Textatelier
BLOG vom: 02.08.2009

Bibersteiner Bundesfeier-Lehre: Wie man eine Bratwurst isst

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Bundesfeier Nummer 718 in der Schweiz. Neben der ekelhaften Knallerei und des Feuerwerk-Pulvergestanks, dessen Erzeugung leider niemand zu verbieten wagt, sind die gegrillten Kalbsbratwürste das zentrale Ereignis des Nationalfeiertags 1. August, so auch in Biberstein AG. Das Geld stammt aus der gut verwalteten und dotierten Gemeindekasse.
 
Der Schlosshof hat den Vorteil, dass darin aus Gründen des Brandschutzes nicht geknallt werden darf. So konnte man sich unbelästigt den Vorträgen des Jodlerklubs „Haselbrünneli“, des Posaunenquartetts „Trombajazzo“ und des Alleinunterhalters „Pit Sound“ (Peter Barmettler) hingeben, der alte Schlager aufleben liess, und die jungen Leute, die im Schloss ihr Heim gefunden haben, tanzten nach Herzenslust dazu. Gemeinderat René Bircher, dessen Ansprache ich wegen meines leicht verspäteten Eintreffens verpasste, habe sich nicht zu staatstragenden Worten aufgeschwungen, wurde mir gesagt. Er ist eine rücksichtsvolle Person, dem Wesentlichen zugetan.
 
Der Jodlerklub gibt jeweils alles, nicht allein in volksmusikalischer Hinsicht, sondern auch grilltechnisch. Seine Mitglieder nämlich sind es, welche die Bratwürste, die diesmal bezeichnenderweise aus der Metzgerei Speck in Aarau stammten, auf den Punkt bringen: schön braun. Und als ich meine Gratiswurst und ein Stück Brot abholte, erfuhr ich wieder einmal, wie man solch eine Wurst serviert, damit man sie von Hand essen kann. Taktile Gefühle erhöhen jeden Genuss.
 
Dazu braucht es nichts Weiteres als einen Bogen des bekannten, wasserabweisenden Wurstpapiers aus Pergamin. Es wird aus fein gemahlenem Zellstoff hergestellt, ist transparent und hat eine leicht rötliche Farbe. Die einigermassen gewährleistete Durchsichtigkeit erhält das Wurstpapier durch eine so genannte Satinage, also eine Streichmasse, die aufgetragen und wahrscheinlich mit Hilfe von einem Kalander (sich gegenläufig drehende Walzen, die pressen und glätten) veredelt wird. Schon ein gutes Wurstpapier ist ein Kunstwerk.
 
Der mit der Bratwurstabgabe beauftragte Jodler arbeitete auf hohem Niveau, ohne dabei aber seine Brust- und Falsettstimme einzusetzen, sondern für einmal rein manuell. Er nahm einen sich wachsartig anfühlenden Wurstpapierbogen und wickelte damit die Wurst, die er mit einer Zange darauf gelegt hatte, ein. Es schien, als ob er ihr einen Jupe anziehen (andrehen) wolle. Übrigens kann der Einpacker vollständig frei entscheiden, was bei der Wurst oben (wo man dann mit dem Hineinbeissen beginnt) und was unten (wo der Essgenuss endet) ist. Dies kommt der freiheitsliebenden, auf Unabhängigkeit bedachten Schweiz natürlich sehr zupass. Man lässt sich nichts vorschreiben.
 
Die Wurstumwicklung erfolgte also dergestalt, dass etwa 5 cm oder auch ein paar Millimeter mehr Wurst oben aus dem Papier herausschauten und sich vor dem Geniesser (meine Wenigkeit) leicht verneigte. Die Krümmung der Kalbsbratwürste muss ja schliesslich ihren Grund haben. Nun aber ist es nicht zu umgehen, dass das zu einer Röhre gewundene Wurstpapier am unteren, vollständig eingewickelten Wurstende zu lang ist. Zudem hat es wegen der mehreren Wickelschichten seine Durchsichtigkeit aufgegeben.
 
Es wäre ein grober, unverzeihlicher Fehler, würde man den vermeintlich überflüssigen Papierteil zum Beispiel mit einer Schere abschneiden und dabei vielleicht gerade noch das Wurstende beschneiden und damit verstümmeln. Beschneidungen sind auch in solchen Belangen hierzulande sehr verpönt. Nein, das nach unten überschiessende Papier hat durchaus noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Man faltet es etwa 3,5 mm unter dem Wurstende und legt es an den versteckten Wurstzipfel, den man durch Abtasten sehr wohl orten kann. Allfällig bestehende papierene Ohren drücke man mit viel Feingefühl so an die Wurst, dass deren Haut, ein naturgewachsener Schweinsdünndarm, keinerlei Schaden nimmt.
 
Mein grillwurstkundiger Jodler fasste die ordnungsgemäss zum Fingerfood gewordene Festwurst dort an, wo das umgeklappte Papier auslief und überreichte sie mir so, dass ich sie im untersten Teil fest und entschlossen anfassen und mich für diese perfekte Arbeit bedanken konnte.
 
Ich marschierte zusammen mit einer dicken Brotscheibe und einem Fläschchen Erlinsbacher Rosé voller Bewunderung für die Verpackungskünste an meinen Tisch; der wurstkundige Jodler hatte meines Erachtens die Verpackungskünstler Christo und Jeanne-Claude weit in den Schatten gestellt. Denn die beschriebene Art der Wurstverpackung hat über die rein ästhetische hinaus noch 2 wichtige Eigenschaften hinsichtlich der Isolation zu erfüllen: Die Hitze der Wurst wird im Halteteil zu einer angenehmen Wärme reduziert, und andererseits wird die Bratwärme in der Verpackung längere Zeit weitgehend bewahrt, wenn man nicht gleich drauflosessen kann. Denn bei grösseren Festivitäten kommt es immer wieder vor, dass man im dümmsten Moment in wichtige Gespräche verwickelt wird. Um die Wurst auf eine etwas geringere Temperatur abkühlen zu lassen, ist das manchmal allerdings sogar erwünscht. Denn ist die Wurst siedendheiss, können sich die Geschmackspapillen nicht frei entfalten, sondern ziehen sich verängstigt zurück, ihren Dienst quittierend.
 
Das Entscheidende an der erwähnten Verpackungsart habe ich noch nicht einmal erwähnt. Währenddem die Wurst von oben durch Abbeissen ständig eingekürzt wird, kann man durch ein einfaches Pressen des Wurstpapiers, gleich hinter dem Wurstende, dafür sorgen, dass ein weiteres Wurststück aus dem Papier gleitet – der Vorgang ist im Prinzip derselbe wie beim Bedienen einer Senftube; rein physikalisch kann man ihn im gleichen Kapitel abhandeln. Der Genuss ist nicht ganz leicht in Worte zu fassen, besonders wenn mindestens die Hälfte des Fleischanteils der Wurst aus Kalbfleisch besteht und der Macisgeruch der gebräunten Brühwurst zusammen mit dem Duft anderer Gewürze wie Frischzwiebeln, Zitronengewürze den Geniesser einlullt. Ein Traum.
 
Die echte Herausforderung stellt sich am bitteren Ende des Wurstgenusses ein. Ist der Wurstrest nur noch etwa 2,5  cm lang, besteht die enorme Gefahr, dass das abgerundete Schlussstück beim Zusammendrücken des Papiers herausflutscht und auf den Tisch oder gar auf den Boden fällt. Das muss mit allen Mitteln und dem Einsatz höchster Konzentration verhindert werden. Man umfasse also das Papier über dem Endstücklein mit dem Daumen und dem Zeigefinger der rechten Hand, führe es an die Lippen und verlagere den Druck ans Wurstende, so dass das Endstück gleich auf der Zunge landet. Nach 10 bis 20 Bratwürsten, die man in beliebigen Abständen essen kann, dürfte das jedermann bestens gelingen. Das ist ein Experiment. Fragen Sie einen Metzger oder einen Wursthändler ihres Vertrauens.
 
Da viele Leute Senf zur Bratwurst essen, ein gegenüber besten Würsten geschmacklich gewagtes Unterfangen, wird die Sache schon etwas komplizierter als es oben beschrieben wurde. Die Bibersteiner Jodler vom Haselbrünneli hielten für solche Fälle Kartonpappteller bereit, in denen auch gleich das Brot deponiert werden konnte. Plastikmesser und -gabel für Menschen, die in der Bratwurst-Fingerfertigkeit noch im Anfangsstadium sind, waren ebenfalls da. Selbstredend konnte ich ein gewisses Beileid solchen Banausen gegenüber nicht unterdrücken.
 
Aber es ist beim Bratwurstverzehr wie überall: Jeder soll auf seine Façon selig werden. Zu dieser Glückseligkeit habe ich noch nie Plastikbesteck gebraucht.
 
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