirschen-, Quitten-, Fenchel- und sogar Hortensiensorten gezüchtet hat, betreibt am seeabgewandten Südhang der Halbinsel einen ausgedehnten Rebbau (www.weinbau.ch), und die gekennzeichneten, nummerierten Pfähle weisen darauf hin, dass da eine eifrige Forschung betrieben wird – bei B4 15 wird z. B. kurz vor der Blüte ausgelaubt. Offensichtlich wird mit verschiedenen Sorten wie Blauer Heinrich, Heunisch dreifarbig, Roter Heunisch, Blauer Alexandriner und Completer experimentiert. Zu einem ganzen oder halben Halbinsel-Rundgang war Hans nicht mehr zu bewegen, weil er sein Herz etwas schonen muss und ihm besonders das Aufwärtsgehen Mühe macht. Der Zürichsee ist 409 m, und die Au steigt bis auf 450 m an. Wir brachten ihn in sein schönes Heim oben im Wädenswiler MMM, verabschiedeten uns und unternahmen dann ohne ihn einen Rundgang, wie er es uns empfohlen hatte.
 
Beim Gasthof Au sind viele Parkplätze vorhanden. Und es gibt daneben noch den Landisaal von 1939 mit den gebogenen Fenstern. Der stapelbare Landistuhl mit der gelochten Rücklehne und Sitzfläche, der auf der 1-Fr.-Briefmarke abgebildet ist, wurde übrigens in Wädenswil erfunden und produziert. Er ist ein Werk des Designers Hans Coray (1906–1991); die P. & W. Blattmann, Metallwarenfabrik Wädenswil (MEWA) produzierte den perforierten Stuhl.
 
Rundgang
Vom Au-Gipfel stiegen wir auf der Nordseite des Au-Hügels auf einer Zementtreppe zwischen den Reben hinunter und spazierten auf einem kleinen Strässchen am Fusse der Reben westwärts, wo sich der Ausee mit den Seerosen, ein Naturschutzgebiet, befindet. Dieser See, von mächtigen Bäumen umgeben, befindet sich innerhalb der Halbinsel. Das Wasser zwischen Ästen mit eingefärbtem Laub führte zu entzückenden Bildern, welche die Betriebsamkeit dieser Zürichseeuferpartie mit den Überbauungen, Strassen und Eisenbahnlinien auf dem nahen Festland vergessen machten.
 
Nach ein paar Schritten erweitern sich Parkanlagen, und zwischen den Baumriesen – früher soll die Halbinsel von Eichenwäldern überwachsen gewesen sein – taucht das Schloss auf, das 1650 im Auftrag von Söldnergeneral Johann Rudolf Werdmüller erbaut worden ist. Es dient seit 1992 als „Tagungszentrum Schloss Au“ unter der Obhut des Pestalozzianums Zürich und damit der Erziehungsdirektion.
 
Die Au-Geschichte
Und hier beginnt die Geschichte der Au (Owe) lebendig zu werden. Die rund einen halben Quadratkilometer grosse Halbinsel wurde 1316 als Lehnshof der Johanniterkomturei (Haus Bubikon) erstmals erwähnt und war bis 1835 eine Zürcher Staatsdomäne.
 
Das Landgut Au (als Lehe) wurde 1650 von Hans Rudolf Werdmüller erworben, mit dem die Geschichte der Halbinsel eng verbunden ist. Er liess eine Villa im venezianischen Stil errichten.
 
Werdmüller, 1614 im „Seidenhof“ in Zürich geboren, heiratete im Alter von 19 Jahren Anna Reinhard, die damals 32 war. Er wurde von seinem Stiefvater Kaspar Schmid in seinen kriegerischen Neigungen gefördert, wie im Band 2 der „Kunstdenkmäler des Kantons Zürich“ von Hermann Fietz (1943) nachzulesen ist. Werdmüllers Laufbahn führte ihn in die schwedische Armee, in den Dienst der Republik Venedig sowie auch in schweizerische, französische und kaiserliche Dienste. 1650 kommandierte er noch ein Regiment aus Zürchern und Bernern, das für Venedig nach Dalmatien entsandt worden war. In den Jahren 1651–1657 lebte Werdmüller in seiner Heimat, nachdem er, wie erwähnt, das Gut zur Au gekauft und seinen Sitz gebaut hatte. Dort konnte er seinen Liebhabereien freien Lauf lassen: Gartenbau, Landwirtschaft, Fischerei, und zudem betrieb er eine Schmiedewerkstätte – eine Vorstufe zur heutigen Hochschule Wädenswil. Der Binnensee und der Rebberg auf der Südseite gehörten ebenfalls zum umfangreichen Gut, das 1678 von seinem Sohn Johann Rudolf Werdmüller verkauft wurde.
 
Werdmüller war eine schillernde Persönlichkeit, die in Conrad Ferdinand Meyers Novelle „Der Schuss von der Kanzel“ die Hauptrolle spielt. Den Wertmüller (diesmal mit t) beschrieb Meyer als „eine Brennnessel, die keiner ungestochen berührt“. Und sogar die Sprache verunstaltete dieser Mann mit der scharfen Habichtsnase und dem stechenden Kinn im Gesicht ...: „Der Wertmüller bringt die hochdeutschen, fremdländischen Wörter ins Land, der Staatsverräter!“ – also sprach der Pfannenstiel. Was er wohl zu den im Deutsch zunehmend seuchenartig verbreiteten Amerikanismen heute sagen würde?
 
Die Au kam noch zu weiteren literarischen Ehren: Der deutsche Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) hatte ihr 1750 einen Besuch abgestattet und verewigte sie in seiner „Ode an den Zürichsee“. Zu den berühmten Bewohnern des Landguts gehörte auch die dort geborene Autorin Mentona Moser (1874–1971): „Ich habe gelebt“ (Buchtitel mit Au-Schilderungen). 1887 hatte ihre Mutter, Fanny Moser-Sulzer, Freiin von Sulzer-Wart, die damals 39-jährige Witwe des Schaffhauser Grosskaufmanns Heinrich Moser, das vernachlässigte Gut gekauft und es renovieren lassen. Sie galt als eine der reichsten Damen Europas. Sie machte ihre Residenz „Belle au bois dormant“ zu einem gesellschaftlichen Zentrum, in welchem Dichter, Philosophen, Wissenschaftler und Personen aus Handel und Industrie verkehrten.
 
1917 ging das Landgut in den Besitz von Oberst Hans von Schulthess-Bodmer über. Dieser neue Eigentümer liess das alte Werdmüllerhaus abbrechen und 1928/29 durch eine neubarocke Villa mit verschiedenen Nebengebäuden ersetzen; als Architekt wirkte Johann A. Freytag.
 
Das Landgut gehört seit 1989 dem Kanton Zürich; die Erben des 1985 verstorbenen Eric Alex von Schulthess, dem Sohn des Schlosserbauers, übergaben die Liegenschaft dem Kanton und damit der Öffentlichkeit, ebenso einen Teil der 26 ha umfassenden Liegenschaft. So leuchtete über der Au immer ein guter Stern: Schon 1911 gründeten Wädenswiler Industrielle das Au-Konsortium. Dieses kaufte den mittleren Teil des Au-Hügels zusammen mit dem Gasthaus und verhinderte so, dass die idyllische Halbinsel überbaut wurde. Sie sollte der Öffentlichkeit als Ausflugsort zur Verfügung stehen, und so ist es bis heute geblieben.
 
Spazierweg
Wir genossen die Parkatmosphäre und die wärmende Sonne; aus unsichtbaren Lautsprechern ertönte dezente Musik: Blasinstrumente und Dudelsäcke sorgten für eine akustische Begleitung. Auf einem Bänklein nahmen wir das Licht auf und lenkten den Blick auf den See. Nebenan stritt eine jüngere Dame in italienischer Sprache darüber, ob es sich lohne, ihn für nur 3 Tage in sein Heimatland zu begleiten. Sie war dagegen. Hier war es ja auch schön.
 
Wir setzten unsere Exkursion an der Nordseite der Insel fort, wo ein Natursträsschen, vorbei an Nagelfluhfelsen und Höhlen auf der einen und einem sandigen, baumbestandenen Ufer auf der anderen Seite, zur Schiffsanlegestelle führt. Die Halbinsel kann von Zürich oder Rapperswil aus auf dem Wasserweg erreicht werden. Beim Landeplatz badeten 3 Fischer ihre Köder; nur Eglis gingen nicht an die Schnur – wovon sollten sie in diesem sauberen Wasser auch leben? Wenn ich richtig informiert bin, wohnt noch ein Berufsfischer auf der Au.
 
Von hier aus erreicht man auf einem steil ansteigenden Waldweg wieder den Kulminationspunkt. Früher gab es in der „oberen Au“ einen 27 Hektaren grossen Eichenwald, der während Jahrhunderten das Holz für die Palisaden und Festungswerke der Stadt Zürich lieferte – und sogar für die Schiffe der zürcherischen Kriegsflotte diente das wertvolle Holz.
 
Wir wollten noch schnell ins Weinbaumuseum hereinschauen – doch es war soeben (um 16 Uhr) geschlossen worden. Gleichwohl waren wir mit dem Erlebten rundum zufrieden. Es war weit mehr, als wir erwartet hatten. Diese Kanzel namens „Au“, die in den Zürichsee hinaus ragt, ist offensichtlich nach wie vor im Schuss.
 
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Reproduktionsfähige Fotos zu all diesen Beschreibungen können beim Textatelier.com bezogen werden.
 
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