Textatelier
BLOG vom: 26.07.2008

Oberzeiher Bergli: Nachtschwärmer umschwirrten Nachtfalter

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Selbst ausgesprochene Nachtschwärmer unter der bekannten, weltweit verbreiteten Art Homo sapiens wissen in aller Regel wenig über Nachtfalter, abgesehen von einigen Entomologen (Insektenforschern). Ich nehme mich da nicht aus. Doch im Rahmen der 5. Europäischen Nachtfalternächte (European Moth Nights, EMN, 24.‒28. Juli 2008) ändert sich das im Moment gerade (siehe http://euromothnights.uw.hu/).
 
Man verstehe das bitte nicht falsch. Es ist nicht etwa so, dass die Falter nur an diesen 5 Tagen ihre Auftritte vor versammeltem Publikum hätten, etwa so, wie wenn der Zirkus Knie mit seinen Tierexoten in die Stadt kommt. Nein, die Nachtfalter setzen rund ums Jahr überall zu ihren Flügen an, wenns dunkel wird, ausgesprochene Frostnächte ausgenommen. Sie tun dies auch bei Ihnen, sehr geehrte Leserin, lieber Leser, rund ums Haus. Und wenn sie das Fenster eines Zimmers, in dem mindestens 1 Lampe brennt, offen lassen, kommen sie auch gern zu Ihnen ins traute Heim, um hier für etwas Papillorama-Atmosphäre zu sorgen. Je nach der Menge der Artenzahl, die Sie bei solchen Gelegenheiten besuchen werden, können Sie auf die Naturvielfalt in Ihrer näheren Umgebung schliessen. Wenn etwa 50 bis 60 Arten herbeiflattern, können Sie mit Ihrer Umgebung sehr zufrieden sein, ansonsten sich eine Verbesserung der ökologischen Qualität aufdrängt: die Natur mehr gewähren lassen statt ständig jätend herumzupützeln. Nutzen Sie die gewonnene Zeit für Falter-Beobachtungen!
 
Genau diesen Lichtfang hat auf der Neu-Bechburg in Oensingen SO zwischen 1867 und 1903 Friedrich Riggenbach-Stehling betrieben, wobei der Forscher nicht weniger als 725 Gross-Schmetterlingsarten nachweisen konnte. Damals waren die Felsen bei der Burg und auch jene am Roggen (Roggenschnarz, Jura) kaum bewaldet. Die Kästen mit den aufgespiessten, aber auf ihre Art unsterblich gewordenen Faltern sind heute im Besitze des Naturhistorischen Museums Basel. Viele der Arten sind heute bei Oensingen nicht mehr anzutreffen, was jedes Entomologenherz traurig stimmt.
 
Ich kann mir vorstellen, dass einen die Beschäftigung mit den Nachtfaltern in ihren Bann ziehen kann; jedenfalls hat mich die spätabendliche Exkursion vom Donnerstag, 24.Juli 2008, aufs Bergli in Oberzeihen AG (Bözberg West) schon fasziniert. Da öffnete sich eine neue Welt. Über 70 Personen hatten sich auf Einladung des Naturamas Aargau, Aarau (www.naturama.ch) und des örtlichen Forums Doracher – Lebendiges Oberzeihen (www.doracher.ch) um 21 Uhr bei der Kapelle in Oberzeihen versammelt und waren dann erwartungsvoll auf einem Natursträsschen hinauf zum Naturschutzgebiet Bergli gewandert, wo der 1993 verstorbene Hans Bachmann-Gunas während Jahren auf einem nach Oberzeihen ausgerichteten Sporn seine entomologischen Studien betrieben hatte. Dafür hatte er eine einfache Fangstation und einen Präparationsraum eingerichtet. 1964 präparierte er hier bis zu 2000 Falter pro Monat, wie dem exzellenten Buch „Bözberg West“ von Heiner Keller zu entnehmen ist.
 
Bachmann verbrachte allein in jenem Jahr 231 Fangnächte in seiner Forschungsstation – und er genoss diesen Naturkontakt: „Jede dieser Nächte ist ein Erlebnis: die Dämmerung, die scheuen Nachttiere, die Mond- und Wolkenbilder, das Faltergeprassel, die Stille und das erste, den neuen Tag ankündigende Vogellied.“ Er baute sein Refugium aus, goss Steinplatten – 4000 an der Zahl – selber, von denen er jede mit dem Entstehungsdatum versah. Im Haus war ein Schatz verborgen – ein Rohr, gefüllt mit Fünflibern (5-Franken-Stücken). Alles hatte er doppelt, die Fünfliber sogar mehrfach. Solche Erinnerungen frischte Paul Gloor auf, ehemaliger Schullehrer in Zeihen, der eine Zeitlang in Ittenthal AG lebte, dann Swissair-Kapitän war und nun in Costa Rica sein Falter-Hobby pflegt. Er ist seinen Leisten treu geblieben: den fliegenden Objekten, wozu ja auch die Falter zu zählen sind. Er war oft mit Hans Bachmann zusammen und wurde von diesem in die Welt der Falter und deren aufwändige Präparation eingeführt: Man spannt sie mit Nadeln auf, ohne die Flügel zu durchstechen. In Costa Rica verwendet Paul Gloor das leichte, weiche Balsaholz als Unterlage, in das er für den Falterkörper unterschiedlich breite und tiefe Rillen fräst, wie er mir bei einem persönlichen Gespräch sagte. Später kommt seine Sammlung in seiner neuen Heimat in ein naturhistorisches Museum.
 
Heiner Keller bezeichnete Bachmann als „schillernde Persönlichkeit, die kein Blatt vor den Mund nahm“, insbesondere bei seinem Kampf gegen den Betrieb des Schiessplatzes Eichwald und dessen damals geplante Erweiterung gegen den Sulzbann (zwischen Densbüren und [Ober-]Zeihen). Auch jetzt brauche es wieder, angesichts der Steinbruch- und Atommülllagerpläne in diesem oberfricktalischen Gebiet, wieder solche Leute. Heiner Keller ist so ein Unangepasster, ein wachsamer, kritischer Rebell mit dem Herz am rechten Fleck, wie ich beifügen möchte. Er ist Gründer und Präsident des Forums Doracher, das sich auch alter Hochstammsorten und deren Verwertung (www.moscht.org) annimmt, unter anderem durch die Anlage eines Sortengartens auf dem Bözberg. Sicher werden auch die Nachtfalter an dieser ökologischen Bereicherung ihre helle Freude haben, jedenfalls die Apfelbaumliebhaber unter ihnen.
 
Inzwischen war es 21.45 Uhr und damit Zeit für die Dämmerung geworden, die denn auch prompt hereinbrach. Andreas Rohner vom Naturama, der den Anlass leitete, gab den Einsatz zum Start der Generatoren, die vom Militär, vertreten von Ernst Vetter, zur Verfügung gestellt wurden. So konnte unsere leidende Armee wieder ein paar Punkte gutmachen. Verschiedene Lampen wie UV-, Mischlichtlampen (100 Watt) und andere wie Blaulichtlampen mit hohem UV-Anteil und Quecksilberdampflampen, die alle ein kurzwelliges Licht verbreiteten, leuchteten vor aufgespannten flachen oder zu Zylindern geformten Nylon-Vorhängen auf. Ausrangierte Stewis oder ausziehbare Leinwandhalter aus der Lichtbilderzeit genügen als Aufhängevorrichtungen. Und der Anflug der Falter konnte beginnen. Sie taten das pünktlich in grosser Zahl, obschon sie von hungrigen Fledermäusen, die ebenfalls herumflogen, bedroht waren. In der Regel kommen nur jene Falter in den Lichtbereich, die sich in 10 bis 25 m Distanz aufhielten oder gerade am Vorbeiflug sind.
 
Werner Huber und Dieter Fritsch von der Entomologischen Gesellschaft Basel lüfteten einige Geheimnisse der Dunkelheit im gleissenden Licht der lockenden Lampen. Der Standort sei hier extrem günstig, stellten diese ausgesprochenen Fachexperten fest, die ich um ihr Wissen beneidete. Die Pflanzenvielfalt ist am Zeiher Homberg ausserordentlich gross – und dementsprechend vielfältig ist das Faltergeflatter. Der Zeiher Gemeindeschreiber Franz Wülser, selber ein Naturfreund mit historischem Hintergrundwissen, durfte die Qualität im Sinne von Vielfalt an unterschiedlichen Lebewesen im Biotop Zeihen mit berechtigtem Stolz bemerkt oder als Bestätigung empfunden haben.
 
Verschiedene in einen eigentlichen Feuereifer geratene, jagende Knaben fingen mit Schmetterlingsnetzen ihnen besonders attraktiv erscheinende Tiere ein. Werner Huber nahm sie sorgfältig in die Hand; denn oft ist es nötig, die Flügel aufzufächern, damit man die Details sieht und eine genaue Bestimmung möglich ist. Besondere Exemplare versorgte er in kleinen, verschliessbaren Plastikbechern, die sich auch zum Ernten der am Nylontuch krabbelnden Tiere gut eignen. Da war einmal die Eilema deplana (Nadelwald-Flechtenbär, Gelbsaumflechtenbär), der sich eher von Flechten als von Bären ernährt – der Name hat oft einen Bezug zur Nahrungspflanze. Auch die Eilema complana (Gelbleibflechtenbärchen) lief ihm noch ins Netz. Dieser Falter in Silbergrau mit gelben Rändern gehört zum Rollflügeltyp, und die Fachleute können ihn aufgrund der Sitzposition bestimmen; denn er rollt in der Ruheposition die Flügel um den Körper.
 
Zum Nachtfalternacht-Sortiment gehörte auch eine Nesselschnabeleule oder Schnauzeneule (Hypena proboscidalis) mit einer Art Holzmaserierung, wie ich es empfand, und neben unendlich vielen anderen die Grosse Kiefernglucke (Dendrolimus pini L.) mit ebenfalls braunem, aber zottelig behaarten Körper. Das ist natürlich eine Tarnfarbe, weil die Falter tagsüber oft regungslos am Baumstamm verharren und nicht auffallen wollen. Bekanntschaft machten wir auch mit einem Eutrix potatoria L., auch Trinkerglucke genannt, da dieser Falter in Ruhestellung wie eine Glucke die Flügel hinlegt und ihre Raupe gelegentlich gern Tautröpfchen aufsaugt. Dann meldete sich ein Blausieb an, auch Kastanienbohrer (Zeuzera pyrina) geheissen; dieser Nachtfalter gehört zur Familie der Holzbohrer (Cossidae), die ihre Eier in Baumrinde abzulegen pflegt. Bevor Sie in einem Do-it-yourself-Laden neue Holzbohrer kaufen, überlegen Sie sich bitte, ob nicht dieser Nachtfalter das für Sie erledigen könnte.
 
Die Gammaeule (Autographa gamma) kam mir persönlich bekannt vor, doch habe ich das Gamma-Zeichen auf den Flügeln erst jetzt entdeckt (meine Beobachtungsgabe ist noch immer unterentwickelt), und der Name Gammaeule wird mir unvergesslich bleiben. Zu den Eulen des Falterwesens gehört auch die Janthina-Bandeule (Noctua janthina) mit ihren breiten Tragflächen. Ich habe sie in meinen Bekanntenkreis aufgenommen.
 
Selbst die Rosskastanienminiermotte (Cameraria ohridella), auch Balkan-Miniermotte genannt, aus der eingewanderten Familie der Miniermotten (Gracillariidae) gab sich zu erkennen. Man schiebt diesem Kleinschmetterling, der bei uns kaum Feinde hat, die Verbreitung der Kastanienkrankheit in die Schuhe bzw. in die Duftorgane. Er ist ein Neozoon, der die Bäume schwächt und beweist, dass sich die Globalisierung selbst im Falterwesen breit gemacht hat; zum Beispiel über eingeführte Pflanzen aus aller Herren Ländern. Es herrscht ja ein unglaubliches Hin und Her auf dieser Erde, das manchmal zur wenig erfreulichen Entfaltung der Falterfauna beiträgt.
 
Das Treiben auf den beleuchteten Tüchern und die Bekanntschaft mit den immer neu ankommenden Gästen war ein wirklicher Krimi. Da dort oben auf dem Bergli die Feuchtstellen fehlen, waren kaum Mücken dabei, was niemand bemängelt hat; doch die Falter umschwirrten auch mich in nächster Nähe. Wahrscheinlich wegen meiner tierfreundlichen Haltung akzeptierten sie mich sogleich; wir entwickelten eine ausgesprochene gegenseitige Zuneigung.
 
Ich begab mich dann noch zum Verpflegungsstand, den Elli und Heiner Keller mit Hingabe fürs Regionale aufgebaut hatten – und wo Süssmost aus alten Apfelsorten, Trockenwürste von wahrscheinlichen steinzeitlichen Schafen, urtümlicher Käse und ein herrlich duftendes Brot genossen werden konnten. „Griif zue!“, sagte Heiner zur mitternächtlichen Stunde zu mir – eine Aufforderung zum Zugreifen, wie es sich für Nachtschwärmer um diese Zeit gehört.
 
Dann erlebte ich die wohltuende Einsamkeit auf dem Rückweg. Nach dem über zweistündigen Aufenthalt in der Nähe starker Lichtquellen erschien mir der Rückweg durch den Wald am Südfuss des Zeiher Hombergs kohlrabenschwarz; ich hätte nicht einmal das Waldsträsschen ausmachen können. Als erprobter Nachtschwärmer hatte ich zum Glück eine Stirnlampe bei mir, so dass ich mich nicht im Dickicht verirrte. Doch dann gewöhnten sich meine Augen ans schwache Licht. Der Mond demonstrierte das Abnehmen, und darunter tauchten die Lichter von Oberzeihen auf, die ebenfalls umschwirrt waren, allerdings jenseits von entomologischer Aufmerksamkeit. Falterschicksale.
 
Auf der Heimfahrt über den Sulzberg freute ich mich über die stark abgeschrägte Windschutzscheibe meines Toyota Prius. Die aerodynamisch geschickte Konstruktion trägt dazu bei, dass Insekten übers Auto geweht werden und nicht als Leichen auf Scheibenwischeraktivitäten warten. Daheim hätte ich gern das Fliegengitter am Schlafzimmerfenster demontiert, das nicht allein den Kontakt zu den vielen Mücken, sondern auch noch zu den Nachtfaltern unterbindet. Doch wollte ich keine Jagdszenen mit der Fliegenklatsche und keine Ehekrise provozieren, sondern bloss ruhig schlafen. Und wieder einmal machte ich die Erfahrung, dass unser Leben ein einziger grosser Kompromiss ist und wir immer darauf bedacht sein müssen, in keine übermächtigen Abwehrkämpfe verwickelt zu werden.
 
Die Nachtfalter, die mir eine neue Welt eröffnet haben, mögen mein Nächtigen hinter dem Gitter bitte nicht als Antipathiebeweis auslegen.
 
Literatur
Altermatt, Florian; Fritsch, Dieter; Huber, Werner, und Whitebread, Steven: „Die Gross-Schmetterlingsfaune der Region Basel“, Entomologische Gesellschaft Basel, Postfach 1310, CH-4001 Basel 2005.
 
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