Textatelier
BLOG vom: 07.04.2010

Auf dem Pfaffenberg: Veronika und auch der Lenz waren da

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
 
Zwischen dem mittleren Suhrental und dem mittleren Wynental befindet sich eine hügelige Molasse-Landschaft, die mit Wiesen, Buchen-, Föhren- und Tannenwäldern bedeckt ist. Weit verstreute Bauernhäuser sind an sonnigen Hängen in windgeschützte Mulden eingebettet, als ob sie die Ruhe und Beschaulichkeit in diesem abgelegenen Gebiet nicht stören und die Hofsiedlungslandschaft nicht betonen wollten. Die Weiler und Dörfer sind drunten im Tal der Ruederche versammelt, entlang eines rund 9 Kilometer langen Bachs, der im Schiltwald beim gleichnamigen Weiler in der Gemeinde Schmiedrued an mehreren Stellen entspringt und sich dann zu einem fusionierten Gewässer sammelt, das bei Schöftland in die Suhre fliesst, die der Aare zuströmt; das Treffen erfolgt in der Telli in Aarau. Das Ruedertal verbindet das Suhren- mit dem Wynental (und umgekehrt) sozusagen in einer Diagonalen.
 
Das Tal heisst Ruedertal und besteht aus den Gemeinden Schlossrued (unten) und Schmiedrued (talaufwärts). Der Weiler Kirchrued mit der einzigen Kirche im Tal gehört zu Schlossrued. So „ruedet“ es hier also an allen Ecken und Enden, wobei der Namensbestandteil Rued nicht als Umlaut (ü), sondern buchstabengetreu als u-e ausgesprochen wird. Dieses Rueden geht angeblich nicht auf das Roden (Umhauen des Waldes) durch die Alemannen im 5. und 6. Jahrhundert zurück, sondern auf den Namen „Ruodan“, der in der „Acta Murensia“ aus der Zeit um 1160 vorkommt; er schmückte die Herren von Ruoda, ein kyburgisches und später habsburgisches Dienstmannengeschlecht, das 1369 ausstarb. Die Herrschaft Rued wurde dann zu einem Handelsobjekt, ähnlich den Industrieunternehmen in der globalisierten heutigen Welt. Teilungen, Verpfändungen, Verkäufe und Käufe erfolgten in munterer Folge. Wer mehr darüber und auch über das Schloss von Schlossrued (nach einem Brand 1792 bis 1796 in seiner heutigen Form oberhalb des Dorfzentrums wieder aufgebaut) lesen möchte, kann das unter www.schlossrued.ch gern tun.
 
Die Namengebung auf Ruoderahu zurückzuführen, was „beim Ruderbach“ bedeutet, scheint mir im vorliegenden Fall etwas gewagt zu sein, denn die schmale Ruederche liesse sich besser mit Stiefeln durchwaten als rudernd überqueren; ein anständiges Ruderboot könnte man bequem als Brücke vom einen zum anderen Ufer über das nur 2 bis 3 Meter breite Bächlein legen. Denn im Ruedertal gibt es nichts, das auf Grösse oder gar Superlative abzielt, keine Wolkenkratzer und keine Autobahnen. Und die Übergänge ins Suhren- und Wynental Benkel bzw. Bänkel (Kirchrued‒Kirchleerau), Pfaffenberg (Oberkulm Schlossrued/Schmiedrued) und Tanzplatz (Unterkulm‒Schlossrued, über Punkt 621) sind bescheiden ausgebaut; man weiss nie so recht, ob es sich um eine ein- oder zweispurige Strasse handelt. Ich schätze die Spurenzahl auf 1,5 ein.
 
Als sich die Autokolonnen am Karfreitag, 02.04.2010, am Gotthard in der Hoffnung auf eine gelegentliche Weiterfahrt stauten, fuhr ich einsam von Oberkulm im Wynental über den Pfaffenberg nach Kirchrued. Das war mein einziger Pfaffen-Kontakt an diesem hohen Feiertag. Ich stellte das Auto auf dem Parkplatz bei der Pfarrkirche Kirchrued, ein harmonischer, ausgewogener Baukörper mit Satteldach und dem zierlichen Dachreiter mit Spitzhelm, ab. Das unspektakuläre Eichenholzportal, ein Beispiel solider Handwerkskunst, war gerade geschlossen, so dass ich mich mit dem Betrachten von Fotos begnügen musste, die auf einer transparenten Informationstafel neben der Friedhofmauer abgebildet sind. Immerhin war die Sonnenuhr in Betrieb; sie hatte aber noch nicht auf die Sommerzeit umgestellt.
 
Von der Info-Tafel habe ich erfahren, dass an dieser Stelle seit über 1000 Jahren immer ein Kirchlein gestanden hat. Als Beleg dafür dienen die Umfassungsmauern einer kleineren vorromanischen Anlage mit halbrunder Apsis (Altar-Nische), die im Inneren der heutigen Kirche gefunden wurden.
 
Zu den bedeutenden Ausstattungselementen des Kirchleins gehören ein Taufstein in der Form eines spätgotischen prismatischen Kelchs und die Wappenscheiben, welche der von-May-Familie gewidmet sind, wie die Allianzscheibe der von May-von Mülinen. In dieser wird zwischen Kriegstrophäen in einer Inschrift auf Johann Rudolf May, Herr zu Rued und Leerau, und Margaritha May, geborene von Mülinen 1651, hingewiesen.
 
Mit diesem May-Wissen im Gepäck folgte ich am 2. April-Tag dem Wanderwegweiser „Waltersholz“, schritt zügig eine an die vorangegangenen Niederschläge erinnernde, saftige, zum Teil steile Naturwaldstrasse hinan, neben welcher der Wald stark ausgelichtet war. Etwa 50 cm breite Pneuspuren zeugten vom Einsatz schwerer Holzerntemaschinen. Oberhalb des Gebiets Rüedi (598 Höhenmeter), wo eine kleine Wohnbautengruppe ist, verliess ich den Wanderweg vor dem Beidel-Waldrand nach links (Nordost) und genoss den Ausblick zu einem Teil von Oberkulm, insbesondere zur Hangüberbauung am Ischlag, einem der Hügel, der das Wynental gegen Osten begrenzt.
 
Ich entdeckte dann gleich einen Naturweg, der nach links über die leicht kupierte Pfaffenberg-Hochebene führt. Er tangiert eine frei stehende alte Linde, neben der die Jahrringe eines aufgeschnittenen Stamms die zeitliche Dimension seit dem Jahr 1900 markieren. Bei meinem Geburtsjahr 1937 war der Stamm noch ganz dünn, und inzwischen hat er gewaltig an Umfang zugelegt, weshalb ich mich hier in bester Gesellschaft fühlte und eine erneute Bestätigung für die Berechtigung der häufigen Metaphern Mensch/Baum erhielt.
 
Bei einem eben erwachenden Acker blühte der Persische (Grosse) Ehrenpreis (Verónica pérsica), der weisslich-gelbliche Blütenschlund ist himmelblau umrahmt. Ja: Veronika, der Lenz ist da ... aber keine Mädchen sangen tralala ... Die ganze Welt ist wie verhext. Drum lasst uns in die Wälder ziehn. Fritz Rotter hat diesen schönen, hier etwas zurechtgebogenen Liedtext um 1930 gedichtet und dabei selbst ein Frühlingserwachen bei Grossvätern und wohl auch solchen, die es gern geworden wären, geortet.
 
Niedrige, abgeflachte Kumuluswolken hingen wie Raumschiffe über der melancholischen Landschaft aus einer Ansammlung von unregelmässig verteilten Bodenerhebungen, Halbkugeln, die aus dem Winterschlaf zu erwachen versuchten – neues Leben klopft in dieser abgeschiedenen, gekerbten Hemisphäre zwischen 2 belebteren Seitentälern heimlich an.
 
Auf der Pfaffenberg-Passhöhe stand vor einem Rotaver-Silotrio neben einem Bauernhof ein riesiger Polystyrol-Geburtstagskuchen mit dem Hinweis „Susi 50“. Die roten dicken Kerzen, die ihn umrundeten, waren weit hinunter abgebrannt und mit Krusten aus abtropfendem Wachs modelliert. Bei einem nachfolgenden Bauernhof mit der Aufschrift „Lohnbrennerei“ sass eine freundlich grüssende Menschengruppe an der Sonne, die manchmal von einem vorbeiziehenden Wolkengebilde verschwand und dann ihre Wärmelieferung unverzagt wieder aufnahm.
 
Auf der geteerten Strasse wanderte ich nach Kirchrued hinunter. Etwa 4 in der Wiese neben dem Strassenrand liegende, über weite Distanzen verstreute Hüllen von CD-Rs mit US-Pop wollten so gar nicht in diese Gegend passen. Einen Reim darauf konnte ich mir nicht machen. Kühe konsumieren so etwas nicht, sind schon etwas wählerischer. Doch durch und durch authentisch mutete ein Bauernhaus dort an, wo die Pfaffenbergstrasse zwischen Schlossrued-Dorf und Kirchrued in die Hauptstrasse mündet. Muntere Hühner stolzierten und pickten beidseits des Verkehrsträgers herum. Ein auffallend gut gelungener Brunnen mit 2 übergrossen, ebenmässig polierten menschlichen Antlitzen auf der Vorder- und einem auf der Rückseite des Brunnenstocks und eine Fegbürste im Trog gehörte zu diesem Idyll. Die Rundungen der Wasser spendenden Gesichter korresponieren mit der umliegenden Landschaft.
 
Ich wollte die Gelegenheit für einen Freilandeier-Kauf nützen, zumal ich gerade am Vortag Marianne Kaltenbachs Kochbuch „Aus Italiens Küchen“ studiert und darin auf die Frittata alla Salvia (Omelett mit Salbei) gestossen war. So wartete ich geduldig, bis eine naturverbundene Frau mit grau meliertem Haar vom sympathischen, lebenskünstlerisch bewundernswertem Aussteiger-Typus erschien. Diese Belebung ihres Anwesens durch die auffallend vitalen Hühner gefalle mir, begann ich das Gespräch, und ich erkundigte mich nach der Rasse. Das könne man nicht so genau sagen, antwortete die Frau. Sie hält Hühner seit Jahren. Ursprünglich waren es die normalen Legehennen, denen einmal ein Appenzeller Hahn und dann wieder ein Schweizer Güggel gegönnt wurde. Viele der Hühner benähmen sich wie Wildgeflügel, fügte die lächelnde Frau bei; oft wollten sie abends nicht in den Stall, sondern übernachteten auf Bäumen. Wie es sich für Eierlegende gehört.
 
Das beförderte meinen Eier-Wunsch zusätzlich ... wie muss ein Ei von solchen Tieren schmecken! Natürlich hielt ich mich mit einer Bestellung nicht zurück. Leider war diese infolge Lieferschwierigkeiten nicht zu erfüllen. Wegen der Ostern, die damals ja gerade bevorstand, war alles ausverkauft. Auch mein Hinweis auf das Salbei-Omelett, das vor allem von Eiern lebt, half nicht weiter. Wo nichts ist ...
 
Ich dankte für das Gespräch, verabschiedete mich und fuhr durch die Hügellandschaft, die mich an halbierte, auf die Schnittfläche gelegte Eier erinnerte, heimzu. Dort fand im Kühlschrank einen Karton mit 6 Bio-Eiern. Also dünstete ich gehackte Zwiebeln und Salbeiblättchen aus dem Garten in Butter an, liess die herrlich duftende Masse etwas erkalten. Die Ei-Inhalte schlug ich kurz, zog reichlich Parmesan darunter, würzte mit Steinsalz und Muskatnuss, gab das Gedünstete hinzu und buk eine Omelette, die innen golden und aussen schön braun war. Innen aber war sie zu wenig saftig, wie auch Eva feststellte. Ich hätte noch etwas Olivenöl unter die Eiermasse mischen müssen. „Du musst wieder mehr kochen“, warf sie ein, was im Klartext hiess: Dir fehlt die Übung.
 
Das Kochen ist schon eine Übungssache, zugegeben; nur durch die Praxis entsteht das Gefühl für die richtige Hitze, für die richtige Gardauer, für das richtige Würzen. Und selbst ein Omelett, dessen Zubereitung als kinderleicht gilt, bedarf grösster, auf Übung basierender Sorgfalt.
 
Agatha Christie (1890–1976) hat im Kriminalroman „Die Katze im Taubenschlag“ ein Gespräch von Julia Upjohn mit Hercule Poirot wiedergegeben:
 
„Das Essen war manchmal etwas eigentümlich“, gab Julia zu.
„Eigentümlich ist das richtige Wort.“
„Aber Tante Maureen macht wundervolle Omeletts.“
„Wenn sie wundervolle Omeletts macht, hat Hercule Poirot nicht umsonst gelebt. Ich habe es ihr beigebracht", erklärte Poirot strahlend.
 
Nach alledem, einschliesslich dieser literarischen Erinnerung, fühle ich mich veranlasst, meine Omeletts zu perfektionieren, um meinem Leben einen Sinn zu geben. Wahrscheinlich geht das nicht ohne Freilandeier aus dem Ruedertal. 
 
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