Textatelier
BLOG vom: 23.04.2008

Schinznach-Bad: Wie Birrenlauf das Oberwasser verloren hat

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Die Gemeinde Schinznach-Bad (Bezirk Brugg AG) ist das Musterbeispiel für ein genau in Nord-Süd-Richtung verlaufendes Strassendorf. Wenn man dem Bericht „Schinznach-Bad – ein verkanntes Dorf?“ von Monika und Peter Rey (erschienen in den Brugger Neujahrsblättern 104, 1994, Seite 31) Glauben schenken darf, sagt man, diese Gemeinde habe keinen Dorfgeist, keinen Dorfkern, kein Dorfleben; sie sei ein Schlafdorf und könne keine Feste feiern. Im Verlaufe des erwähnten Texts wird dann, was auf den ersten Blick als negative Kritik erscheinen mag, ins Positive abgedreht: Das Strassendorf ist an einer guten Verkehrslage (schliesslich verläuft die SBB-Linie Aarau‒Brugg in geringer Entfernung parallel zur Kantonsstrasse).
 
Die Verkehrsnähe hat sich auch die Amag neben einem runden halben Dutzend weiterer Industrieunternehmen zunutze gemacht. Die Automobil- und Motoren AG (Amag) hat 1947 die alten Gebäude der Kalk- und Zementfabrik Knoblauch übernommen, die gegen die übermächtige Konkurrenz in Holderbank und Wildegg keine Chance hatte und aufgeben musste. Das Autounternehmen wurde ausgebaut und mutierte vom Automontagewerk zum Handelsunternehmen (Autovertrieb); die Montage der Valiant- und Plymouth-Autos wurde 1972 aufgegeben. Heute beschäftigt das Unternehmen, das Autos präsentiert, unterhält und verkauft, etwa 400 Personen. Mein seinerzeitiger, vor Stabilität strotzender Valiant, mit dem ich zur Zeit unseres Hausbaus schwere Steine, Steinplatten und Eichenbalken transportierte, war wahrscheinlich einer der letzten, der dort zusammengeschraubt worden war.
 
Wohin gehört das schlanke Dorf?
Die Nord-Süd-Richtung wird durch die etwas weiter westlich fliessende Aare in Schinznach-Bad klar vorgegeben. Da zieht sich also alles in die Länge. Entstanden ist ein schlankes, autofreundliches Dorf, das im Osten durch die Jurahöhen „Chestenberg“, eine Überschiebung im Faltenjura, und „Wülpelsberg“ etwas eingeengt wird. Sie bilden einen Wall zwischen dem Aaretal und dem Birrfeld, an den in Schinznach-Bad schöne Wohnquartiere angelagert sind.
 
Es bleibt die Frage, zu was für einer Region dieses Schinznach-Bad mit seinen 1250 Einwohnern denn überhaupt zu zählen sei. Als ich am 14. April 2008 wieder einmal dem Thermalbad zusteuerte, machte ich einen Abstecher hinauf zum Gemeindehaus, zu dem ein Wegweiser den Weg weist. Ich erkundigte mich bei einer netten Verwaltungsangestellten, Liliane Baldinger, nach Informationsmaterial und konnte die kleine Schrift „Die Nachlese 2007. Schinznach-Dorf“ für 15 CHF kaufen, von der es nur 400 Exemplare gibt; als Herausgeberin zeichnet die Einwohnergemeinde. In dieser Schrift brütet Gemeindeschreiber Hansueli Dürsteler nach einem lokalgeschichtlichen Exkurs über der Frage, wohin denn dieses Schinznach-Bad eigentlich gehöre, das heisst zu welcher Region.
 
Zuerst dachte er spontan ans Schenkenbergertal. So klar ist das mitnichten: Die Aare begrenzt das Schenkenbergertal (jenseits davon liegt z. B. Schinznach-Dorf, diese andere, eigenständige Gemeinde mit Namensverwandtschaft). Aber die Gemeinde Schinznach-Bad liegt diesseits (östlich) der Aare. Und damit gehört sie historisch eigentlich zum Eigenamt, also zum Kreis der Birrfeld-Gemeinden am Fusse des gerade jubilierenden Schlosses Habsburg. Kirchengeschichtlich besteht immerhin eine Verbindung zum Eigenamt; das mehrheitlich reformierte Schinznach-Bad gehört seit je zur Kirchgemeinde Birr, heute mit Pfarramt in Schinznach-Bad. Das wars dann mit den Eigenamt-Bezügen.
 
Gehört Schinznach-Bad nun zum Eigenamt oder nicht? Laut H. Dürsteler gibt es dorthin im Übrigen keine speziellen Verbindungen. Wie einerseits die Aare, so scheint anderseits auch der Jurahügel eine trennende Funktion zu haben, wie ich daraus schliesse. Und die gemeinsame Schiessanlage der Gemeinden Scherz (im Eigenamt) und Schinznach-Bad scheint nur eine ungenügende integrierende Kraft zu entfalten, bei allen Gemeinsamkeiten in Sachen Wehrhaftigkeit.
 
Gehört denn Schinznach-Bad eventuell eher zum nahen, nur etwa 3 km entfernten Brugg? Der Gemeindeschreiber tut diese Idee mit einem „wohl auch nicht“ ab. Zwar sei man durch den öffentlichen Verkehr und den Aarelauf an diesen nördlichen Nachbarn angebunden. Aber das wars dann – schon wieder. Südwärts liegt die Gemeinde Holderbank, die bereits zum Bezirk Lenzburg gehört. Früher gab es noch eine gemeinsame Zivilschutzorganisation, heute aber neben freundschaftlichen Beziehungen nur noch eine Notwasserleitung. Und Notwässerungen sind ja auch nicht eben an der Tagesordnung; solche Fäden erweisen sich für feste Bande als zu fadenscheinig.
 
Weil offenbar auch Gemeinden sozusagen soziale Wesen sind, kommt der Gemeindeschreiber nach all seinen Erwägungen zum Schluss, Schinznach-Bad gehöre halt doch zum „Tal“ (gemeint ist das linksufrige Schenkenbergertal), denn in keine andere Richtung gebe es nur annähernd so viele Verbindungen: So besuchen Oberstufenschüler aus Schinznach-Bad die Schulen drüben in Schinznach-Dorf und Veltheim; und man gehört zum Zivilstandskreis, zur Feuerwehr und zur Zivilschutzorganisation Schenkenbergertal und ist Vertragspartner der gemeinsamen Spitexorganisation (spitalexterne Krankenpflege). Eine 1970 erstellte Aarebrücke auf der Höhe von Schul- und Gemeindehaus, die gleich auch die Bahnlinie unter sich begräbt, machts möglich, eine doppelte Balkenbrücke mit Hohlkästen aus Spannbeton. Daneben warten das „Rössli“ und die Amag-Tankstelle auf Mobiles, das auftanken will.
 
Am Schluss fragt sich der kompetente Kanzlist noch, ob denn Schinznach-Bad ohne das Schenkenbergertal keine Zukunft habe oder ob es vielleicht gerade umgekehrt sei … Er überlässt die Antwort salomonisch der Zukunft.
 
Das junge Dorf und die Birnen
Die Vergangenheit von Schinznach-Bad ist klarer. Diese Gemeinde gibt es erst seit dem 1. Januar 1938. Doch war vorher dort nicht einfach ein grosses, alles verschlingendes schwarzes Loch, wie es die Astronomen beschreiben, oder eine mit Pech und Schwefel gefüllte Grube. Bis damals hiess die nämliche Gemeinde Birrenlauf. Aber weil in diesen Birrenlauf-Grenzen eben das Bad Schinznach mit seinem schön warmen Schwefelwasser war (es ist immer noch am gleichen Ort), trugen Bahnstation und Poststelle den bekannteren Namen Schinznach-Bad, das weniger berühmte Birrenlauf überlagernd, so dass es immer wieder zu Unklarheiten und Verwechslungen (vorab mit Schinznach-Dorf) kam. 1937 machten Einwohner- und Ortsbürgergemeinde deshalb klaren Tisch und passten den Namen an; der aargauische Grosse Rat segnete die Änderung in Schinznach-Bad ab. Schinznach (Dorf) änderte seinen bisher zusatzfreinen Namen gleichzeitig in Schinznach-Dorf ab und war mit der Welt zufrieden. Denn gegenüber einem Bad steht ein Dorf im Rebgebiet nicht zurück.
 
Der einstige Namensbestandteil „Birr“ bedeutet Birke und hat also nichts mit einer Birne zu tun, womit nichts gegen diese ehrenwerte Frucht gesagt sein soll. Sogar ins alte Birrenlauf-Wappen hatten sich 2 gelbe Birnen eingeschlichen; sie flankierten einen Fährmann mit einem Kahn, der einmal stehend, dann wieder sitzend oder in Begleitung eines weiteren Fährimanns dargestellt wurde, ein dynamisches Wappen also. Das wurde als „bireweich“ erachtet. Also musste ein garantiert birnenfreies Gemeindewappen auf den Laden, schon weil der Gemischte Chor und gerade auch die Schützengesellschaft eine neue Fahne anschaffen wollten. Ein kreativer Graphiker legte sich ins Zeug: Über den Aarewellen leuchten seither 2 gelbe Sterne und darüber ist eine gelbe Mondsichel in Rückenlage, vielleicht ein Hinweis auf den Ruheraum in Bad Schinznach, also im Heilbad. Ein Stimmbürger will darin allerdings einen Nussgipfel erkannt haben.
 
Das Dörfligeist-Manko
Die eingangs angesprochene Sache mit dem fehlenden Dorfgeist (Dörfligeist) bedeutet auch, dass es kaum Dorfklatsch gibt. Denn die Häuser von Schinznach-Bad stehen so weit auseinander, dass sich der Klatsch in den Zwischenräumen zu verlieren scheint, sich zumindest nur schwerfällig der Länge nach fortpflanzt. Dazu gibt es im Neujahrsblatt eine bezeichnende Anekdote: „Vor einigen Jahren wurde der damalige Zeigerchef der Schützengesellschaft in einen Verkehrsunfall verwickelt. Bis die Unglücksnachricht die Runde durchs Dorf gemacht hatte, war aus dem leichten ein tödlicher Unfall geworden. Bereits wurden sogar die ersten Kränze bestellt.“
 
Wie steht es mit der örtlichen Kultur? Allein schon die Erwähnung der Schützengesellschaft liefert den unumstösslichen Beweis, dass es durchaus Vereine gibt; zum Berichtszeitpunkt waren es ihrer 10. Und auf der aktuellen Gemeinde-Homepage www.schinznach-bad sind deren 18 aufgelistet.
 
Aber einen Dorfkern gibt es in dem von Industrie- und Gewerbebetrieben durchsetzten Dorf tatsächlich nicht. Wie soll sich an einem Faden ein Kern bilden? Und das (Thermal-)Bad Schinznach mit seiner 300-jährigen Tradition liegt ausserhalb des Dorfs (Richtung Brugg, an der Aare unten), es bildet einen eigenen Weiler, eine sprudelnde Quelle der Gesundheit und des gesundheitsorientierten Treibens. Darüber habe ich im vorangegangenen Bad-Schinznach-Blog berichtet. Beim Bad ist die grosse Rehabilitationsklinik aarReha, die wie das Heilbad 200 Arbeitskräfte beschäftigt und ebenfalls zu den Grossabnehmern von Beton aus dem nahen Wildegg gehört. Eine Schule für Physiotherapie ist dem Rehabilitations-Gebäudekomplex angegliedert.
 
Die Kuranlagen in der Aarenähe sind von einem Golfplatz und einem Park mit uralten Platanen, Eschen, Buchen mit Rindenschnitzereien wie Initialen und Daten, und anderen Bäumen begleitet. Unter der gepflegten Oberfläche sind Schotter, Mergel, mergeliger Gips und Dolomit. Oben kehren rote Ruhebänke dem Fluss die Rücklehne zu. Der Park zieht sich dem Aareuferweg entlang flussaufwärts, dem NOK-Stauwehr entgegen (10 Minuten). Auf dem schmalen Streifen zwischen Spazier- und Wanderweg sowie Aare sind Ansätze zu einer Naturlandschaft. Wer lieber Golfrasengrün hat, kann also nach Osten schauen, wer aber die Bedeutung von alten, verbogenen Bäumen, Sträuchern und herumliegenden Stämmen und Ästen kennt, wird nach Westen blicken und vielleicht durchs Geäst jenseits des Gewässers das untere Ende des Schenkenbergertals ausmachen. Es ist durchaus auch gestattet, beide Naturäusserungen zu geniessen: die gelenkte neben der urwüchsigen. In der Nähe der Tennisplätze steht das Restaurant Badstübli für durstige und hungrige Gäste offen.
 
In diesem Ex-Birrenlauf hat alles seinen Platz; doch die Natur hat, wie es scheint, eher den Kürzeren gezogen, obschon es sie noch gibt. Wenigstens der zarte Schwefelwasserstoffgeruch als ortstypische Naturäusserung, der das Strassendorf kaum je erreicht, dient als Symbol der Beständigkeit und des Wohlbefindens.
 
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