Textatelier
BLOG vom: 23.05.2008

Swatch-Zeitzeichen: Genug von den Börsenmachenschaften

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Vor einigen Jahren hatten wir das Gefühl, der Schweizer Uhrenindustrie schlage das letzte Stündchen: Die Elektronik verdrängte die Mechanik, auch die hochpräzise. Und dann (1983) trat der im Libanon aufgewachsene Nicolas G. Hayek (heute 80) auf den Plan. Er erfand zwar nicht die Swatch, wie man allenthalben lesen kann, sondern er erkannte das Potenzial der Erfindung der beiden jungen Ingenieure Elmar Mock und Jacques Müller, die eine einfach zu montierende und robuste Plastikuhr mit elektronischem Werk erfunden hatten. Hayeks grosse Idee war es, diese so genannte Swatch (= Swiss Watch) auf den Markt zu bringen, und das tat er mit grandiosem Erfolg.
 
Die Swatch wurde zum Kultobjekt, und viele Leute legten sich ganze Kollektionen davon zu. Die Uhr wurde schon 2006 nicht weniger als 333 Millionen Mal verkauft. Die Swatch-Group hatte damit auch die Mittel, die altehrwürdigen Uhrenmarken zu übernehmen – und auch diese Luxusprodukte gelangten zu einer neuen Blüte, eine Rückkehr zum Handwerklichen, zur hohen Uhrmacherkunst neben der Elektronik. Die Schweizer Uhrenindustrie ist gerettet und sogar in Hochform. Die inzwischen weltweit agierende Gruppe Swatch-Gruppe hat 2007 mehr als 2300 Stellen geschaffen, wovon über 1000 in der Schweiz, wo noch über 800 Stellen offen sind. Vor allem ist der Uhrmachermarkt vollkommen ausgetrocknet. Zudem werden etwa 300 Lehrlinge ausgebildet.
 
Ich habe noch nie eine Swatch besessen, sondern benütze und schätze meinen mechanischen „Omega Speedmaster Professional“, auf deren Rückseite der Pegasus (geflügeltes Pferd) herumfliegt, wahrscheinlich bis zum Mond; dieses Meisterstück leistet mir noch immer beste Dienste. Aber seit dem 21. Mai 2008 bin ich endlich zum Swatch-Uhr-Besitzer avanciert, weil ich erstmals an einer Generalversammlung der Swatch Group SA im Kongresshaus Biel teilgenommen habe. Als ich meine Einladungsdokumente vorwies, wurde mir unverhofft eine kleine Plastiktasche mit Prospekten und der Uhr in den Schweizer Nationalfarben (rot und weiss) in die Hand gedrückt. Diese modische Uhr steht vielleicht mit den Fussball-Europameisterschaften in Verbindung, dient aber auch als „Snowpass“, das heisst man kann an den dafür geeigneten Verkaufsstellen seinen Schnee- bzw. Skipass darauf laden. Das geht aus der Packungsbeilage hervor; wer nicht drauskommt, frage seinen Uhrmacher oder Uhrenhändler. Beide, Fussball und Skifahren, sind nicht ganz meine Welt, aber als zuverlässiger Zeitmesser dient diese mit vielen Schweizerkreuzchen verzierte Uhr, die Einblick in ihr Werk gibt, ja auch.
 
Dummerweise war ich erst wenige Minuten vor Generalversammlungsbeginn in Biel eingetroffen und musste noch warten, bis auf dem nahen Parkfeld beim Kongresshaus ein Platz frei wurde. So musste ich mit dem Einsitz im kleinen Saal Vorlieb nehmen, wohin die Versammlung übertragen wurde und wo der grosse Hayek bloss im Grossbild erschien – wohlgelaunt, kämpferisch. Seine gelichteten, weissen Haare ermöglichten immerhin noch einen Schleier um die braune Kopfhaut über dem weisen Gehirn. Unter buschigen Augebrauen schaute der Zeitmesser punkt 10.45 Uhr zum Volk der Zeitnehmer hervor, begrüsste uns auf Deutsch, feierte seine erneuten Geschäftserfolge 2007 auf Französisch und hoffte im Hinblick auf weitere Swatch-Generalversammlungen auf ein grösseres Kongresshaus.
 
Vater Hayek sprach mit Blick aufs Geschäftsjahr 2007 von „Resultats superlativs“, sieht positive Perspektiven trotz Dollarzerfall: eine starke, solide Position. Sie ist stabil wie eine Swatch. Nur von den Börsenmachenschaften (Turbulenzen wie Spekulationsfieber, Panikverkäufe und Manipulationen) hat er offensichtlich genug; er liebäugelt mit einem Going-private, einem Abschied von der Börse. Doch ist laut dem Firmengründer keine Umwandlung der Swatch-Gruppe zum reinen Familienunternehmen geplant; allerdings sind „realistische Vorschläge zur Reform der Börse“ vorgesehen, was immer das heissen mag.
 
Die teilweise „schnellschuss- und sofortgewinnorientierte“ neue globale Wirtschaft ist Verwaltungssratspräsident Hayek ein Gräuel, bereitet ihm Bauchweh, obschon er vor Verkäufen im universellen Raum nicht zurückschreckt. Im Geleitwort zum schriftlichen Jahresbericht 2007 hielt er fest: „Die neue massive Entwicklung anonymer Gruppierungen und Sammler grosser Liquiditäten in globalen, internationalen Fonds, Hedge-Funds, Finanzgesellschaften usw., die von Finanzmanagern – grösstenteils ohne unternehmerische Erfahrung – geleitet werden und sich nie für etwas anderes als für Geld engagiert haben, ist bedenklich. Diese Fonds kaufen an der Börse viele Aktien von Industriebetrieben auf und gewinnen dadurch grossen Einfluss in den Firmen, vertreten aber vehement ihre eigenen kurzfristigen Interessen, manchmal in krassem Gegensatz zu denen des Unternehmens (in welchem sie investiert haben), was zahlreiche Beispiele leider bezeugen. Die Kontrolle dieser dramatischen Situation kann nur durch massive Reformen erreicht werden und muss rasch erfolgen, damit der systematischen Zerstörung der zukünftigen Entwicklung und Innovation Einhalt geboten wird.“
 
Dann trat der Hayek-Sohn und CEO Georges Nicolas Hayek auf („Für uns gibt es keine Krise“), informierte im Wesentlichen darüber, dass die Omega an den Olympischen Spielen in Peking 2008 offiziell die Zeiten messen wird – und zwar in 28 Sportarten von Leichtathletik, Marathon bis zum Rudern und Schwimmen an 37 Austragungsorten. Dies ist eine ausserordentliche technische Herausforderung, weil da unter schwierigen Bedingungen mit einer Präzision von 0,01‒0,05 Sekunden gemessen werden muss. Etwa 450 Personen aus 19 Nationen sind mit dieser Aufgabe des Zeitmessens an Sportbewegten betraut, und sie haben vielfach auch für die Bildübertragung zu sorgen, die besser sein wird als sie jemals bei Olympiaden war. „Ohne Omega keine Olympischen Spiele“, folgerte der CEO messerscharf, der sich nach Bekanntgabe des Bruttoumsatzes (knapp 6 Mia. CHF, + 17,1 %) eine lange Zigarre mit Manschette anzündete, die er auf der Bühne genüsslich schmauchte, vor versammeltem Publikum (mit rauchfreier Übertragung zu uns in den kleinen Saal) ein Beispiel von Genussfähigkeit demonstrierend, wohl ein Protest gegen die übertriebenen staatlichen Antiraucher-Kampagnen. Der Betriebsgewinn erreichte die Rekordhöhe von 1236 Mio. CHF, und die operative Marge erhöhte sich auf 21,9 %. Die Zigarre schien in diesem Zahlenumfeld zu schmecken. Der Zigarrenrauch stieg in schönen Schlieren dem siebenten Himmel entgegen.
 
Das Geld ist im Überfluss da. Ein Aktienrückkaufsprogramm im Umfang von 420 Mio. CHF ist bereits lanciert. Alle Anträge wurden mit grosser Mehrheit abgesegnet, denn die Anleger konnten ja zufrieden sein, vor allem mit der Kursentwicklung; die Dividenden ihrerseits sind relativ bescheiden (die Dividende wurde von 0,75 auf 0,85 CHF bzw. bei den Inhaberaktien: von 3,50 auf 4,25 CHF erhöht).
 
Eine kleine Diskussion entstand an der GV über das Rückkaufsprogramm gleichwohl: Da die Swatch Group dieses nicht über handelbare Put-Optionen abwickeln will, profitiert nur ein kleiner Teil der Aktionäre. Der seelisch schwer börsengeschädigte Hayek-Vater zuckt schon beim Schreckenswort „Optionen“ zusammen. Doch will er den Vorschlag überprüfen, selbst auf die Gefahr hin, davon persönlich am meisten zu verdienen …
 
Die Versammlung fand in lockerer Atmosphäre statt; der Verwaltungsratspräsident steht über der Sache, brachte die Formalismen in schneller Sprache hinter sich, kennt alle seine Pappenheimer – er ist schliesslich seit 25 Jahren an der Konzernspitze tätig. Und offensichtlich hat er auch eine Schar fähiger Mitarbeiter um sich geschart. Ich gewann jedenfalls einen ausgezeichneten Eindruck von diesem selbstbewussten Unternehmen.
 
Weniger gelungen war die Logistik im Hinblick auf die Verpflegung der 1655 Versammlungsteilnehmer mit Häppchen auf verschiedenen Kongresshausetagen. Bei den Buffets bildeten sich im Anschluss an die GV lange Schlangen. Für ein paar Sandwichabschnitte mit Lachs oder Schinken, frittierte Eglifilets und Käseküchlein schien mir der Aufwand etwas überproportional zu sein. Ich studierte stattdessen den Aushang mit den neuen Swatch-Kreationen 2008 wie der „Rosa Perlata“, der „Brilliant Bangle“ mit Metallglieder-Armband, das von Glitzersteinchen besetzt ist, und „Serious Affair“ und kam dabei zur Einsicht, dass das Schmuckbedürfnis die Zeitvermittlung allmählich am Überholen ist.
 
Ich stärkte mich mit einem Glas Ananassaft, bevor ich den Heimweg antrat – eingedenk des Umstands, dass viele exotische Länder zum guten Swatch-Umsatz beigetragen haben. Ein Gegengeschäft. Und ich kam ohne Bauchweh davon.
 
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