Textatelier
BLOG vom: 26.09.2010

Italienreise 6: Höhepunkte bei Righinis Hausmannskost

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Di boni, quantum hominum unus venter exeret!
(Gute Götter, wie viele Menschen hält ein einziger Baum in Trab!)
Seneca
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Selbstverständlich habe ich vor unserer Italienreise das „Kochbuch der alten Römer“ verschlungen, das Hans Peter von Peschke und Werner Feldmann geschrieben haben (Pamos Verlag, Düsseldorf 2003); ich kaufte es vor einigen Monaten im Vindonissa-Museum in Brugg AG. Darin wird zum Beispiel Plinius zitiert, der von einer Methode erzählt haben soll, Schweine mit getrockneten Feigen zu mästen und ihnen kurz vor dem Schlachten süssen Most einzuflössen. Das sollten die besten Massnahmen im Hinblick auf eine wohlschmeckende Leber sein. Daraus sieht man, dass auch die Geschichte Ideen für landwirtschaftliche Nischenprodukte liefert.
 
Dem Buch ist ferner zu entnehmen, dass an grossen römischen Tafeln vor allem Fleisch aufgetragen wurde, weniger Kalb- und Rindfleisch als vielmehr solches vom Schwein, Lamm, von Wild und alle Arten von Geflügel. Bei der Zubereitung wurde wahrscheinlich beim Würzen eher überbordet. Oft kam eine Fischsauce zum Zuge, hergestellt aus kleinen Fischen wie Sprotten, Anchovis oder Makrelen, die man als pürierte Masse zusammen mit Salz monatelang an der Sonne stehen liess. Man stelle sich die Geschmacksintensität bitte nicht vor, denn es geht ja hier nicht darum, den Appetit unserer Leser zu attackieren. Mit der rezenten Fischsauce wurden auch die zweifellos häufigen Fischgerichte malträtiert, wobei ich den Konservierungseffekt des Salzes nicht verkennen will, ein mildernder Umstand.
 
Inzwischen ist die italienische Küche zum guten Glück nicht mehr, was sie einmal war. Internationale Standardisierungen haben einen nivellierenden Einfluss genommen, aber eine deutliche Eigenständigkeit ist noch heute unverkennbar, was ich hier voller Bewunderung vermerke. Um möglichst detailgenau dahinter zu kommen, habe ich meinen Begleiterinnen und dem Begleiter bittend untersagt, auf unserer Italienreise irgendwelche Kochlöffel zu schwingen. Mir lag vielmehr daran, in Lokalen zu tafeln, in denen auch die einheimischen Familien mit Kind und Kegel verkehren, und auf die ich in vorangegangenen Blogs zum Teil hingewiesen habe. Ursula und Fernand Rausser, die seit Jahrzehnten in der Toskana ihre 2. Heimat haben, kennen hinreichend entsprechend gute Adressen. Das Ritual war überall ähnlich, das Resultat immer befriedigend. Zudem hatte die Jagd am Tage unserer Ankunft (05.09.2010) in der Toskana gerade begonnen.
 
Ristorante-Sitten
Zuerst entscheidet man sich vor dem Abendessen, das kaum vor 19.30 Uhr beginnt, im Restaurant für eines der Antipasti, etwa getrocknetem toskanischem Schinken oder/und Salami mit Melonen, mit allerhand Gemüse belegtes, mit Olivenöl getränktes geröstetes Brot (Crostini), Meeresfrüchtesalat aus kleinen Kraken (Polpi), Tintenfisch (Sepia), Krebsarten (Gambero) usf., wobei mir die lauwarme Version im Ristorante „Otello“ in Venturina am besten zugesagt hat. Man wählt anschliessend eines der „Primi Piatti“, die meistens aus Teigwaren in ihren unzähligen Formen (Spaghetti, Maccheroni, Tagliatelle, Pappardelle, Penne, Fusilli, gefüllt oder einfach mit Öl, das immer Olivenöl ist, oder einer Sauce aus frischen Tomaten bestehen und gelegentlich noch einmal mit Meeresfrüchten wie Muscheln (Vongole) vermischt sein können. Die nachfolgenden „Secondi Piatti“ bestehen in der Regel aus Fleisch- oder Fischgerichten, zu denen man ein Zubehör („Contorni“) wie frittierte Zucchiniblüten, gebratene Kartoffeln oder Maisschnitten bestellt, wie’s beliebt. Mit Geflügel und Kaninchen kann man in Italien bestens umgehen, so dass sie schön saftig und schmackhaft bleiben. Dazu kann man immer einen preiswerten Hauswein in Weiss oder Rot bestellen, der gut ist und aus der Nähe stammt, falls man sich nicht für einen noblen Markenwein entscheidet. Den Abschluss bilden die Dolci, die Desserts della Casa aus Halbgefrorenem, süssen Kuchen, Gebäck, Zabaione usw., und allenfalls auch Käse.
 
Selbstverständlich trifft man aus dem vielfältigen Angebot immer nur eine Auswahl. Wir assen jeweils einen üppigen Brunch unter Raussers Oliven- und Mandelbäumen, dessen Zutaten wir bei Emiliani Micheli an der Via Indipendenza N 61 in Venturina (Provinz Livorno) gekauft hatten – ein verwinkelter Laden mit allen Wonnen des Ursprünglichen vom Peccorino-Käse (aus Schafmilch) über eingelegte Artischocken zum Chianti- und Brunello-Grappa. Und der Himmel hängt voller Trockenwürste, geraden und gebogenen, voluminösen und schlanken.
 
Auch der Supermercato Conad in Venturina wartet mit vielen lokalen Produkten auf, mit ganzen Harassen voller frischer Steinpilze (im „Otello“ haben wir Steinpilze – Boleti – zu Trikolore-Getreide = Reis, Hafer und Gerste) erhalten. In der Nähe, mitten in Cafaggio, war die Wine-Bar L’Innesto von Manfredini und Cionini, in der ich neben gutem Gebäck eine hervorragende Mortadella-Wurstbombe fand, deren Durchmesser in der Mitte mit jenem eines Autosteuerrades konkurrieren kann. Bestellt man dort einen Sandwich mit gekochtem Schinken, wird das Brot zur Beilage, genauso wie es die Metzgereiprodukte-Werbung in der Schweiz vorschreibt.
 
Bei Righinis
Die italienische Küche ist deftig, eine Bauern-, Hirten- und Fischerküche und in ihrer Einfachheit grossartig, immer auf das ausgerichtet, was Boden und Wasser hergeben, und dementsprechend sind auch die Wildschweine beliebt. Und wo kann man diese Küche intensiver als bei einer eingeborenen Familie erleben? Dank der langjährigen freundschaftlichen Beziehungen zu Fernand und Ursula Rausser waren wir am Abend des 09.09.2010 zu einem Mahl bei der Familie Righini eingeladen, die ihr Anwesen unterhalb von Campiglia Marittima hat. Für mich war das der kulinarische Höhepunkt der gesamten Reise.
 
Der einfache, hohe Essraum im Parterre schliesst sich direkt an die Küche an. Ich konnte mich neben dem Padrone Renato Righini (84) so setzten, dass ich freie Sicht auf den Gaskochherd hatte. Dort schwangen die Frau, Giovanna, des heutigen gastfreundlichen Geschäftsführers, Renzo Righini, und deren Tochter Anna den Kochlöffel virtuos. Renzo ist eine vielseitige unternehmerische Persönlichkeit wie sein Vater, aber in seiner Art etwas zurückhaltender. Renatos liebenswürdige Ehefrau, ebenfalls mit Namen Giovanna, brauchte nicht in den Kochprozess einzugreifen, der wie etwas Selbstverständliches stressfrei ablief. Mutter Giovanna hatte früher beim Handel mit den schweren Gasflaschen und gewiss umfangreichen familiären Aufgaben ihre Kräfte verzehrt. Sie war die Liebenswürdigkeit selbst und ihre einstige Schönheit ist ihr noch immer ins Gesicht geschrieben.
 
Die Vorspeise war vorbereitet, und die Teller waren mit einem umgestülpten Double zugedeckt – ähnlich der Cloche als polierte Haube, wie sie in besten Häusern auftaucht. Als der abdeckende Teller entfernt war, kamen liebevoll arrangierte Trockenfleisch-Rouladen zum Vorschein, die teilweise mit Frischkäse gefüllt waren, neben eingelegten Tomaten und Artischocken. Renato, der gross gewachsene, ausgesprochen kräftige Mann mit kurzem, weissem Haar auf dem eckigen Kopf und straffer, gut durchbluteter Gesichtshaut, roten Wangen und einer unauffälligen Brille mit Stahlrahmen hatte keine Lust auf dieses Antipasto. Mit einer Handbewegung gebot er, den vollen Teller gleich wieder abzuräumen, ohne den fröhlich-gutmütigen Gesichtsausdruck zu verlieren. Er schenkte den weissen Hauswein aus Malvasia-, Claretta-, Trebbiano- und Ancancagua-Trauben ein, verdünnte diesen für sich mezzo-mezzo mit Wasser. Sicher hat der voluminöse, bernsteinfarbige Wein dies problemlos ertragen. Er maderisierte eine Spur, die Folge eines oxidativen Ausbaus, was ich aber nicht etwa als Fehler, sondern als Beweis für die Ursprünglichkeit des Hausgemachten empfand.
 
Während wir uns diese delikate Vorspeise aus Produkten bester Qualität und den höchst bekömmlichen Hausmacherwein in vollen Zügen genossen, machte sich Giovanna, die Jüngere, an der Pfanne mit dem kochenden Teigwarenwasser zu schaffen. Sie gab Linguine, diese flachen Spaghetti dazu, wartete geduldig ab, probierte diese langen, kleinen Zungen, wie die wörtliche Übersetzung lautet, immer wieder. Ich sog das Bild von der fülligen, wohlproportionierten und strahlenden Italienerin am Gasherd, eine Frau voller Wärme und Zuneigung, förmlich in mich auf. Als die Teigwaren den richtigen Biss hatten, schüttete sie das Wasser in den Schüttstein und gab die Linguine in eine andere Pfanne, in der eine herrliche Sauce aus Tomaten und den passenden Gewürzen wie Knoblauch vorbereitet war. Giovanna rührte kräftig um und verteilte Portionen auf die vorgewärmten Teller.
 
Renato wurde zuerst bedient; zumal schon im Mittelalter stand der erste Bissen dem oben an der Tafel sitzenden Familienoberhaupt zu. Ohne das Service-Ende abzuwarten, schlug er gleich kraftvoll zu, verschlang die Teigwaren binnen kurzer Zeit. Wir hatten uns sozusagen auf den ersten Blick angefreundet, weil mir seine naturburschenhaft-ungekünstelte Art gefiel. Genau so muss ein toskanischer Bauer sein, von zupackender Art, der sich auch in anderen Bereichen nützlich machen kann, so betrieb er etwa neben dem Gashandel auch eine Tankstelle und einen Taxibetrieb. Er habe früher Tag und Nacht gearbeitet, gestand er mir, und ich nahm ihm das ab. Das passte zu ihm.
 
Ich erhielt als Zweiter den Teigwarenteller, und sogleich stiess mich Renato mit dem breiten Ellbogen kräftig an, bedeutete mir unmissverständlich, doch unbedingt gleich mit dem Essen zu beginnen. Befehl war Befehl. Ich füge mich solchen italienischen Sitten nicht ungern, wie ich freimütig eingestehen will, schlürfte mit, während Ursula Rausser, die das Ritual beobachtet hatte, treffend feststellte: „Italienischer geht es gar nicht mehr.“ Sie hatte Recht.
 
So wächst einem dieses Italien ans Herz, und meine letzten Spuren von Vorurteilen gegen dieses schöne Land tropften an mir herunter wie die grandiose Tomatensauce. Um meine Komplimente auf angemessen höherer sprachlicher Ebene formulieren zu können, zog ich das mitgeführte Langenscheidts Taschenwörterbuch Deutsch-Italienisch zu Rate. Doch ich musste einsehen, dass die auf Dante zurückgehende italienische Schriftsprache geradlinig (wie die Küche) ist und schiefe Vergleiche oder Metaphern nicht einbezieht. Als ich das Bouquet des roten Hausweins mit jenem von Himbeeren (Lamponi) verglich, wehrte Renato entschieden ab: Nein, nein, dieser Wein sei ausschliesslich aus Trauben und nicht etwa aus Beeren gemacht.
 
Inzwischen hatten Giovanna und die hübsche Studentin Anna, das leicht verkleinerte Ebenbild ihrer faszinierenden Mutter, den Hauptgang vorbereitet: panierte Hühnerbrüste, violettfarbene Taubenstücke, die wahrscheinlich in einem farbkräftigen Rotwein wie Barbera mariniert und nach dem Anbraten im Ofen gegart wurden, und mit einem gut schmelzenden Käse gefüllte Kugeln aus Kartoffelstock; die Kartoffeln stammten aus dem eigenen Garten und hatten die Eigenschaft, als pürierte Masse nicht zu zerfallen. Trotz des allmählich nachlassenden Appetits erlebten wir dieses Secondo Piatto als Meisterleistung häuslicher Kochkunst.
 
Für das Dolce hatte Anna mit einem samtenen Tiramisu aus einer luftigen Mascarponecreme gesorgt. Es ist venetianischen Ursprungs und konnte seine Aufgabe des Hochziehens (der Name ist von „Zieh mich hinauf“ abgeleitet) nach dem üppigen Mahl durchaus erfüllen. Es schmeckte grandios, wunderbar.
 
Eine indirekte, schmeichelhafte Geste stammte von Fernand Rausser, der zwar ein ausgesprochener Feinschmecker und leidenschaftlicher Koch ist, selber aber nur kleine Portionen verzehrt. Diesmal aber ass auch er mit Herzenslust, philosophierte über die Annehmlichkeiten des Lebens und fühlte sich hier so wohl wie wir alle auch. Das ging so weit, dass sich sogar Eva an ein Stück Taube heranwagte.
 
Der Abend war angeregt; gewisse Sprachprobleme wie meine Verwechslung von pesche (Pfirsiche) mit pesce (Fisch) trugen zur Auflockerung bei – ich muss wieder vermehrt im italienischen Sprachraum üben. Und wir staunten, wie schnell man in Italien mit Menschen, die man erstmals sieht, eine herzliche Beziehung aufbauen kann, wenn man sich gegenseitig aufeinander einlässt und die gebührende Wertschätzung findet.
 
Wir verabschiedeten uns zu später Stunde nur ungern. Renzo gab mir noch eine rund 10 kg schwere Wassermelone mit auf den Weg, die wir bis nach Biberstein transportierten und die uns täglich mit ihrem erfrischenden Saft belebt und an Righinis erinnert, an eine Familie, die italienischer nicht sein könnte.
 
Jagdszenen
Der Herbst ist eine Zeit der Fülle, die durch die Jagd noch gemehrt wird. Wir spürten das bei diesem festlichen Mahl.
 
Jagd: Bei Raussers Landsitz habe ich mehrere verwitterte Jagdpatronenhülsen gesehen – auf dem Zufahrtssträsschen und unter Olivenbäumen in der Ebene unter dem aus der toskanischen Erde herausgewachsenen Haus. Es könne vorkommen, dass Schrotkügelchen wie Hagel vom Himmel fallen, erfuhr ich. Es wäre möglich, einen hohen Zaun nach amtlichen Vorschriften rund um das ausladende Landgut zu bauen, was aber mit hohen Kosten verbunden wäre, und den Zaun könnten Eindringlinge niedertrampeln; er müsste wohl ständig unterhalten werden. Und zudem bliebe das Wild ganzjährig ausgesperrt. Der naturverbundene, tier- und menschenfreundliche Fernand Rausser sagte mir, er wolle nicht in einer solch markanten Art in eine Landschaft, in der er doch nur Gast sei, eingreifen und seine eigenen Bedürfnisse rücksichtslos zur Geltung bringen. Ich würde das an seiner Stelle genau so halten. Es ist eine Frage des Takts, sich an die Sitten eines Landes, in dem man Gastrecht geniesst, zu halten, ob sie einem passen oder nicht. Wir erwarten genau das von Zuwanderern ja auch.
 
Unter solchen Gegebenheiten ist ein erbauliches Zusammenleben möglich. Ein gemeinsames Mahl kann die Verbundenheit verstärken.
 
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