Textatelier
BLOG vom: 23.05.2010

Der Stabhochspringer (2): Ein verkappter Robin Hood?

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
2. Episode
Als Hussein das 30. Altersjahr erreicht hatte, drängte sich ihm eine Bestandesaufnahme seines bisherigen Lebens auf. Er merkte, dass seine Agilität nachliess und sah ein, dass er seine höchst bizarre Diebeskarriere in absehbarer Zeit wenn nicht aufgeben, so doch neu gestalten musste. Trotz seines gesellschaftlichen Schliffs war er ein Einzelgänger geblieben, ein Aussenseiter, ein Grenzgänger im Niemandsland, ein Maskenträger. Sein unstetes Leben ohne festen Wohnsitz verunmöglichte den Aufbau von Freund- und Bekanntschaften. Sein einziger Freund war Piet. Schon in jungen Jahren hatte sich in ihm ein Trotz angestaut. Er fand es schwer, sich in eine bestehende gesellschaftliche Ordnung einzufügen, sei es in der Schule, ja selbst in seiner Familie.
 
Hussein konnte Schwächen in anderen Menschen leicht erkennen und für seine eigenen Zwecke nutzen. Aber seinen eigenen Schwachstellen kam er nicht bei, weil er sie nicht wahrnahm oder nicht wahrnehmen wollte. Instinktiv schuf er sich eine wahnwitzige Krücke, vom Stabhochsprung symbolisiert, als Brücke seiner kafkaesken Wirklichkeitsflucht.
 
Wie kam es, dass sich Hussein vom Kleptomanen zum Altruisten verwandelte? Kapriziöse Fingerzeige des Zufalls lösten seine Gewissensbisse aus. Ein Gesinnungswandel bahnte sich an. Dieser Wechsel jedoch vollzog sich zögernd und etappenweise.
 
Wie viele Einbruchdiebstähle hatte das Duo Hussein und Piet begangen? Sie mochten 40 oder 50 auf dem Kerbholz haben, ohne dass sie dabei ein einziges Mal ertappt worden sind. Viele der Bestohlenen bemerkten ihren Verlust erst nach etlichen Wochen. Wenige benachrichtigten die Polizei, denn sie wollten kein Aufsehen erwecken. Die Versicherungspolicen beschränkten sich auf nachweisebare Diebstähle. Indizienbeweise fehlten durchs Band. Eine Frage, die eine Versicherungsgesellschaft unweigerlich stellt, ist: „Warum ist ihre Sammlung nicht sicher in einem Banksafe aufgehoben?“ Wer tut das schon, der ein echter Sammler ist? Das tun doch nur Hochstapler, die ihre unlauteren Gewinne auf  krummen Wegen in Wertanlagen wechseln, entweder um den Fiskus zu prellen oder den Fangarmen der Gesetze zu entschlüpfen.
 
In Sammlerkreisen wurde es nach und nach ruchbar, dass ein gerissener Kunstdieb, sogar eine Bande, am Werk sein musste. In Sammlerjournalen mehrten sich die Anzeigen von verschiedenen Opfern, die nach ihren Verlusten fahndeten und sogar Finderlohn anboten. Wie gesagt, lebte Hussein ohne festen Wohnsitz „bald da, bald dort“, wie er sich ausdrückte. Warum blieb er, mit seinen vielen Kontakten mit Kunstliebhabern, über jeden Verdacht erhaben? Privatdetektive wurden mit der Suche nach besonders wertvollen Objekte beauftragt. Der Verdacht fiel, wie absehbar, immer wieder auf Familienmitglieder. Keines der gestohlenen Kleinode wurde von Hehlern angeboten. Alle Fährten versandeten spurlos.
 
Ein Journalist mit ausgeprägtem Spürsinn schnupperte eine Geschichte hinter diesen sich häufenden Diebstählen von Kleinobjekten. Behelfsmässig und auf spärliche Hinweise abgestützt, mutmasste er: Einer oder mehrere gewiegte Kunstkenner sind dafür verantwortlich, und haben sich ausschliesslich auf erlesene Kleinode spezialisiert – worunter sogar ein Fabergé-Ei –  alles Objekte, die zwar nicht ins Gewicht fallen, doch von gewichtigem Wert sind und folglich leichter geklaut werden können. In einer Zeitungsglosse fragte er höchst spekulative: Handelt es sich bei diesem Kunstdieb gar um einen Robin Hood?
 
Seine Glosse wurden da und dort vom Facebook und ähnlichen Online-Quellen aufgegriffen. „Sucht nicht weiter“,  meldete sich ein Schalk im Netzverkehr, „dieser Robin Hood bin ich!“ Allerlei Spasstreiber hielten mit. Ein Filmproduzent kam auf die Idee, diesen fiktiven Robin Hood zu verfilmen und setzte sich mit dem Journalisten dieser Glosse in Verbindung.
 
Hussein und Piet waren eben dabei, ihren nächsten Einschleichdiebstahl, diesmal in Schottland, vorzubereiten, als sie von dieser Glosse erfuhren. So hielten sie Kriegsrat.
 
„Auf diesen Schnüffler können wir verzichten“, betonte Hussein. „Wer weiss, vielleicht ist er uns schon auf den Fersen …Wir wollen doch nicht als Robin Hood in die Annalen der Geschichte eingegen!“
 
„Wir sollten umsatteln, denn für Hochsprünge wirst du langsam  zu alt“, meinte Piet.
 
„Zu alt! Wie das?“ fragte Hussein pikiert.
 
„Sei nicht so empfindlich. So habe ich das nicht gemeint“, klopfte Piet ihm begütigend auf die Schultern. „Wir sollten vielmehr unsere Strategie überdenken. Das wollte ich damit sagen. Warum meiden wir nicht Privatsammler und spezialisieren uns stattdessen auf Ausstellungen, begonnen mit kleineren Wanderausstellungen in Provinzstädten, sozusagen als Fingerübungen für einen Meisterwurf?
 
Das leuchtete Hussein ein. „Gut, dass du mich nicht vorzeitig ins Altersheim abschieben willst, denn ich will meine Laufbahn nicht mit kindischen Hürdensprüngen beenden, bevor ich dann am Stock weiter humple ... ,Meisterwurf’ hast du gesagt? Damit hast du wohl einen Meistersprung gemeint!“
 
„Bleiben wir bei der Sache“, sagte Piet nüchtern und fragte: „Wollen wir unser schottisches Projekt durchführen oder nicht, ehe wir umsatteln?
 
Zuletzt fragten sie sich, was es mit dem Journalisten auf sich habe. Er scheint mehr zu wissen, als uns lieb und gut sein kann. Ist er uns schon auf den Fersen? Piet, der stolz auf seine vielseitigen Beziehungen war, versprach darüber Klarheit zu verschaffen. Er kannte einen Journalisten, der ihm wohl Auskunft geben könne, meinte er.
 
Der Beschluss war gefasst: Sie hielten vorderhand am schottischen Projekt fest.
 
Piet hatte in der Nähe eines schottischen Küstenorts vor Jahren ein Anwesen vom seinem schottischen Grossvater geerbt. Er hatte es unterkellern lassen und elektronisch verriegelt. Dort lagen ihre Schätze von englischen Raubzügen sicher eingelagert, griffbereit mitsamt einem 2. Hochsprungstab, den Piet als Fischangelgerät getarnt durch den Zoll in Dover geschmuggelt hatte. Das Diebesgut vom Kontinent war in Edam sichergestellt.
 
Zum schottischen Projekt zurückgekehrt, war Hussein kürzlich in der Niederlassung des Auktionshauses Christie’s in St. James’s (im Herzen von London, ganz in der Nähe des ‚Hotel Ritz’) auf der Pirsch nach seinem nächsten Opfer und begegnete am Vortag der Auuktion endlich dem von ihm angepeilten Sammler beim Schaukasten mit europäischen Miniaturen. Auch mit diesem Sammler, der sich als Lord Lindsey vorstellte, kam er ins Gespräch. Dieser sei von Edinburgh nach London gereist, wohl um die Miniaturen genauer zu prüfen, erfuhr Hussein von Piet, der den Lord beschattet hatte. Er hatte ein Zugsbillett 2. Klasse gelöst ... Wiederum imponierten auch diesem Gentleman Husseins vertiefte Kenntnisse dieses reichhaltigen Fachgebiets.
 
„Diese Miniature gefällt mir ganz besonders“, deutete der Lord auf das ovale in Ebenholz gerahmtes Porträt einer Schönheit. Sie war mit feinstem Pinsel auf Elfenbein gemalt und mit dem Monogramm des Malers signiert. „Christie’s konnte mir nicht mehr Auskunft geben und hat das Werk der italienischen Schule zugewiesen, wohl um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden“, sagte der Lord.
 
Lange betrachtete Hussein die Miniatur und kam schliesslich zum Schluss: „Ich glaube diese Miniatur ist französischer Provenienz, zwischen 1790 oder 1810 gemalt, und könnte von Baptiste Jacques Augustin stammen. Wenn dem so ist, ist der Schätzpreis von £ 400 –£600 viel zu niedrig angesetzt. Falls Sie es nicht erwerben wollen, werde ich dafür bis zu £ 700 oder £ 800 bieten.“
 
„That’s really sporting of you to give me the first choice. Yes, I shall place a bid. Will you attend tomorrow’s auction?“ (Das ist wirklich flott von ihnen, dass Sie mir die 1. Wahl geben. Werden sie Morgen an der Auktion sein?) fragte ihn Lord Lindsey noch, ehe er sich verabschiedete.
 
„Naturally“, bestätigte Hussein, „but rest assured that I shall not bid against you.” (Gewiss, aber seien sie vergewissert, dass ich nicht gegen Sie bieten werde.)
 
Der Lord erhielt den Zuschlag mit seinem Angebot von £ 550 und war sehr zufrieden. Er löste die Miniatur kurz vor Mittag bei der Kasse ein und lud Hussein zum Mittagessen ein. Hatte es Hussein überrascht, dass der Lord nicht den Mittagstisch im „Ritz“ vorschlug, sondern ein indisches Restaurant im Soho – „sofern sie Indisches mögen“?
 
So sind die Schotten, leuchtete es Hussein ein, die hocken auf dem Beutel. Am Besten nehmen wir den Bus bei der „Green Park“-Metrostation, schlug der Lord vor. Das Lokal beim Piccadilly war schlicht und einfach. Hussein bestelle ein „Chicken Tikka“ und ein Glas Bier.
 
„Vergessen Sie den ‚Lord’, ich heisse Lindsey. „Ich bin bloss ein Lord der Heilsarmee“, spasste er.
 
„Lord der Heilsarmee, my Lord?“ Hussein war verblüfft. Lindsey gab preis, dass er als junger Armeearzt während des Dschungelkriegs in Malaya Verletzte, ob Soldaten oder Eingeborene, behandelt habe. Dafür erhielt er von der Königin seine Auszeichnung, obwohl er verständlicherweise als Schotte wenig für eine englische Königin übrig habe. „Vor wenigen Monaten habe ich meine Praxis als Landarzt an meine Tochter übergeben“, erzählte er weiter. „Meine Frau und ich ziehen demnächst in ein Haus in Putney (Londoner Stadtteil) um, denn wir haben genug von der Nässe und Kälte auf der schottischen Hochebene und müssen uns vor Arthritis hüten. Ausserdem bin ich ein ,Connolly’, der zum ,downsizing’ (altersbedingter Wechsel in eine kleinere Wohnstätte) gezwungen ist.“ Hussein spitzte die Ohren, als Lindsey seinen Familiennamen „Connolly“ erwähnte.
 
Doch nicht der Lederhersteller Connolly?“ (Piet hatte ihn bereits dahingehend informiert, in der Annahme, dass Lindsey ein fetter Brocken abgebe ...)
 
„Genau dieser! Die Firma wurde erst im Jahre 2002 aufgegeben. Leider liess ich meinen kleinen Aktienanteil schon vor vielen Jahren auszahlen. Seither hat das Pfund empfindlich an Kaufkraft verloren, so dass mir davon herzlich wenig übrig geblieben ist,“ gestand er aufseufzend. Immerhin konnte ich vielen armen Schülern zu einer guten Ausbildung verhelfen, zu Zeiten, als es bei uns noch die ‚Grammar Schools’ gab.“
 
„So sind Sie wirklich ein Wohltäter!“ sagte Hussein mit gedämpftem Enthusiasmus.
 
Lindsey nickte: „Davon gibt es heute nur noch wenige. Ich bin bis auf heute ein waschechter Sozialist geblieben. Nehmen Sie noch ein Glas Bier?“
 
„Ja, sehr gerne“, sagte Hussein, obwohl er kein Biertrinker war.
 
„Besuchen Sie uns doch“, kritzelte Lindsey seine neue Londoner Adresse auf die Papierserviette. „Ab Mitte Juni sind wir eingerichtet. Meine Frau kann ein schmackhaftes Curry zubereiten, das den Hals nicht versengt – ein echtes englisches Curry mit Rosinen,“ sagte Lindsey grinsend.
 
„Abgemacht“, sagte Hussein und verdankte die Einladung. „Zum Glück haben Sie mit ihrer Miniatursammlung kein Geschlepp“, sagte Hussein noch, ehe sie getrennte Wege gingen.
 
Hussein als Raubvogel waren diesmal die Flügel gestutzt. Dieses Projekt wollte er nicht verwirklichen, Curry und Bier hin oder her.
 
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