Textatelier
BLOG vom: 27.05.2010

Abgetauchtes Flusswasser: Wenn die Donau zum Rhein wird

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
 
Wer einen Weiher ohne Plastikfolie bauen will, weiss um die Schwierigkeiten des Abdichtens. Das Wasser findet immer einen Weg, um irgendwo im Tiefen-Nirwana zu verschwinden. Bäche, Flüsse, Seen und Meere haben dieses Wunder der Dichtmachung einigermassen geschafft.
 
Von meinem Heim aus sehe ich den Rohrer Schachen (heute in der Gemeinde Aarau) mit seinen Wäldern, wiederhergestellten Auen, Giessen, Äckern und Wiesen, unter dem der grösste Grundwasserstrom der Schweiz das Aaretal hinunter fliesst. Nach längeren Regenperioden bilden sich jeweils kleine oberirdische Weiher, zum Beispiel beim Schachenhof, an dem die Ortsverbindungsstrasse Biberstein–Rohr (Aarau) vorbeiführt. Das ist dann Grundwasser, das die Oberfläche erreicht hat, weil die unterirdischen Hohlräume zwischen dem Geröll, die der Grundwasserstrom nutzen kann, schlicht und einfach voll sind. Aber ob es sich um ein über- oder unterirdisches Gewässer handelt, die Frage der Abdichtung stellt sich genau gleich, einfach auf verschiedenen Ebenen. Unterirdische Versickerungen sind ausgeprägter als man denkt. Deshalb ist es verwunderlich, dass das Wasser in grosser Menge im obersten Teil der Erdkruste verharren und Pflanzen, Tieren und Menschen als erstrangige Lebensgrundlage dienen kann.
 
Die Natur nutzt die Versickerungsmöglichkeiten immer wieder auf ihre eigene, phantasievolle Art. Der grösste Teil des Regenwassers versickert oberflächlich, falls die Oberfläche nicht durch menschlich Bauwerke abgedichtet ist, und er kommt z. B. durch den Kapillareffekt in Pflanzen wieder nach oben. Zudem kommt es vor, dass ganze Flüsse im Untergrund verschwinden und dann irgendwo wieder auftauchen. Ein eindrückliches Beispiel dafür bietet die junge, auf den Höhen des Schwarzwalds entsprungene Donau, die nach allem Lehrbuchwissen über 2860 km dem Schwarzen Meer zuströmt.
 
Sie hält sich aber nicht genau an dieses Drehbuch, indem sie zwischen Immendingen und Fridingen/Möhringen am Südwestrand der Schwäbischen Alb zum grössten Teil, angeblich zu etwa 2 Dritteln, im Untergrund verschwindet. In der Umgebung gibt es auch Schlucklöcher. Bei anhaltenden Sonnenwetterphasen kann das Donautal im Versickerungsbereich sogar völlig austrocknen, das Bachbett trockenlegen. Das Wasser, auch jenes von Brigach, Breg und all den anderen kleinen Bächen, die in die noch junge Donau entwässern, taucht in unterirdische Höhlensysteme aus weissem Jurakalk ab, die ihr Ende bei der zirka 12 Kilometer entfernten Aachquelle finden.
 
Das Wasser hat sich seinen bis 19 km langen Weg im Untergrund mit den Höhlen, Spalten und Schlotgängen in geduldiger Erosionsarbeit in diesem relativ weichen Gestein, rund 150 Millionen Jahre altem Malm, selber gebahnt, indem es das Gestein auch mit Hilfe seines Säuregehalts aufgelöst hat (Quelle: www.wissen.de). Rund 1 bis 7 Tage verharrt es in dieser felsigen Unter- und Wunderwelt, wobei es um 174 Höhenmeter absteigt. Dieses Naturereignis ist vergleichbar mit dem Doubs (= der Unentschlossene), der zusammen mit anderen Zuflüssen bei Pontarlier F versickert und unterirdisch die Loue-Quelle bei Ouhans im französischen Département Doubs speist.
 
Der Aachtopf
Zusammen mit Rita und Primo Lorenzetti habe ich am 21.05.2010 den Aachtopf besucht, jene Stelle also, wo das versickerte Donauwasser wieder das Licht der Welt erblickt, wie seit rund 16 000 Jahren. Meine beiden Begleitpersonen waren vor rund 20 Jahren auf einer Velotour schon einmal hier vorbeigekommen. Sie liessen sich von der ergiebigsten Quelle von Deutschland bei der Stadt Aach (rund 2100 Einwohner) im Landkreis Konstanz im Süden von Baden-Württemberg bereits damals beeindrucken. Tatsächlich ist es faszinierend, wenn man plötzlich vor einem grossen Weiher steht, der keinen einsehbaren Zufluss hat. Im hangnahen, oberen Teil wird er von einem felsigen, bewaldeten Gebiet eingekesselt, unter dem ein umfangreiches Höhlensystem verborgen ist. Verschiedene Dolinen (Einsturzkrater) weisen darauf hin, dass die stets wachsenden unterirdischen Höhlen teilweise eingestürzt sind, Hindernisse, Erschwernisse für die Höhlenforscher. Der 1997 gegründete Verein „Freunde der Aachhöhle e.V.“ nimmt sich dieser delikaten Aufgabe an. Bei früheren Höhlengängen kam es zu tödlichen Unfällen.
 
Der Blick aufs und ins klare Wasser lässt problemlos erkennen, dass da an vielen Stellen Wasser aus dem Weihergrund gepresst wird – bis zu 24 000 Liter pro Sekunde; im Durchschnitt sind es etwa 8300 Sekundenliter. Der rundliche Weiher, der auf einem Fussweg in wenigen Minuten umrundet werden kann, ist von einer Reihe blühender Rosskastanien und 2 riesigen Platanen, deren knorrige Rinde an Korkeichen erinnert, eingerahmt.
 
So viel ausströmendes Wasser muss natürlich sofort abfliessen. Und so ist denn bereits im bis 18 Meter tiefen Weiher eine starke Strömung vorhanden, die durch algenähnliche, hellgrüne, ausfransende Sumpf-Wassersterne (Callitriche palustris) mit ihren wedelnden Schwimmblättern optisch akzentuiert wird.
 
Neben dem Weiherausfluss war bei unserem Besuch ein Betriebsgebäude mit Touristeninfrastruktur in Renovation. Nebenan fliesst das Wasser unter einem Schieber aus Holz, der mit markanten Eisenrädern bedient werden kann, in einen geradlinigen, 1935/36 erstellten Betonkanal und wird zu einem Elektrizitätswerk geleitet. Zuvor hatte es eine Hammerschmiede und eine Mühle anzutreiben. Nach dem Ab- und Auftauchen hat das Donauwasser also gleich eine harte Arbeit zu verrichten. Man weiss erst seit 1877 ganz sicher, dass es sich um Donauwasser handelt, nachdem 200 Zentner Kochsalz dem versickernden Wasser mitgegeben wurden, das dann bei Aach wieder zum Vorschein kam (www.aachhoehle.de).
 
Was von hier aus weiterfliesst, figuriert nicht mehr unter dem angestammten Namen Donau, sondern es ist die Hegauer Aach, auch Radolfzeller Aach genannt, die nach 32 Kilometer Wegstrecke bei Radolfzell in den Bodensee gelangt und folglich dann zum Rhein-Bestandteil wird. Diese Aach durfte früher in einem Gebiet mit vielen Feuchtgebieten fröhlich mäandrieren, also Schlaufen bilden,und über die Ufer treten, falls sie Lust auf einen Seitensprung hatte. Der Grundwasserstand ist hier recht hoch; das Wasser scheint die Freude am Versickern verloren zu haben. Doch im 19. Jahrhundert kam es im Interesse einer vereinfachten Landbewirtschaftung auch hier zu vielen Flusskorrektionen = verödenden Begradigungen.
 
Bemerkenswert aber bleibt der Umstand, dass die junge Donau einen Teil ihres Wassers an den Rhein abgibt, eine Besonderheit im Bereich der Europäischen Wasserscheide, welche die im Übrigen wasserklaren Verhältnisse aufweicht: Die Aufteilung des anfallenden Wasser in solches, das für den Rhein und damit die Nordsee bestimmt ist, und jenes, das dem Schwarzen Meer zufliesst. Die Mündungen von Rhein und Donau sind 1800 km von einander entfernt.
 
Die an sich klaren Verhältnisse werden durch das Karstsystem bei Aach somit regelrecht verwässert, woraus einmal mehr abgelesen werden kann, dass sich die Natur nicht an unseren Systematisierungsdrang hält.
 
Tuttlingen
Mitten im Versickerungsbereich des Donauwassers, im Tal der Oberen Donau, ist die Kreisstadt Tuttlingen. Hier ist die Donau ein lieblicher, harmloser, aber doch etwas eigenwilliger Fluss, der noch nicht erahnen lässt, was aus ihm einmal werden wird. Die Stadt, die 1803 abbrannte, hat keine nennenswerten historischen Gebäude, und viele Bauten im Zentrum machen einen etwas vernachlässigten Eindruck. Doch fanden wir sehr guten Kuchen und Kaffee im „Café Walter“ in der Oberen Vorstadt, das einen angenehm antiquierten Eindruck macht. Für den modernen Teil sorgen in dieser Stadt „der heilenden Messer“, die auffallend vielen medizintechnischen Unternehmen, die sich hier angesiedelt haben. Der Landkreis Tuttlingen zähle zu den Hochburgen der mittelständischen Industrie in Deutschland, schreibt Julia Cornelissen in der Schrift „Landkreis Tuttlingen. Premiumstandort für die Wirtschaft“. Hier hätten die typischen schwäbischen Tugenden ihre Heimat: Fleiss, handwerkliches Geschick, Erfindergeist, unternehmerischer Wagemut. Auch Bildung und Kultur haben hier ihr Daheim.
 
Das Kurieren geht weiter. Misslungen sind bisher aber alle Versuche der südbadischen Donauanlieger, das Versickern von Donauwasser durch Stopfen der Schlucklöcher zu verhindern. Auch ein Umleiten der Donau zur Verhinderung des Versickerns ist auf der Ebene des Bundeslands Baden-Württemberg durch einen gemeinsam gefundenen Kompromiss nur in seltenen Fällen und unter einschneidenden Auflagen erlaubt. Es geht um die Beibehaltung der Wasserfreiheit, sich seinen eigenen Weg bahnen zu dürfen. Sie ist im Allgemeinen ohnehin ausreichend beschnitten.
 
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