Textatelier
BLOG vom: 08.12.2007

Post: Die Mitarbeit in der Briefzustellung beflügelte mich

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich
 
Heute fehlte der „Tages-Anzeiger“ in unserem Briefkasten. An seiner Stelle lag die „Neue Zürcher Zeitung“. Eine Verwechslung, die ich gut nachvollziehen kann. Abonnierte Zeitungen und neu auch abonnierte Wochenblätter ohne aufgedruckte Adresse zuzustellen, ist eine anspruchsvolle Arbeit.
 
Meine mehrjährigen Erfahrungen als „Postaushelferin“ (Zustellung der Briefpost am Samstag) spiegeln sich in diesem Verständnis.
 
Für einen Rückblick habe ich mein Tagebuch von 1983 hervorgeholt. Dort ist meine erste, noch von der Vorgängerin begleitete Tour beschrieben. Damals brauchten wir noch Schlüssel, um die Briefkästen innerhalb eines Hauseingangs zu bedienen. Neu waren aber die als Code verschlüsselten Namen auf dem Tableau der Hausglocken. Ein Druck auf das richtige Wort – und die Haustür öffnete sich. Heute müssen die Briefkästen aussen angebracht sein, was die Arbeit wesentlich vereinfacht.
 
Frau K., die mich einführte, beeindruckte mich. Sie verteilte die Briefe in einem erschreckenden Tempo. Da, dort, hier, unten, oben, rechts. Ein kurzer Blick auf eine Anschrift und schon hob sich der Arm in die richtige Richtung. Ihre Arbeit pulsierte und die Briefkästen schepperten in ihrem persönlichen Takt. Schon im 2. Haus übergab sie mir den entsprechenden Bund. Was Frau K. verinnerlicht hatte, fehlte mir aber noch. Zwar gründlich, aber noch zu langsam, versuchte ich, die Adressaten zu finden und die Bürde loszuwerden. Im 3. Haus übernahm sie dann selbst wieder das Zepter, und ich ging neben ihr her. Ihre vielfältigen Hinweise, worauf ich ganz speziell achten müsse, kamen locker daher. Konnte ich das alles behalten? Würde ich überhaupt den Weg mit seinen vielen Abzweigungen wieder erkennen? Ob ich dann noch daran denke, dass der Zugang zu den Briefkästen einmal sogar durch eine Metzgerei und an einem andern Ort durch ein Restaurant führe? Auf unserem gemeinsamen Weg grüsste Frau K. einige unserer Postkunden und stellte mich als Nachfolgerin vor. Mich machte sie auch auf schwierige Kunden aufmerksam. Die hagere Frau dort, höre das Gras wachsen und jener Mann telefoniere regelmässig dem Chef, weil er immer etwas auszusetzen habe.
 
Auf halber Tour war dann unser Handwagen leer, unsere Arbeit aber noch nicht beendet. Es wartete ein deponierter Postsack, dessen Inhalt wir umladen und auch noch verteilen mussten. Wichtig war, dass die einzelnen, nummerierten Pakete in richtiger Reihenfolge verstaut wurden. Nur so können die Pakete selber den weiteren Weg der Tour vorgeben.
 
Nach nur einmaliger Begleitung und doch in kurzer Zeit hatte ich die Aufgabe dann verinnerlicht, und meine Arme reagierten ebenso roboterhaft wie jene von Frau K., wenn ich eine Anschrift las. Und jedesmal, wenn ich den leeren Wagen in die Sihlpost zurückbrachte, freute ich mich, dass jetzt wieder viele wichtige Papiere an ihren Zielen angekommen waren.
 
Gastarbeiter warteten immer schon vor ihrer Haustür auf die Post aus der Heimat. Manchmal musste ich ihnen etwas Amtliches vorlesen, was sie nicht verstanden hatten und nach Möglichkeit erklären. Da leuchtete dann ein sonst verschlossenes Gesicht, wenn eine erwartete Mitteilung endlich angekommen war.
 
Und ich wurde beschenkt. Am Morgen brachte ich jeweils nicht nur die Post in die Metzgerei Gut. Ich gab auch meine Bestellung ab. Im Stoffsack befanden sich der Zettel mit meinen Wünschen und das Portemonnaie mit dem nötigen Geld. Wenn ich ihn auf dem Rückweg abholte, waren immer auch Zugaben darin. Oft hat die liebenswürdige Frau Gut eine Flasche warme Fleischbrühe hinein verpackt, in der ich dann zu Hause die zarten Leberknödel aufwärmen konnte. Die ganze Familie träumt noch von dieser echten Bouillon. Diese feine Metzgerei gibt es leider schon lange nicht mehr. Heute müssen wir in der Stadt an vielen Orten Fleisch in der Plastikfolie kaufen. Das widerstrebt mir immer noch.
 
Manchmal spüre ich ein bisschen Heimweh nach diesen Zeiten. Auch darum, weil mein Wesen gut zu den Postboten passt. Es ist eine Gemeinschaft eigenständiger Menschen, die sich gerne bewegen, selbständig arbeiten und nicht darüber jammern, wenn es regnet oder schneit. Unvergesslich ist mir der Moment, wenn um 8 Uhr die Glocke im Sortierraum klingelte. Das war das Zeichen, dass wir ausschwärmen konnten. Auch wer seine Tour schon vorher bereitgestellt hatte, musste warten, bis die letzten, manchmal verspäteten Zeitungen eingetroffen waren. Dann stürmten alle zum Lift, zwängten sich mit ihren Ladungen hinein, und sobald sich die Tür unten öffnete, spurteten sie davon. Viel schneller als ich es konnte.
 
Unterwegs durften wir die Einladung eines Wirts zu einem Kaffee annehmen. So informierte mich der für meine Tour zuständige Chef. Die Post schätze ein gutes Einvernehmen mit ihren Kunden. Die Gefahr, zu lange sitzen zu bleiben, kam nicht auf. Meine Tour z. B. wurde mit 3 Stunden à Fr. 16.-- entlöhnt. Vertrödelte ich die Zeit aus irgendwelchem Grund, blieb der Lohn doch der gleiche.
 
Anfänglich fühlte ich etwas Stress, hatte Angst, die heiligen Hallen der Sihlpost wären schon verschlossen, wenn ich endlich zurückkäme. Das passierte aber nie.
 
Als ich den Dienst kündigte, erinnerte mich der Chef an die PTT-Brosche, die uns als Aushilfspöstler auszeichnete. Ob ich das Depot von Fr. 5.--  zurückerhalten oder die Brosche behalten wolle. Er lachte, als ich mich für die Brosche entschied. Das habe er erwartet.
 
Jetzt habe ich bei den Akten meiner Aufzeichnungen auch noch den Ausweis für Postaushelfer gefunden. Primo beobachtete mich, hatte volles Verständnis für meine Rührung.
 
Da heisst es: „Der Inhaber dieses Ausweises ist berechtigt, sich zu postdienstlichen Verrichtungen in den Diensträumen des nachverzeichneten Amtes aufzuhalten.“ 
Mit Stempel der Briefausgabe und Telefon-Nummer.
 
In Zürich-Mülligen ist im November 2007 ein neues, gigantisches Sortierzentrum entstanden. Da habe ich keinen Zutritt mehr. Im ersten Quartal 2008 beginnt dann der Abbau der Sihlpost in Zürich. Wie immer sich jetzt die Verteilung abspielt, ihr letzter Dienstast ist nicht maschinell besetzt. Es sind Menschen, die uns die Post bringen. Weil niemand von uns perfekt ist, können sich Verwechslungen oder Verspätungen einstellen. Gerade auch in der strengen Weihnachtszeit. Für dieses Verständnis werbe ich, obwohl ich Perfektion grundsätzlich liebe und sie voraussetze.
 
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