Textatelier
BLOG vom: 01.06.2008

Natur-Dynamik: Exkursion mit Josef Fischer im AG-Reusstal

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Erdbeben in der chinesischen Provinz Sichuan am 12.05.2008: Neue Stauseen sind entstanden. Staumauern sind gefährdet; beim Tangjishansee wird am Bau einer Abflussrinne gearbeitet. Halten die Dämme? Nachbeben folgten. Kleinere Erdbeben gab es am 27.05.2008 auch noch im Grenzgebiet von Panama und Costa Rica. In Burma (Myanmar) hat Anfang Mai 2008 der Wirbelsturm „Nargis“ insbesondere im Irrawaddy-Delta für grauenhafte Verwüstungen gesorgt.
 
Die Natur war und ist dynamisch, wie man sieht, oft mehr als den Menschen angenehm ist. Die Opferzahlen gehen in die Tausende. Und anderswo ist die Naturdynamik unterbunden, falls nicht extreme Wettersituationen Oberhand gewinnen. Dann muss der Mensch für etwas Betrieb und Lenkung sorgen, damit sich eine Biodiversität (eine Vielfältigkeit) einstellt: zum Beispiel dort, wo ein im Rahmen eines Wasserkraftwerkbaus ein dynamischer Fluss in einen Stausee verwandelt worden ist, wie etwa im aargauischen Reusstal oberhalb von Bremgarten-Zufikon AG, die Folge eines leistungsfähigeren Flusskraftwerks, das 1975 seinen Betrieb aufnahm. Naturschützer retteten, was noch zu retten war.
 
Der Spiegel des berühmten Reusstal-Flachsees liegt höher als das ursprüngliche Bett der mäandrierenden Reuss, und demgemäss müssen verschiedene Pumpstationen dafür sorgen, dass das bei Niederschlägen angefallene Wasser von unten nach oben in den Stausee befördert wird, damit in der Talsohle nicht noch ein weiterer See entsteht. In jenen tiefer gelegenen Bereich führte mich Josef Fischer, seit 1989 Geschäftsleiter der Stiftung Reusstal (www.stiftung-reusstal.ch).
 
Wir begaben uns ins Rottenschwiler Moos, nördlich des Dorfs und linksseitig des Flachsees. Vom 1980 renovierten Zieglerhaus an der Hauptstrasse 8 in Rottenschwil ausgehend, wo die Stiftung ihr Domizil hat, kommt man am Landwirtschaftsgebiet Allmend vorbei, das heute etwa 2 m unter dem Flachseeniveau ist. Jenes Gebiet, an dessen Rand auch ein grosser kantonal-aargauischer Werkhof für den Gewässerunterhalt steht, war einst ein alter Reusslauf, welcher durch Sedimenteinträge und Pflanzendecken ab etwa 1840 verlandete. Seither wird die offene Fläche landwirtschaftlich genutzt.
 
Das Rottenschwiler Moos
Dann führt der Weg ins Moos, vorerst ein Auenwald mit Giessen (Grundwasser führenden, bachartigen Tümpeln) und Riedmatten, die 1 Mal jährlich (jeweils nach dem 15.09.) gemäht werden, damit sie nicht Verbuschen und zu Wald werden. Bei unserer Exkursion vom 26.05.2008 blühte die Blaue Schwerlilie im Schilf (Pegel: 380 m) als besonders auffälliges Merkmal; die Lilie liebt einen wechselfeuchten Standort. In dem Hochstudenried machten sich besonders die Grossen Seggen (wie Carex elata, Carex acutiformis) breit; das sind Riedgräser. Hier ist die Heimat irrlichtender Fabelwesen, die noch der Katalogisierung harren.
 
Würde in diesem Gebiet nicht pflegend eingegriffen, erhöhte sich der Boden selbsttätig, und er würde trockener werden, weil ja die natürliche Dynamik weitgehend fehlt. Brennnesseln, Weiden und Erlen erhielten günstige Bedingungen. Wo der Wasserspiegel mehr oder weniger auf Bodenhöhe ist, kann man am Bewuchs die unterschiedliche Höhe ablesen; eine Differenz von wenigen Zentimetern genügt, damit sich andere Pflanzengesellschaften versammeln, weil sich im schwammartigen Boden andere Zustände ergeben; gegen oben wird er fester. Fachleuten mit ausgeprägter Beobachtungsgabe wie der sonnengebräunte Josef Fischer können auf Navigationsgeräte verzichten – falls es nicht despektierlich klingen sollte, würde ich ihn als Naturburschen bezeichnen.
 
Der Waldweg durchs Moos steigt nach wenigen Metern ganz schwach an, führt also in leicht höhere Gefilde, wo die offenen Ried- und Magerwiesen sind. Wenn die Bauern früher mit Pferdegespannen hierhin gelangen wollten, mussten die Pferde zuerst im Wasser stapfen, das ihnen bis an die Brust reichte, um dann die leicht höher liegende Wiese zu erreichen. Das Land, das hier bis 1996 intensiv genutzt wurde, konnte dann vom Naturschutz gekauft werden; der Bauer, auf den im Rahmen des Meliorationswerks Rücksicht genommen worden war, gab seinen Betrieb damals auf. Der gedüngte Humus wurde abgetragen, womit die Voraussetzung für eine Magerwiese geschaffen wurde.
 
Und tatsächlich funktionierte es. Noch jetzt gibt es unbewachsene Stellen, die sich bei Sonneneinstrahlung gut erwärmen und von Insekten (Käfern, Ameisen, Moorschmetterlingen usw.) als Lebensraum geschätzt werden. Die von einer gestuften Hecke umrahmte Wiese war weiss, rostrot, gelb und grün und bei genauerem Hinsehen voller pflanzlicher Miniaturen wie Hornklee (Lotus corniculatus), Bitteres Milchkraut (Polygala amarella), Schlaffe Segge (Carex flacca), und sogar Orchideen wie die Fleischfarbene Fingerwurz (Dactylorhiza incarnata) und die Sumpfwurz (Epipactis palustris), die im Juni zu blühen beginnt, hatten sich hier eingefunden, durch das Transportunternehmen Wind verfrachtet. Diese Wiese wird Anfang August einmal geschnitten, was u. a. das Aufkommen der Weiden und den Vormarsch des Schilfs verhindert, der nicht nur unterirdisch durch ein Strangsystem (Rhizome), sondern auch oberirdisch durch Leghalme neue Gebiete erobern will. Irgendwie scheint der unbändige, oft sinnlose Expansionsdrang ein Naturphänomen zu sein, wobei ich damit nicht etwa das gesamte Wirtschaftssystem mit seinem immerwährenden Wachstumsdrang rechtfertigen möchte. Wie die Pflegemassnahmen im Reusstal belegen, folgt das Zurückstutzen der Auswüchse auf eine angemessene Grösse auf dem Fuss.
 
Josef Fischer bot mir während über 3 Stunden eine Lektion in Ökologie, die nicht an der Oberfläche stecken blieb und die ständig neue Erkenntnisse hervorbrachte und den Blick weitete. Denn man sieht ja nur, was man kennt, und diesbezüglich besteht bei mir etwelcher Nachholbedarf. So erfuhr ich bei einer Pfeifengraswiese mit Blauen Schwertlilien, dass diese fulminanten, beinahe gärtnerisch anmutenden Pflanzen ein Indikator für eine ganze Palette anderer Pflanzen sind, die ähnliche Lebensbedingungen brauchen. Und der Klappertopf (Rhinanthus angustifolius), ein Halbschmarotzer, vertreibt auf wechselfeuchten Wiesen die Wirtschaftsgräser und bereitet den Boden für Kräuter auf; er ist im Reusstal stark verbreitet. In einer nahen Altholzinsel fühlen sich die Ringelnattern wohl.
 
Wir konnten uns kaum sattsehen. In Gelb leuchteten der Wiesenbocksbart und das Habichtskraut mit der Grundrosette aus eiförmig bis lanzettlichen Blättern; daneben wachte eine Helmorchis, und die Sibirische Schwerlilie (Iris sibirica) mit ihren violettblauen Blüten ist im Reusstal gut vertreten. Auch die Brandorchis (Orchis ustulata) und das Fuchsknabenkraut (Dactylorhiza fuchsii) mit den gefleckten Blättern standen neben Bergklee stolz da. Eine Akeleiblättrige Wiesenraute (Thalictrum aquilegiifolium) breitete ihre Staubblätter aus. Die Sumpfwurz bereitete gerade ihre Blütezeit vor, die auf Juni angesetzt ist. Etwa 50 bis 60 Arten beleben hier das grandiose Bild; zu jeder Zeit blüht etwas. Die Farbe der feucht-fröhlichen Magerwiese wechselt während der Vegetationsperiode von Gelb über Blau, Lila zum Lilarot der Herbstzeitlosen. Und Pfeifengräser vermitteln einen goldenen Aspekt im Herbst – das vielfarbige Wechselspiel der Jahreszeiten.
 
An den Waldrändern, also an der Peripherie des Wiesendreiecks, war an jenem Nachmittag, an dem dank Saharawinden der Sommer vorgezogen zu sein schien, ein unglaublich intensives Konzert zu hören, in dem die Wasserfrösche die erste Geige spielten.
 
Josef Fischer trug ein schweres, auf ein Holzstativ montiertes Swarovski-Fernrohr auf den Schultern. Er brachte es bei jeder Gelegenheit in Position und richtete es diesmal auf ein Heckenrosengebüsch, wo sich ein seltenes Neuntöter-Männchen mit dem schwarzen Augenstreif und der markanten schwarz-weissen Schwanzzeichnung von seiner angenehmsten und anständigsten Seite zeigte: Es fütterte sein Weibchen, das wahrscheinlich mit seinen „Chää“-Rufen um Essbares gebettelt hatte. Irgendwelche Wünsche haben ja Weibchen erfahrungsgemäss immer; man kennt das. Die Beutetiere spiesst der Neuntöter gern an den Dornen im Gestrüpp auf, damit er bei Bedarf auf diese Vorratskammer zurückgreifen kann.
 
Inzwischen war Rudolf Osterwalder mit seinem Puch-Kleinfahrzeug von der kantonal-aargauischen Abteilung Umwelt angekommen, ebenfalls ein ausgezeichneter Naturkenner und mit Leib und Seele bei der Sache. Wir unterhielten uns über die oft gegensätzlichen oder unterschiedlichen Interessen bei Eingriffen zur Erhaltung von Naturgebieten, eine Tätigkeit, die viel Einfühlungsvermögen erfordert.
 
Das Beobachtungsversteck
Zum Natur- gehört auch das Besucher-Management. Die Besucher sollen einen Zugang zur Natur (und damit auch eine Naturerziehung und -beziehung) erhalten, gleichzeitig aber die Abläufe in der Tier- und Pflanzenwelt wenig stören. Ein Spagat. Natürlich ist das Interesse an den Feuchtgebieten des Reusstals bei Weitem nicht so gross wie an dem gleichnamigen, von Schlüpfrigkeiten durchsetzten Roman von Charlotte Roche, aber immer noch stattlich. Als Josef Fischer und ich auf dem Flachseeuferweg der Anfang März 2008 eröffneten Vogelbeobachtungsstation („Hide“) zusteuerten, waren mehrere Mütter mit Kindern und Kinderwagen unterwegs.
 
Den nach englischen Vorbildern erstellten, etwas in den Flachsee hinaus gebauten Hide (= Versteck) erreicht man zwischen Schilfwänden mit einem Eingangstrichter auf einem Lärchenholzrost mit leichten Richtungswechseln – „Bitte nicht laut sprechen!“ liest man da. Das heisst die Vögel sollen die Annäherung von Menschen nicht bemerken und sich ungestört fühlen. Auf eingerammte Eichenstämme ist eine heimelige Holzhütte über eine Schilfzone und übers Wasser gebaut worden , eine Villa Durchzug sozusagen, mit Sehschlitzen, wenn man die Fensterbretter hochklappt. Die Idee ist gut: Man hat von hier aus ein eingeengtes Gesichtsfeld. Verschiedene Reize sind ausgeblendet, und umso konzentrierter kann man das Geschehen auf den nahen Schlickbänken im Flachsee beobachten, wo Vögel ihren Anschauungsunterricht in Ornithologie live vermitteln.
 
Ein Feldstecher oder Fernrohr ist auch hier von grösstem Nutzen. Josef Fischer ortete sogleich eine Graugans, einen Flussregenpfeifer, eine Spiessente und eine Weisskopfmöwe mit Migrationshintergrund und auffallend langen Flügeln, die bei ihm weniger Begeisterung auslöste. Diese Möwensorte hat am Flachsee auf etwa 40 Exemplare zugelegt. Sie brütet gern auf Schlickinseln und vertreibt die Kiebitze, mit denen sie sich oft in regelrechte Luftkämpfe einlässt – während auf der Insel andere Weisskopfmöwen die Stellung halten oder ausbauen; sie operieren also im Verbund wie die alten Eidgenossen. Etwas besänftigend wirkte auf den Naturschutzfachmann Fischer, als im Wasser unter einem Sehschlitz eine wohl 25 cm lange Äsche kreiste und Flussregenpfeifer (Charadrius dubius) mit ihrem schwarzen Halsband, die von einem Ausflug zurückkamen, vorbeizogen, zur Belebung des Luftraums.
 
Überall gibt es erwünschte und unerwünschte Gäste. Auf dem Rückweg erzählte mir Josef Fischer von Besuchern, die ihren Abfall im Naturschutzgebiet entsorgen, und die Holzbänke mussten durch Sitzgelegenheiten aus Stein ersetzt werden, weil die Holzbretter demontiert und manchmal sogar verbrannt wurden. Das ist eine Dynamik von jener Sorte, auf die man gut und gern verzichten würde. Man kann schliesslich nicht immer auswählen.
 
Aber dynamische Naturfreunde sind im Zieglerhaus bei Josef Fischer und/oder in der Flachsee-Landschaft immer willkommen – hier wirken starke Triebkräfte in Richtung Naturverständnis.
 
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