Textatelier
BLOG vom: 26.12.2010

Stilfrage: Im Vordergrund oder im Hintergrund bleiben?

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
„Anstand steht an – und wartet noch immer …“
 
In England galt es einst, sich nicht vorzudrängen, sondern sich in der Warteschlange einzureihen. Dieser Brauch besteht zwar noch, doch er wird entwertet, indem sich mehr und mehr Leute, besonders in London, überall vordrängen, um Plätze in überfüllten Verkehrsmitteln zu ergattern. Beobachten Sie den Stau vor den Kassen in den Geschäften, gerade jetzt um die Festtagszeit, auf den Strassen, und Sie werden feststellen, wie rücksichtslos um geringste „Standortvorteile“ gerungen wird.
 
Solche Rüpel ärgern mich, aber ich versperre ihnen den Weg nicht. Stattdessen lasse ich ihnen den Vortritt. „Nach Ihnen“, sage ich oder winke ihnen zu. Das wirkt manchmal und beschämt den Egoisten. Nebenbei bemerkt, stelle ich fest, dass sich Leute aus dem Mittleren und Fernen Osten vielfach anständiger und zuvorkommender benehmen als der Durchschnittseuropäer und die Schwarzen, besonders älteren Leuten und Behinderten gegenüber.
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In dieser Betrachtung geht es mir jedoch um die Frage: „Lebt es sich im Hintergrund besser als im Vordergrund?“ Mir selbst behagt es im Hintergrund am besten, wiewohl ich hin und wieder auf meiner kleinen Lebensbühne auftreten muss, sei es beruflich oder privat.
 
In jeder Schulklasse gibt es die Lauten und die Stillen, jene, die andere nicht zum Wort kommen lassen und bei jeder Gelegenheit vorprellen, und jene, die schweigen und warten können, bis der Lehrer sie auffordert, sich zu äussern. Als Durchschnittsschüler hatte ich den Vorteil, will sagen das Glück, dass ich gute Aufsätze schreiben konnte und selten um Einfälle verlegen war. Das glich mein schlechtes Kopfrechnen aus. Manchmal diente ich als „ghost writer“ – ein guter Nährboden für einen angehenden Schreiberling.
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Hier nehme ich Abschied von meinem Selbst. Lob gebührt den herzensguten, feinfühligen Menschen, die ihre Mitmenschen ermuntern können und wissen, dass in jedem Menschen ein erweckbares Talent schlummert. Ein Lob, im richtigen Augenblick ausgesprochen, wirkt wie ein Weckruf. Damit bereiten wir Freude und gewinnen Freunde.
 
Aber man muss auch wissen, wann man aus seinem Versteck in den Vordergrund treten sollte, um unverhohlen Missständen und Machtmissbrauch aller Art anzuprangern. An solchen Gelegenheiten hat es ja seit Menschengedenken nie gefehlt. Eine wirksame Waffe gegen Unfug aller Art bleibt nach wie vor das mutig geschriebene Wort. In den Vordergrund treten auch die Manifestanten, sei es als engagierte Kriegsgegner, sei es als Umweltschützer, oder sie marschieren hinter dem Banner der Gewerkschaften.
 
Abseits, im Hintergrund, hinter den Kulissen – das darf nicht übersehen werden –, wirkt ein Heer von Wohltätern, die seelische, körperliche und materielle Not lindern helfen: das Pflegepersonal, die Ärzte (etwa „Les Médecins sans Frontières“), wohltätige anonyme Spender u. a. m. Sie verrichten ihre Aufgaben selbstlos abseits des Rampenlichts.
 
Anders die Protzsucht: Sie schwingt sich ‒schwups! ‒ aufs hohe Ross und drängt stracks in den Vordergrund, angeführt von Massensportlern, Celebs und stinkreichen Grossmäulern. Warum werden sie angehimmelt? Nichts übertrifft ihren nackten Egoismus. Im Herdentrieb sammelt sich die Masse um solche schiefe und verzerrte Vorbilder und vergisst ihre armseligen Lebensumstände. Die Massenmedien halten wacker mit und gaukeln Trugbilder vor.
 
Das schlimmste, das solchen Protznasen widerfahren kann, ist Prestigeschwund – messbar an schwindender Medienbeachtung. Die Paparazzi bleiben aus und scharen sich um neue „Favoriten“. In dieser Scheinwelt ist ein fortwährendes Kommen und Gehen von Skandalen befeuert. Eine neue Fundgrube wird jetzt in England ausgebeutet im Hinblick auf die anstehende „Royal Marriage“ von William und Kate, die wahrlich keine Vorbilder abgeben. Zum Protz gesellt sich Pomp.
 
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