Textatelier
BLOG vom: 24.08.2008

In und um Einsiedeln: Hochmoor, Schanzen, Klosteranlage

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
In diesem Tagebuchblatt schicke ich mich an, etwas zu tun, was man unbedingt unterlassen sollte ‒ Ungleiches vergleichen: Das Hochmoor in Rothenthurm, die Skisprungschanzen in Einsiedeln und das Kloster Einsiedeln. Diese 3 Äusserungen der Natur beziehungsweise des menschlichen Tatendrangs werden hier deshalb nebeneinander gestellt, weil sie räumlich nahe beisammen liegen.
 
Auf der Fahrt zwischen Pfäffikon SZ (Ortschaft innerhalb der Gemeinde Freienbach am südlichen Ende des Zürichssee-Damms) und Schwyz kommt man an all diesen unterschiedlichen Sehenswürdigkeiten vorbei; genau das ist mir am 21.08.2008 passiert. Die Bescheidenheit der Moorlandschaft zwischen Rothenthurm und Biberbrugg einerseits und die Wucht der Schanzen und des Klosters anderseits haben mich aufgerüttelt, um nicht „aufgewühlt“ zu sagen.
 
Das Hochmoor
Mitte Juni 1994 hatte ich einen ganzen Tag bei diesem Hochmoor, einer Landschaft von nationaler Bedeutung auf etwa 900 Höhenmetern, zugebracht, weil ich als damaliger Zeitschriftenleiter nach einem Besuch der Everglades in Florida/USA das Schwerpunktthema „Sümpfe“ vorbereitete, unter Einbezug der Verhältnisse in der Schweiz. Von der Hochebene der Altmatt und des Ägeririeds, eingebettet zwischen den Höhenzügen von Höhronen, St. Jost, Morgartenberg, Samstagern und Chatzenstrick habe ich damals unauslöschliche Eindrücke mitgenommen. Die Moorvegetation stand in schönster Blüte. Bezaubert verharrte ich am Rande eines quellnassen Hangs auf dem maschinell frisch gemähten Boden einer Pfeifengraswiese, an die sich ein Davallseggenried anschloss: ein lockerer Kleinseggenrasen mit einer faszinierenden Kleinflora aus Sumpf- und Handwurz, Studentenröschen, Teufelsabbiss, Gilbweiderich usf. Dazwischen belebten einige schlecht ernährte Schilfhalme das zum Träumen anregende Bild. Weiter gegen die Talsohle schmückten das Schneidige Wollgras, die kleine Orchis (Orchis morio) und der Weisse Germer mit seinen auffallenden, krautigen Blättern und der Sumpfbaldrian die Feuchtwiesen, ein von Menschen beeinflusster Sekundärstandort zwar, aber gleichwohl von grosser Schönheit. An anderen Stellen begann der unscheinbare Sonnentau zu blühen; er hält mit seinen Tentakeln kleine Insekten fest und verdaut sie, um sich jenen Stickstoff zu beschaffen, den ihm der magere Boden nicht bieten kann.
 
An der tiefsten Stelle des Tals, wo sich die Biber (ein Bach) gemächlich durch den weichen Boden windet, waren noch Überreste aus der Zeit des industriellen Torfstichs (bis in die Zeit des 2. Weltkriegs) und wie kleine Stallbauten aussehende Turpenhütten vorhanden, ebenfalls die aufgestapelten Geleise einer Transportbahn, die wie bei einer Spielzeugeisenbahn mit wenig Aufwand bei Bedarf verlegt und den geänderten Bedürfnissen angepasst werden konnten. Zudem waren noch reizvolle Torfstichweiher vorhanden. An einigen Stellen ist das ehemalige Hochmoor schon lange vorher radikal bis fast auf den Lehm abgetorft worden; dort gibt es fast reine Pfeifengrasbestände. Das Moor muss ständig „gepflegt“ werden, damit sich nicht Hochstaudenfluren, Büsche und schliesslich Wälder entwickeln.
 
So sind auch Moore auf sauren Böden einer ständigen Veränderung unterworfen, auch wenn sie von Menschen in Ruhe gelassen werden; es sind hochempfindliche Lebensgemeinschaften. Sie waren einst Flachmoore, welche sich wegen der Überwucherung von Torfmoosen (Spagnum) aufwölbten und sich damit über den Grundwasserbereich hinaus erhoben. Die Voraussetzung dafür waren ein wasserundurchlässiger Untergrund und eine genügende Zufuhr von nährstoffarmem Wasser, auf dass es immer feucht blieb. Hochmoore sind meistens vom Niederschlagswasser abhängig. So konnten sich mit der Zeit meterdicke Torfschichten bilden, die durch Auswaschungen an der Oberfläche ausgesprochen nährstoffarm sind.
 
Ausgerechnet in diesem Gebiet wollte die Schweizer Armee in den 1980er-Jahren einen Waffenplatz erstellen, wodurch die Moorlandschaft unwiederbringlich zerstört worden wäre, zumindest zum grössten Teil. Bei allen Schweizern, die wenigstens eine Spur von Wertschätzung für die Natur erhalten hatten, entfaltete sich eine Protesthaltung gegen eine derartige Ignoranz der Naturschönheiten und der Naturbedürfnisse nach Vielfalt und selbstbestimmter Entwicklung. Der militärische Angriff wurde geplant, nachdem seit etwa 1850 bereits über 90 % der Feuchtgebiete in der Schweiz zerstört worden waren, zum Beispiel in der „Anbauschlacht“ im 2. Weltkrieg. Ein Teil der Moore fiel der starken Düngung zum Opfer.
 
1987 konnte der geplante Unsinn im herkömmlichen Naturzerstörungsstil durch die Annahme der so genannten Rothenthurm-Initiative gestoppt werden. Die Bundesverfassung erhielt damit einen neuen Artikel 24sexies, Absatz 5, welcher wenigstens Moore und Moorlandschaften „von besonderer Schönheit und gesamtschweizerischer Bedeutung“ schützte (… als ob es auch hässliche Moore gebe ….). Darin dürfen seither weder Anlagen gebaut noch Bodenveränderungen irgendwelcher Art vorgenommen werden.
 
Das war ein Glücksfall; denn heute wäre dieser Waffenplatz nach der Unterwerfung der Schweizer Rumpfarmee unter den Nato-Befehl und der Zerschmetterung ihrer Logistik wahrscheinlich nur noch eine Militärbrache. Ich habe damals in der Zeitschrift „Natürlich“ geschrieben, dass ein Land, das nur noch aus zerstörten Naturwerten bestehe, nur noch bedingt schützenswert sei. Vielleicht wird der Schutz durch die Armee jetzt auch deshalb abgebaut.
 
Die Schanzen
Die Gemeinde Rothenthurm grenzt westlich an die Gemeinde und damit an den damit identischen Bezirk Einsiedeln an. Einsiedeln ist als Wallfahrtsort und geistesgeschichtliches Zentrum bekannt. Ein Wallfahrtsort ist es seit dem Sommer 2005 auch für die Skispringer, nachdem dort die Einsiedlerschanzen entstanden sind. Die Betreiber dieser wichtigsten Schanzen der Schweiz, die „Nationale Skisprunganlage Eschenbach NaSE“, hat im September 2007 Konkurs angemeldet, weil der Bau dieser landschaftlich dominanten Sportanlage statt der ursprünglich vorausgesagten 8,5 Mio. CHF zum bitteren Ende nicht weniger als 14,5 Mio. CHF verschlungen hatte und die Finanzen mit dem besten Willen nicht mehr ins Lot zu bringen waren.
 
Während des Baus hatte auch der Hang getan, was die Skispringer beim Anlaufholen zu tun pflegen: Er kam ins Rutschen. 50 000 m3 Material mussten abgetragen und 46 000 m3 mit Kalk verfestigtes Material geschüttet werden. Das kostet. Die Skisprungbewegung mit ihren fliegenden Aushängeschildern wie Simon Ammann und Andreas Küttel wurde damit an den Rand der Verzweiflung getrieben; denn wo sollen sie ihre Langstreckenflüge trainieren, wenn nicht hier? Auf Schnee kann verzichtet werden; er ist durch Anlauf- und Aufsprungbeläge ersetzt, die im Sommer nicht schmelzen: Keramikmaterial (Anlauf) und Kunststoffmatten (Landeflächen).
 
Aber die Grossschanzenanlage, die über dem Klosterdorf die Macht des Sports symbolisiert, dümpelt seither einer ungewissen Zukunft entgegen. Gesprungen wird zwar weiterhin; auch die Skisprung-Meisterschaft wird dort gerade wieder ausgetragen. Der Betriebsaufwand beläuft sich pro Jahr auf etwa 250 000 CHF.
 
Die Schanze war, wie gesagt, eine Zangengeburt; von der Schnapsidee bis zu deren Verwirklichung gingen 20 Jahre ins Feld. Aber für das Allerheiligtum Sport ist meistens Geld vorhanden, so etwa im Fonds des Nationalen Sportanlagen-Konzepts Nasak, bei Swiss Olympic, Banken und Sponsoren. Doch mit Bezug auf das Schanzen-Bauwerk begannen die Quellen langsam auszutrocknen wie ein Moor, das man an der tiefsten Stelle angezapft hat.
 
Jedenfalls hat Einsiedeln in seiner von Gletschern geprägten Landschaft ein neues, auffälliges Wahrzeichen erhalten, das zweifellos funktionell richtig gebaut ist. Aber diese an einen 44 m hohen, quadratischen Turm (mit Lift und Treppe) angehängten Rampen über der aufgeständerten Hanggeometrie aus Molassefels sehen fürchterlich aus, auch wenn hier zweifellos beachtliche Ingenieurleistungen vollbracht worden sind. Und obschon die Anlage, neben der im Hang auch noch Schiedsrichter- und Trainertürme herumstehen, ihren Zweck als Skiflugplatz erfüllt, kann man sie mit dem besten Willen nicht als schön empfinden wie etwa eine elegante Brücke oder eine Passstrasse, die zweckmässig angelegt sind. Die nebeneinander aufgereihten Schanzen unterschiedlicher Grösse fangen irgendwo an, unmotiviert, wie es scheint, im Luftraum. Sie knicken gleich nach unten schräg ein, und die 3 Rutschbahnen legen sich wellenförmig wie Riesenbänder über die Landschaft, um dann in einem Auslaufbereich abrupt abgeschnitten, beendet zu werden. Von unten her könnte man sie als Seelenabschussrampe für brave Menschen benutzen, die sich den Himmel verdient haben.
 
Noch selten habe ich eine derartige grausame Bausünde in einer Landschaft gesehen. Wahrscheinlich wäre es schon das Zweitbeste, man würde sie in Aussichtsplattformen umwandeln. Dann hätte man wenigstens einen Platz, von dem aus man nicht die gesamte Anlage innerhalb einer künstlich geformten Topografie anschauen muss. Das Beste? Rückbau. Früher empfand man es als schaurig, übers Moor zu gehen. Heute ist es schaurig, die Riesenschanzen zu sehen.
 
Das Kloster Einsiedeln
Umso leichter fällt mir der erzählerische Sprung zur monumentalen Wallfahrtskirche Einsiedeln (1719‒1735 erbaut), auch distanzmässig ein Katzensprung. Rita Lorenzetti hat in ihrem Blog vom 16.1.2.2007 („Wintermorgen in Einsiedeln: Besinnliche Dezember-Reise“) das Benediktinerkoster aus tiefem persönlichem Empfinden heraus einfühlsam beschrieben. Es gilt als eine der grossartigsten Klosteranlagen Europas, die eine Filiale in der Aargauer Exklave Fahr unterhält. Besonders imponiert hat mir in Rita Lorenzettis Arbeit der Hinweis auf die schlichte und umso eindrücklichere Turmkapelle, zumal auch bei mir das Einfache, Bescheidene mehr Gefühle der Zuneigung auslöst, stärker zur inneren Einkehr auffordert, als das Feuerwerk des barock Überladenen, mit dem die Klosterkirche vollgepfercht ist. Es fehlt nur noch, dass Blinklichter die Heiligenscheine optisch betonen. Man entschuldige mir bitte dieses über den guten Geschmack hinausgehende Spässchen.
 
Wenn ich mich vor etwas verneige, dann sicher nicht vor protzendem Prunk, und sei er auch noch so kunstvoll gestaltet. Die Ausschmückung der Stiftskirche stammt aus den Jahren 1719‒1735, und ich verstehe durchaus, dass damals bildhafte Darstellungen andere Empfindungen auslösten als in der heutigen, mit unbewegten und bewegten Bildern und optischem Werbegeschrei überladenen Zeit – ich habe gelernt, alles aus seiner Zeit heraus zu verstehen zu suchen und akzeptiere deshalb bauliche und künstlerische Äusserungen, die unter anderen Vorzeichen entstanden waren. Um Präsenzmarkierung und Macht ging es schon immer.
 
Zu meinem Respekt und meiner Toleranz gehört auch, Menschen mit anderen Bedürfnissen und Wahrnehmungen zu respektieren, sie nicht zu stören, eine Folge meiner untadeligen Erziehung auch in religiösen Belangen. So war es für mich selbstverständlich, mich nach dem Eintritt in die Klosterkirche ruhig zu verhalten, wie es eine Hinweistafel gebot. Unauffällig schlich ich um die Gnadenkapelle, ein kleiner klassizistischer Giebelbau für die schwarze Madonna, im Zentrum des Oktogonjochs herum, dorthin, wo ich einen schönen Blick auf den basilikal aufgebauten Hochaltarbereich als kultisches und besonders üppig ausstaffiertes Zentrum, einschliesslich der Vertreibung aus dem Paradies, hatte.
 
Bei ausgeschaltetem Blitzlicht knipste ich ein Bild, nichts Böses ahnend. Ein freundlicher Herr in einem grauen Arbeitsmantel und mit Staubsauger bewaffnet, kam zu mir und sagte in freundlichem Ton, das Fotografieren sei hier nicht erlaubt, doch dürfe ich das geschossene Bild behalten – aber damit habe es sein Bewenden. Das unmittelbar vor mir aufgestellte Plakat, welches das Fotografierverbot stipulierte, hatte ich bei dieser Fülle an Eindrücken noch gar nicht gelesen. Daheim entdeckte ich bei einer Vergrösserung der Aufnahme, dass ich dieses Verbotsplakat mitfotografiert hatte.
 
Hoch und heilig versprach ich dem Wächter, nicht mehr fotografisch zu sündigen, und wir trennten uns in freundschaftlichem Einvernehmen. Ich hielt mich daran und verspürte so etwas wie einen Ablass.
 
Ich habe anschliessend mein Verhalten hinterfragt, wie ich es immer nach schwierigen Situationen zu tun pflege und stellte fest, dass ich mich manchmal wegen meiner eigenwilligen Wertvorstellungen wie ein Trottel benehme. Wirklich. Nicht im Entferntesten hatte ich angesichts dieser Pracht daran gedacht, dass in diesem grandiosen, bildkräftigen Menschenwerk das Bildermachen unerlaubt sein könnte. Wenn ich beispielsweise eine Moorlandschaft oder auf einer Alp ein polsterförmiges Mannsschild mit seinem halbkugeligen Wuchs, das Wind und Schneedruck standzuhalten vermag, fotografiere, dann überfällt mich, ehrlich gesagt, eine grössere Ehrfurcht als in der schönsten Kathedrale – und in der Natur würde ich mich mehr motiviert fühlen, eine Fotoerlaubnis einzuholen. Und so wurde mir denn wieder einmal bewusst, wie sehr neben den Schuhen ich mich durch die Wirrnisse meines Lebens bewege.
 
Wir suchten dann im Café Tulipan am Klosterplatz nach einer Stärkung – guter Kaffee und herrliches Gebäck wie ein dreieckiger Quarkkrapfen. Wir waren hier eingekehrt, weil ich in meiner anhaltenden Aufregung „Café Taliban“ gelesen hatte und mich davon irgendwie angesprochen fühlte. Auch das wird einer näheren Exegese bedürfen. Aber lassen wir das.
 
Wir hatten einen direkten Blick auf die Westfassade des Benediktinerklosters und die Platzanlage mit dem geteilten Rund der Kioske mit Kerzen und weiterem Wallfahrer-Bedarf und dem Liebfrauenbrunnen. Die Klosterfassade zeigte sich in einem düsteren Grau, weil die Sonne zuerst weiter nach Westen wandern musste. Es war erst vormittags um 11 Uhr. Aber imposant ist dieses Kloster Einsiedeln schon. Dennoch hatte ich das bestimmte Gefühl, ich sollte mich in Zukunft besser an naturgewachsene Biotope ausserhalb des Religiösen und des alles überragenden Sports halten und dort meine Erbauung finden.
 
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