Textatelier
BLOG vom: 08.01.2011

Kapitulation vor dem Komplexen: total überforderte Medien

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Rund um die Uhr werden wir aus allen Ecken, Enden und Kanälen informiert, und dennoch wissen wir nichts Genaueres. Beim Sport liegen die Dinge einfach; Goals sind zählbar, und die Sekunden, die ein Schwimmer braucht, um ein genormtes Becken zu durchschwimmen, kann man auf Bruchteile genau messen. Auch weiss man, wie weit Simon Ammann mit seinen flugtauglichen Skiern an den Füssen neuerdings wieder geflogen ist. Man erfährt, wer geheiratet und ein Kind geboren hat und wieder geschieden ist. Partnertausch auf Promi-Ebene bringt Publizität. Werden aber die Themen komplexer, so etwa wie die politischen Zustände in der Elfenbeinküste oder der Dioxin-Skandal in Deutschland, herausgewachsen aus verseuchtem Tierfutter – es enthielt dioxinverseuchtes Fett aus einer Industrieanlage in Emden D –, sickert bloss Oberflächliches durch, das ständig repetiert wird. Warum nützt man zum Beispiel die Kadenz der Radio-Nachrichten nicht dazu, auf der Grundlage andauernden Recherchierens das Bild zu komplettieren statt immer dasselbe zu wiederholen, auf bereits gedroschenes Stroh einzuschlagen?
 
Natürlich ist es unendlich viel schwerer, sich einen einigermassen genauen Überblick über die Vorgänge in der Elfenbeinküste zu machen und herauszufinden, ob der angeblich abgewählte Präsident Laurent Gbagbo tatsächlich das Opfer eines amerikanischen und französischen Komplotts war und ob es stimmt, dass die Botschafter beider Staaten USA und Frankreich einen erheblichen Einfluss auf den Wahlleiter genommen haben, um Gbagbos Herausforderer Alassane Ouattara, dessen Karriere beim Internationalen Währungsfonds IWF begann und der dem Westen genehm ist, zum Wahlsieg zu verhelfen. Dass dieser scheint’s gewählte Quattara nichts anderes wusste, als zuerst einmal zum Generalstreik aufzurufen, macht nicht eben einen überwältigenden, staatsmännischen Eindruck; denn solche Unruhen, die bis zu einem Bürgerkrieg ausufern können, kommen jedem Land teuer zu stehen.
 
Die Politik des Westens unterstützt solche verantwortungslose Aktionen trotz Todesopfern und der Auslösung von Flüchtlingsströmen; sie werden als Kollateralschäden abgebucht. Das zarte Pflänzchen des labilen Friedens nach den bürgerkriegsähnlichen Zuständen 2002, welche die Elfenbeinküste aufspalteten, wurde gleich auch geopfert. Der von Rohstoffhunger getriebene Westen ist immer zur Stelle, wenn er in einem rohstoffreichen Land (in der Elfenbeinküste sind u. a. Erdöl und Erdgas zu holen), das auch über eine starke Landwirtschaft (Kakao, Palmöl, Baumwolle usf.) verfügt, an Einfluss zulegen kann. Das Zeitalter der Kolonisierungen wird auf eine modernisierte und perfidierte Weise fortgesetzt. Vieles passiert hintenherum, und was den Medien zum Frass vorgeworfen wird, ist zweckgerichtet und dient der angeblich guten Sache.
 
Um Geschäfte geht es auch im Lebensmittelhandel. Wenn wieder einmal ein Skandal mit dem besten Willen nicht mehr unter dem Deckel zu halten ist – laut DPA waren bereits am 25.11.2010 verdächtig hohe Dioxingehalte in Futterfett festgestellt worden – und Eier, Truthahn- und Schweinfleisch zu Sondermüll werden, wird zuerst einmal auf wirtschaftliche Schadensbegrenzung gemacht.
 
Nach einem Bericht der Zeitung „Welt“ hat das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) zuerst einmal „vorläufig Entwarnung gegeben“. Bezeichnend ist das Adjektiv „vorläufig“, das besagt, es handle sich um einen provisorischen Zustand. Die bislang ermittelten Dioxingehalte stellten „keine akute Gesundheitsgefahr für Verbraucher“ dar, wurde von jener Amtsstelle bekannt gegeben, die sich ein Kontrollversagen vorwerfen lassen muss und sich auf einen Mangel an Kontrolleuren beruft; sie werden gerade für die Jagd auf Steuersünder eingesetzt. Die überhöhten Dioxinwerte in Eiern seien natürlich „nicht gut“, hiess es anbiedernd, aber „wer Eier gegessen hat, muss sich um seine Gesundheit deswegen keine Sorgen machen“, sagte ein Sprecher laut „Welt“. Ja, das würde auch nicht weiterhelfen. Immerhin lieferte das Unternehmen Harles & Jentzsch in Uetersen (Kreis Pinneberg) etwa 3000 Tonnen mit Dioxin kontaminiertes Futterfett an 25 Hersteller in 4 Bundesländern (Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen und Hamburg). Im Futterfett sollen sich nach Angaben des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelinformation technische Mischfettsäuren befunden haben, die nicht für die Verwendung in Futtermitteln, sondern für den Einsatz zur Papierherstellung bestimmt waren. Da zeichnet sich gleich der nächste Skandal ab: Was haben Dioxine in Papier zu suchen? Die Druckmedien sind ja teilweise schon ungeniessbar genug.
 
Aus der bisherigen Medienberichterstattung konnte ich nicht herauszulesen, um welches Dioxin es sich denn überhaupt handelt. Die Bekanntgabe, um welches der insgesamt 75 Dioxinformen oder der 135 der mit dem Dioxin eng verwandten Furane es sich handelte, die alle unter dem Begriff Dioxine zusammengefasst werden, wäre doch eine Selbstverständlichkeit, zumal darunter die bösartigsten aller vom Menschen hergestellten Gifte sind.
 
Unvollständige, inkompetente Informationen, Herunterspielungen und ein dilettantisches Vorgehen sind eine ideale Vorgabe für Spekulationen und Dramatisierungen auf der anderen Seite, welche die Behörden dann zu einem kopflosen Aktivismus zwingt, obschon das Porzellan bereits zerschlagen ist.
 
Wie verstopft der Informationsfluss ist, bezeugt auch der Umstand, dass die Schweiz, welche mit Deutschland und den weiteren EU-Ländern intensive Handelsbeziehungen bis hin zu CDs mit gestohlenen Bankdaten pflegt, von der EU nicht über die Dioxin-Affäre informiert wurde. Sie habe über die Medien und die Futtermittelindustrie davon erfahren, sagte Eva Reinhard, die Vizedirektorin des Bundesamts für Landwirtschaft in Bern, gegenüber Schweizer Radio DRS. Die Schweiz ist halt dem Alarmsystem der EU nicht angeschlossen, das bei solchen Fällen zum Einsatz kommt. Bereits seit 2 Jahren verhandelt die Schweiz mit der EU über einen Anschluss an dieses Alarmsystem - bisher ohne Erfolg.
 
Falls es in der Schweiz nach dem furchtbaren Staatsverschuldungs- und Währungsdebakel noch den einen oder anderen EU-Befürworter geben sollte, wird dieser bzw. werden diese messerscharf schlussfolgern, wir müssten eben der EU beitreten. Meines Erachtens aber sollte man keinem Raum betreten, in dem eine intensive Handelspartnerschaft nicht Anlass genug ist, um Kunden unverzüglich und anständig zu informieren. Wenn irgendwo Gefahren für Leib und Leben vorhanden sind, dann hat man das doch vorsorglich Kunden mitzuteilen, auch wenn sie nicht im gleichen Verein mitwirken. Da ist eine Frage des Anstands, der Menschlichkeit, der Wertschätzung.
 
In seinen 7 Geboten („Leitlinien“), die in der NZZ am 04.01.2011 publiziert wurden, hat der seit 2011 amtende Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG, Roger de Weck, proklamiert (Gebot 5, „Neue Akzente“): „Der gewinnorientierte Medienbetrieb scheut verständlicherweise die monatelange, kostspielige Recherche – die SRG kann hier noch mehr leisten.“ Ich hoffe, dass in Sachen Recherchen-Scheu nicht noch mehr geleistet wird. Genau das Gegenteil wäre nötig; denn – de Weck im Weiteren: „In Umbruchzeiten hilft das Wissen um unsere Welt und unsere Herkunft, die Zukunft zu gestalten. Die SRG kann stärker noch auf Angebote zur Geschichte und Wissenschaft setzen.“
 
Warum diese Einschränkung? Jede Zeit ist eine Zeit des Umbruchs – kein Tag ist wie der andere, alles ist in Bewegung, und gerade die Natur verändert sich ununterbrochen. Doch die vom Menschen herbeigeführten Veränderungen, die nur um des Veränderns willen aufgrund falschen Wissens und aufgrund falscher Beurteilungen vorgenommen werden, führen in der Regel in die Katastrophe (siehe Fehlkonstrukte wie EU und Euro).
 
Aber da ist man bereits wieder bei den unergründlichen Schwammigkeiten angelangt. Das Zählbare beschränkt sich am bitteren Ende auf den Geldbeutel-Inhalt, falls es so etwas noch gibt.
 
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