Textatelier
BLOG vom: 01.02.2010

Am Boniswiler- und Seengermoos: Gesänge über den Sumpf

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
 
So um Ende Oktober herum sei die Wandersaison beendet, hört man sinngemäss gelegentlich. Diese verbreitete Ansicht ist für die Landschaften, in denen sich der Schneeanfall in Grenzen hält, der reine Unsinn – aber auch anderswo: man kann selbst auf hohem Schnee Schneeschuhwandern.
 
Am Dienstagnachmittag, 26.01.2010, habe ich zusammen mit dem naturkundigen Reservatsbetreuer und freiwilligen (ehrenamtlich wirkenden) Fischereiaufseher René Berner aus Boniswil AG am unteren Hallwilersee-Ende, dem sogenannten Seezopf, eine winterliche Exkursion unternommen. Berner ist Reservatsbetreuer des Boniswiler und des Seenger Rieds, die zusammen eine Fläche von gut 50 Hektaren belegen. Der 1.84  m grosse Mann, der nicht allein in Bezug auf Naturschönheiten seine Genussfähigkeit erkennen lässt, trug einen breitrandigen, schwarzen Filzhut, den er einmal aus Polen mitgebracht hatte, sowie eine blaue Allwetterjacke und war mit Rucksack und Feldstecher ausgerüstet. Ein leichter Schneefall hatte gerade aufgehört; die Temperatur bewegte sich um den Gefrierpunkt herum. Der Himmel war leicht verhangen. Sobald die Sonne für ein paar Minuten eine Gelegenheit fand, durch eine Lücke im hochnebligen Gewölk ein Bündel von Strahlen auf die Moorlandschaft beidseits des Aabachs zu schicken, überzog ein metallisch-kupferfarbener Glanz den schwarz-grauen Aabach und die von einem Schneeüberzug markierten Bäume, Stämme und Sträucher: umwerfende Bilder, selbst für Standhafte auf dem vereisten Boden.
 
Nachdem der grosse Baumbestand seine Blätter losgeworden war, konnte das wunderschöne Wasserschloss Hallwyl mit seinen mittelalterlichen Rundungen und anderen Formen hinter dem grünen Vorhang hervortreten. Für kurze Zeit fühlte ich mich wie Waltherus de Allewilare, der hier und hinauf bis Seengen seine Herrschaft ab 1167 begründet hatte – allerdings noch vor der ersten urkundlichen Erwähnung der Wasserburg (1256) und der Herren von Hallwil.
 
Etwa 100 Dohlen mit angegrautem Nacken genossen auf hohen Buchen die Aussicht; im Übrigen residieren sie in Mauernischen des Schlosses, das von einer Schutzmauer mit Zinnen umgeben ist. Schlosstürme und Burgruinen sind von ihnen bevorzugte Wohngelegenheiten, die sie gleich kolonienweise belegen. Der Dohlenbestand beim Schloss Hallwyl war auch schon dreifach höher gewesen; doch fiel der Grossteil einmal einer hirnverbrannten Krähenvergiftung zum Opfer – tödliche Gifte unterscheiden nicht zwischen den Krähenvögeln, zu denen auch die Dohlen gehören.
 
Im Aabach badete ein mit dem Schwanz wippendes, seelisch etwas erregtes grünfüssiges Teichhuhn (Gallinula chloropus) mit rotem Stirnschild, eine Rarität, denn laut der Tabelle „Bestandsentwicklung Indikatorarten im Boniswiler und Seenger Ried 19892009“ gab es 2009 gerade 2 Exemplare davon. Und bei der Frauenbadi – einst wurde hier geschlechtergetrennt gebadet, was allerdings nicht auf die weniger prüden Wasservögel abfärbte – begegneten wir einem Blässhuhn, das weniger rar ist und als häufigste Rallenart gilt. Der Name stammt von der weissen Stirnblesse, die sich vom schwarzen Gefieder abhebt und ein gutes Erkennungsmerkmal ist. Wenn mir meine ornithologischen Kenntnisse nicht mehr weiterhalfen, was bald einmal der Fall ist, war ja René zur Stelle, der alle gefiederten Geschöpfe mit ihren Namen und Eigenheiten kennt und auch an Bestandszählungen teilnimmt. Diese Zählungen geben immer eher zu kleine Bestände an, zumal ja nicht alle Geschöpfe entdeckt werden und gewisse Stellen von den Zählequipen umgangen werden, wenn immer sie zu einer Störung der Tiere führen könnten.
 
Im Boniswiler Ried
Wir kamen dann in den Bereich des gemähten Boniswiler Rieds, dem grössten und artenreichsten Ried im Aargau mit 329 Pflanzenarten, wovon ein Drittel auf der Roten Liste steht; hinzu kommen noch 154 Vogelarten. Die ebene Fläche war im Herbst 2009 wie jedes Jahr zurückgeschnittent worden. Lange und breite Walme von Schnittgut verwandelten sich am Wegrand zu Kompost, von einer dünnen, kühlenden Schneedecke in dieser Entwicklung etwas behindert. Einige Schilfflächen waren nicht gemäht, damit Insekten wie Zebraspinnen nicht vollständig vertrieben wurden (merkwürdigerweise ist das Seengermoos demgegenüber vollständig rasiert – und zwar von derselben Mannschaft). Beim nächsten Schnitt werden im Boniswiler Ried dann auch diese Brachen von der Abteilung Tiefbau des Kantons Aargau gemäht; dafür bleibt etwas Schilf und Weidengebüsch daneben stehen, so dass sich so etwas wie Wanderbrachen ergeben.
 
Auf Weidebüschen wurden 728 Insektenarten gefunden; die „Widechätzli“ (Weidenkätzchen) ziehen früh im Frühling schon Insekten an, die für Vögel zu einem gefundenen Fressen werden. Laut René Berner wäre es zwar ökologisch sinnvoller, die Schilfbestände jeweils 3 statt bloss 2 Jahre stehen zu lassen. Doch spricht die Praxis des Mähens dagegen; denn inzwischen würden Faulbäume, Eschen und Erlen derart weit gedeihen, dass ihnen mit den üblichen Mähgeräten nicht mehr beizukommen wäre.
 
Tatsächlich herrschen in dieser Feuchtzone unwahrscheinlich gute, ja ideale Wachstumsbedingungen, wozu allenfalls gewisse unerwünschte infiltrierende Nährstoffe aus der Landwirtschaft beitragen – Berners Herzenswunsch ist eine Vergrösserung der Schutzzonen als Ursachenbekämpfung der Seeüberdüngung.
 
Innert einem einzigen Jahr wuchs zum Beispiel eine Grauweide, in der gerade ein Zaunkönig herrschte, bis auf etwa 2,5 m Höhe empor. Die Heckenbildung geht schnell, wie auch an einer Versammlung von Weiden, gemeinem Schneeball (mit roten Knospen) und Kreuzdorn zu erkennen war. Waldreben (Nielen) wachsen dem Schatten davon, und der Hopfen windet sich an Bäumen dem Licht entgegen. Viele Bäume tun sich durch eine ausgesprochene Zwieselbildung (mit gegabelten Stämmen und mehrfachen Kronen) hervor, umklammern einander wie eine Traubenkirsche, die mit einer Säulenpappel eng verschmolzen ist, eine Umklammerung auf Dauer.
 
Am Moorrand sind einige Amphibientümpel ausgehoben, und Entwässerungsgräben ziehen sich dem Seeufer zu, begleitet von Seggen mit ihrem dreikantigen Stängel. Ein Wanderweg führt am Feuchtgebiet, am Feuchtwald und am Hochstaudenflur vorbei, der nicht verlassen werden darf. Im Übrigen gilt ein ganzjähriges Betretungsverbot (laut Hallwilerseeschutzdekret vom 13.05.1986 und der Bau- und Nutzungsordnung Boniswil vom 05.06.1998). Die ersten Schutzbemühungen gehen auf 1927 zurück. Sie sind in diesem Gebiet mit dem grossen Erholungsdruck zwingend.
 
Im Seengermoos
Wir machten dann noch einen kleinen Spaziergang zum Seengermoos, wo in der Nähe des nachgebauten Pfahlbauerhauses mit dem etwas instabilen Fundament noch ein Tümpel vorhanden ist, der ans ehemalige Seenger Moorbad erinnert. Vis-à-vis der Schiffsanlegestelle, wo wir mit einigen Blässhühnern zusammentrafen, sieht man den geschützten und zum guten Glück kaum zugänglichen, nassen und überstauten Erlenbruchwald (Risle), den grössten der Schweiz übrigens. Man kann darin leicht in den torfigen Boden einsinken. Die Schwarzerlen bilden hier Seitenwurzeln (Adventivwurzeln) aus, womit sie auf die leichten Wasserstandsschwankungen reagieren können.
*
Dank der kompetenten Führung von René Berner, der früher als grafischer Gestalter der Zeitschrift „Natürlich“ tätig war – der richtige Mann am richtigen Ort – und seit Herbst 2009 den vorgezogenen aktiven Ruhestand gestaltet, habe ich an der Peripherie von Schutzgebieten mit nationaler Bedeutung erlebt, wozu sich die Natur aufschwingen kann, lässt man sie weitgehend gewähren. Das Leben im Sumpf, Ried und Moor ist unendlich reich und mannigfaltig. Es verlangt von allen Bewohnern gewisse Anpassungen – und auch von den Menschen, die sich in die Nähe von Feuchtgebieten begeben.
 
Wer sich mit den grandiosen Lebensräumen einlässt, wird zu einer Abwandlung der beliebten Teichrohrsänger oder Sumpfrohrsänger, wie die Vogelgattungen heissen. Er stimmt Loblieder an. Das Sumpfrohrsänger-Männchen beispielsweise singt während der ganzen Brutzeit, die etwa 12 Tage dauert, vor lauter Begeisterung über dieses Naturwunder der Vermehrung, wonach es sich um die Futterbeschaffung kümmern muss.
 
Mein publizistischer Lobgesang auf die Moore im Seezopf ist damit beendet. Unser persönliches Futter beschafften sich René und ich im Seehotel „Delphin“ im nahen Meisterschwanden (Bezirk Lenzburg), wo für uns Egli- und Felchenfilets knusperig zubereitet wurden. Eine junge, offenbar in Ausbildung begriffene Serviererin bediente uns liebevoll und aufmerksam. Es störte uns überhaupt nicht, dass sie nicht wusste, wie man den Bügelverschluss einer Schlör-Apfelsaftflasche öffnet. Solch einen Verschluss hatte sie noch nie gesehen. Wir zeigten es ihr zu ihrer Begeisterung. Was es doch alles gibt! Wie faszinierend doch ein Rückfall in die guten alten Zeiten sein kann, als es noch Flaschenverschlüsse mit Drahtfedern, einem gummiringgepufferten Porzellanzapfen und zudem gerade noch Naturreichtümer gab, die ebenfalls selten geworden sind! 
 
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