Textatelier
BLOG vom: 26.04.2010

Aphorismen: Geistesblitze, Gedanken, klar oder verschleiert

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
 
„Zuerst ist die Ehe ein Seiltanzen, dann ein Tauziehen.“
Emil Baschnonga (*1941)
*
Im obigen Aphorismus aus 9 Wörtern ist auf bildkräftige Art ein Teil der Lebensgeschichte von 2 verheirateten Personen erzählt – prägnant, geistreich, in sich geschlossen, klar in der Aussage. Ein Resultat aus Erkenntnis, Erfahrung und Lebensweisheit Es gibt nichts hinzuzufügen; man könnte solch ein Exzerpt nur noch zerreden.
 
Ich will mich davor hüten, grenze meinen Text ab; schliesslich bedeutet aphorismós in der griechischen Sprache Abgrenzung, auch Bestimmung. Etwas zu erklären, das eindeutig formuliert ist, wäre zu viel der Liebesmüh’. An dieser Stelle geht es nur darum, die Kunstform des Aphorismus als solche kurz darzustellen, die Schönheit des oft überspitzten, sicher immer und in mancherlei Hinsicht anregenden Denkspruchs zu feiern.
 
Das geschieht nicht ohne Grund: Im April 2010 ist die Anthologie „Neue deutsche Aphorismen“ erschienen. Die Herausgeber, Tobias Grüterich, Alexander Eilers und Eva Annabelle Blume, haben für dieses sorgfältig editierte Buch „die besten Aphorismen der letzten 25 Jahre ausgewählt“. Darunter befinden sich 7 Lebensweisheiten, die unser Blogger in London, der Schweizer Schriftsteller Emil Baschnonga, formuliert hat. Er hat sie bereits auf unserer Webseite publiziert. Es sei mir in diesem Zusammenhang gestattet, stolz auf unsere Autoren zu sein, die alle mit ihrem ausgezeichneten Schaffen immer wieder Beachtung finden, zitiert werden.
 
Die über unsere Webseite verbreiteten Blogs haben sich nicht nach bestimmten stilistischen Vorgaben zu richten, sondern alle Bloggerinnen und Blogger sollen sich vollkommen frei entfalten können, wenn möglich in der Ich-Form, um die Subjektivität zu betonen, aber selbst das muss nicht unbedingt sein. Auch in Bezug auf die Länge und die Form (Tagebuchblatt, Feuilleton, journalistischer, mit Engagement geschriebener Bericht, persönlichen Gefühlen entsprungener Kommentar, wissenschaftlicher Bericht, Satire, Humoreske, Aphorismus, Lyrik usf.) gibt es keine Begrenzungen, keine Einengungen. Nur unter solchen Voraussetzungen ist meines Erachtens eine freie Entfaltung gewährleistet. Zu einem guten Inhalt gehört die passende Form.
 
Und das hat sich auch hinsichtlich der Baschnonga-Aphorismen offensichtlich bewährt. Sie führen eine Kürzestform der prägnanten Aussage fort, die es schon in der Antike gab, etwa in den medizinischen Bemerkungen und Lebensregeln des Hippokrates (um 400 v. u. Z.). Ein Beispiel, das in die Welt des Aphorismus wunderbar passt: „Vita brevis – ars longa“ („Das Leben ist kurz – die Kunst währt lange“).
 
Meister der aphoristischen Form waren unter anderen die französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts wie La Rochefoucauld („Maximes et Réflexions“) und La Bruyère, sodann der französische Philosoph Blaise Pascal und der Spanier Gracián, im 18. Jahrhundert, dann Montaigne und Lichtenberg, gefolgt von Goethe, Friedrich Schlegel, Novalis, Heine, Hebbel, Schopenhauer, Nietzsche, Karl Kraus, Ebner-Eschenbach und vielen anderen. Auch der berühmte Religionskritiker Karlheinz Deschner gehört meines Erachtens dazu: Je grösser der Dachschaden, desto schöner der Ausblick zum Himmel.“
 
In Frankreich wurde die poetische Kunstgattung der Aphorismen pensées, maximes, réflexions oder sentences genannt; manchmal trifft man auch die Bezeichnung Fragmente an, wobei aber, genau genommen, jeder Ausdruck seine eigene Bedeutung hat. Das Wesen des Aphorismus ist seine Knappheit, mit der ein persönlicher, isolierter Gedanke ausgedrückt wird. Demgegenüber ist das Sprichwort als solches eine bündig-anschauliche Zusammenfassung kollektiver Erfahrungen: „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer“ (Äsop, Fabel 304), oder ein lockerer gedanklicher Seitensprung: Appetit holt man sich woanders, gegessen wird zu Hause.“ Und Maximen (Leitsprüche) sind allgemeine gültige Lebensregeln oder Anweisungen – sie sind den Aphorismen also nahe verwandt: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen" (Immanuel Kant). Und genau das tat Max Horlacher (79) aus Wallbach AG in einem Text im Jahresbericht 2009 der Neuen Aargauer Bank: „Wenn Vögel an der Uni fliegen lernen müssten, wären sie noch immer am Boden.“
 
Sentenzen (Gedanken, Meinungen, Urteile) sind meistens in Versform gehalten, aber nicht immer; sie sind meistens aus literarischen Werken oder Dramen herausgelöst: „Die Axt im Hause erspart den Zimmermann“ (aus Friedrich Schillers „Tell“). Oder, in Versform:
 
„Das Gute - dieser Satz steht fest –
Ist stets das Böse, was man lässt!“
(Aus „Die fromme Helene“ von Wilhelm Busch)
 
Auf dem Buchrücken der neuen Aphorismen-Anthologie steht diese Kostprobe: „Je kürzer der Text, desto ungeduldiger der Leser“ (Elazar Bebyoëtz). Die Aussage dieses Einfalls ist für mich eher schwer verständlich, und er eignet sich deshalb zum Aufzeigen, dass die Aphoristik auch Deut- und Entdeckungskunst bedeuten kann: Wird ein Leser ungeduldig, weil in die Kürze halt immer auch eine gewisse Unvollständigkeit bedeutet?
 
Es gibt Gedanken, die unerklärt bleiben, ob schon sie der Erläuterung, vielleicht eines Beweises bedürften. Johann Wolfgang von Goethe hat einmal die „Dunkelheit gewisser Maximen“ als unvermeidlich bezeichnet, und Friedrich Schlegel pries eine gewisse Rätselhaftigkeit als reizvoll. Der Leser muss in derartigen Fällen bei der Lösung des Rätsels mitwirken, also einer schwierigen Aufgabe gewachsen sein. Oft gelingt ihm dies nur, wenn er sich in der geistigen Welt des betreffenden Autors einigermassen auskennt. Da dort aber Widersprüche inbegriffen sein können, führt nicht einmal das immer zum Ziel.
 
Auch dazu gibt es im neuen Buch den passenden Aphorismus (von Jacques Wirion): „Reizender als ein philosophisches Problem ist die Problematisierung einer philosophischen Lösung.“
 
Das trifft ja selbst auf unsere reizvollen Damen zu, wenn man Alfred Hitchcocks Maxime Glauben schenken darf: Es ist absolut sinnlos, die Frauen verstehen zu wollen, wo doch ihr grösster Reiz in der Unergründlichkeit liegt.“
 
Buchhinweis
Grüterich, Tobias; Eilers, Alexander, und Blume, Eva Annabelle. „Neue deutsche Aphorismen. Eine Anthologie“, Verlag edition Azur, D-01097 Dresden 2010.
 
Hinweis auf ein Blog über Zitate von Walter Hess
 
Hinweis auf Aphorismen-Blogs und Lyrik von Emil Baschnonga
 
Quellen
„Meyers enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden“, Bibliographisches Institut Mannheim 1981.
„Das Fischer Lexikon Literatur 2/1“, Fischer Bücherei 35/1, Frankfurt am Main 1965.
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