Textatelier
BLOG vom: 16.03.2011

Peripetien: Aktualisierte Formen der griechischen Tragödie

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Aus der attischen Tragödie stammt der Ausdruck Peripetie, vom griechischen peripeteia = plötzlicher Umschwung abgeleitet. An diesem dramatischen Punkt angekommen, wendet sich das Schicksal des Helden entweder zum Guten oder zum Schlimmen. Das Geschehen schlägt an dieser Stelle ins Gegenteil von dem um, was die vorangegangenen Situationen vorherbestimmten – eine Überraschung.
 
Der Begriff wurde vom Philosophen Aristoteles in seiner „Poetik“ erstmals gebraucht. Die Peripetie bezeichnete den Höhepunkt einer Entwicklung und war meist im mittleren der 5 Akte angesiedelt. In der Tragödie ist es jener Punkt, an dem alle Voraussetzungen für den konsequenten Ablauf des Geschehens und für den Eintritt der Katastrophe gegeben sind; die Weichen sind neu gestellt, auf dass es dem Publikum nicht langweilig werde.
 
Dramen mit einer deutlich erkennbaren Peripetie spielen sich auch in der grossen Weltpolitik laufend ab, heute noch: Sozusagen über Nacht wandelt sich das Geschehen, wobei hier, im Unterschied zu den griechischen Tragödien (und damit ist jetzt nicht die aktuelle Staatsverschuldung gemeint), der Umschwung meist von aussen kommt und sich nicht nach klassischer Art aus der Handlung ergibt. Das Resultat bleibt gleich.
 
Der Sturz in die Ungnade
Hier drängt sich der Hinweis auf die Gewaltdespoten auf, die sich mit Unterstützung der internationalen Wertegemeinschaft während Jahrzehnten beliebig entfalten konnten. Sie sassen oder sitzen auf riesigen Erdöllagern, hatten/haben grosse Einnahmen und waren/sind gute Kunden der vereinigten Staatengemeinschaften, weshalb sie bei diesen in höchsten Ehren standen/stehen. Besonders der libysche Revolutionsführer Muammer Al-Gaddafi genoss es, dass ihm die westlichen Staatschefs so sehr hofierten. Dann kam die unerwartete Peripetie, eingeleitet von einer angeblichen SelbstverbrennungMohammed Buazizis, der die tunesische Revolution und die Vertreibung des vom Westen bis anhin geehrten Despoten Ben Ali und einen Dominoeffekt auf die umliegenden Länder im Raume Nordafrika eingeleitet haben soll. Möglicherweise waren bei ihm keine politischen Absichten im Spiel, wie Buazizis Familie beteuert: „Wir alle sind völlig unpolitisch.“
 
Jedenfalls nahm das Drama seinen Lauf. Funken sprangen auf andere Länder über oder aber sie wurden in diese hinein getragen. Der Ausgang ist noch unklar. Die mit Westhilfe von ihren Despoten unterdrückten Völker schienen plötzlich Oberhand zu bekommen; in Libyen zeichnet sich allerdings wieder ein Rückschlag ab, weil Al-Gaddafi seine Waffen, die er von der Staatengemeinschaft gekauft hatte, hemmungslos einsetzt. Die Katastrophen in Japan mit besonderer Berücksichtigung der Atomkraftwerkpannen stehlen Nordafrika und Umgebung zurzeit die Show.
 
Wo die Revolution erfolgversprechend erschien, schwenkten westliche Länder sofort um, predigten Demokratie, auch wenn die meisten Ölstaaten-Bewohner wahrscheinlich lieber einen Gottesstaat als eine westlich unterwanderte und gelenkte Demokratie wollen. Für einige der aufständischen, unterdrückten Völker schien sich plötzlich alles zum Guten zu wenden, für die einst salonfähigen Herrscher aber zum Schlechten. Das grosse Diktatorenstürzen setzte ein, und der Westen setzt seither sein Doppelspiel fort, immer mit Blick auf die Beschaffung von günstigem Rohöl. Ob man mit einem Wüstenobersten mit poppigen Gewändern und farblich angepasster Sonnenbrille oder aber mit irgendwelchen Regierungsrepräsentanten ins Geschäft kommt, ist ihm einerlei. Ums Wohl der Völker geht es nicht, sondern nur um jenes der eigenen Bilanzen. Die Sachlage ist ziemlich einfach. Man ist flexibel, eine neoliberale Voraussetzung. Die einzige Konstante ist laut dem Humoristen Max Goldt die Unruhe im Nahen Osten.
 
So wurden denn über Nacht aus Guten Böse. Die USA bestimmen, wer auf welcher Achse anzusiedeln ist, wobei das schlagartig, peripetisch ändern kann. Noch 1986 hatten die USA-Machthaber das Hauptquartier des „verrückten Hundes“ Gaddafi bombardiert. Er stiegt dann unter dem ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush 2003 wieder zum Ehrenmann auf und durfte auf die Achse des Guten wechseln. Nach einigem Zögern liess ihn jetzt Barack Obama, wie es scheint, fallen – doch kommt es darauf an, ob Gaddafi den Volksaufstand niederzuwerfen imstande ist, wie es momentan den Anschein erweckt. Dann kann sich das Blatt wieder zu Al-Gaddafis Gunsten zurückwenden. Man ist in die Katastrophe eingetreten, und das Drama nimmt seinen Fortgang nach den altbewährten Spielregeln.
 
Das Von-Guttenberg-Syndrom
Die Peripetie-Theorie kann auch an einer einzelnen Person exemplifiziert werden – am ehemaligen adligen deutschen Aussenminister Karl-Theodor von Guttenberg, eine CDU-Lichtgestalt mit messianischen Zügen, wie sie einst auch Barack Obama zur Schau getragen hatte – beide erschienen als Heilsbringer von göttlichen Gnaden, Erlöser der auf Lügen und Verdrehungen basierenden Unterdrückung der Völker. Währenddem Obamas Ansehen einfach dahinschmilzt wie der Schnee an der Frühlingssonne, schlug das Peripetie-Modell mit Bezug auf Herrn von Guttenberg gnadenlos zu. Seine Dissertation erwies sich zu wesentlichen Teilen als zusammengegoogelt, was seinen Professoren an der Universität Bayreuth in ihrem homerischen Götterglauben offensichtlich hervorragend gefiel, so dass man eigentlich den Leuten von Google.com den Doktortitel, den Herr Guttenberg nicht mehr braucht, zuerkennen müsste.
 
John F. Kennedys Buch „Profile der Courage“, für das er den Pulitzerpreis erhielt, hatte ein Ghostwriter (Theodore C. „Ted“  Sorensen) geschieben, und Barack Obamas schöne Reden sind ebenfalls von einem Ghostwriter (Jon Favreau) aufpoliert, was allgemein bekannt ist, aber niemanden zu stören scheint (Quelle: New York Times vom 20.01.2008 („What Would Obama Say?“): http://www.nytimes.com/2008/01/20/fashion/20speechwriter.html?_r=1
 
Sozusagen über Nacht fiel das Kartenhaus über dem jungen, gepflegten Politstar von Guttenberg zusammen. Der vereinigte Medienmainstream blies das Plagiat zum Schwerverbrechen auf. Die Medienmacher hatten gerade vergessen, dass das Kopieren ausgerechnet in ihrer Branche zur Vollendung entwickelt worden ist, ansonsten nicht fast alle Zeitungen und Zeitschriften gleich aussehen und über das Gleiche dasselbe schreiben würden. Die Fernsehstationen kopieren quotenträchtige Formate, und selbst die Börsianer in aller Welt übernehmen die US-amerikanischen „Vorgaben“. Vielleicht ist das einfach eine Form der Tarnung: Wer sich ständig und sofort anpasst, lebt länger.
 
Unter peripetischen Voraussetzungen fällt jede Kontinuität in sich zusammen. Aus den Ruinen erblüht neues Leben für eine kurze Zeitspanne. Ehemals abendfüllende Tragödien werden zu Kurzfutter zerhackt, an das uns die Medien bereits gewöhnt haben. Das furchtbare Walten des Schicksals ist nur noch fragmentarisch zu erleben, und wir wissen nicht mehr, wo uns der Kopf steht. Wir wissen in Übereinstimmung mit der griechischen Tragödie (als Bühnenstück) nur, dass der Mensch – unter Einschluss der Machthaber – einem wechselhaften Schicksal ausgesetzt ist: der Göttin Tyche, die über ein gutes oder ein böses Schicksal entscheidet. Wir müssen das über uns verhängte Los tapfer ertragen und versuchen, das alles als Tragikomödie zu empfinden und uns darüber nicht allzu sehr aufzuregen.
 
Quellen
Bantel, Otto: „Grundbegriffe der Literatur“, Hirschgraben-Verlag, Frankfurt am Main 1986.
 
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Literatur zum Thema
Hess, Walter: „Kontrapunkte zur Einheitswelt. Wie man sich vor der Globalisierung retten kann“ (ISBN 3-9523015-0-7), Verlag Textatelier.com, CH-5023 Biberstein 2005.
 
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