Textatelier
BLOG vom: 30.09.2011

Atomausstieg CH: Wie Doris Leuthard zum Leichtsinn fand

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Die bevorstehenden Schweizer National- und Ständeratswahlen vom 23.10.2011 geben einzelnen Politikern und ganzen Parteien Gelegenheit, sich zu entlarven. Eine Entscheidungshilfe: Jene, die ihren kurzfristigen Wahlerfolg über die langfristigen Interessen des Landes stellen, kann und muss man gleich streichen.
 
Das blühende Musterbeispiel für eine Windfahnenpolitik im puren Eigeninteresse liefert die Christlichdemokratische Volkspartei CVP, die ihr jahrelanges Dahinserbeln mit einem Schwenker um 180 Grad auf die Anti-KKW-Linie stoppen möchte. Allen voran zeigte die CVP-Bundesrätin Doris Leuthard aus Merenschwand im Atomkanton Aargau, wie man von der einstigen Atomenergie-Lobbyistin (ehemaliges Mitglied der Atomlobby-Gruppe Nuklearforum) und vom ehemaligen Mitglied des Verwaltungsrats der Elektrizitätsgesellschaft Laufenburg EGL (Honorar pro Sitzung: 12 500 CHF) – die EGL ist Mitbesitzerin des KKW Leibstadt – zur Ausstiegspropagandistin mutieren kann, wenn es das politische Überleben erheischt. Doris Leuthard weiss genau, dass der Atom-Ausstieg der Schweiz Riesenkosten verursachen würde, die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft schwächte, die Klimaziele nicht mehr eingehalten werden könnten und die Schweiz bei steigenden Strompreisen in eine ähnliche Auslandabhängigkeit wie Österreich geriete, das Atomstrom aus dem Ausland importiert und von Medien wie dem CH-Fernsehen noch als Vorbild hingestellt wird. Das übliche Desinformationsmuster.
 
Unmittelbar nach der Tsunami-Katastrophe hat Frau Leuthard im Zuge ihrer Wischiwaschi-Politik in einem Interview mit dem „Tages-Anzeiger“ am 26.03.2011, kurz nach Fukushima, erklärt: „Ohne die Konsequenzen genau zu kennen, ist es leichtsinnig, zu verlangen, dass die Schweiz auf die Kernenergie verzichten soll.“ Und weiter: „Ich war schon immer für eine möglichst CO2-freie Energieproduktion und für hohe Versorgungssicherheit.“ Daran habe auch Fukushima nichts geändert, fügte sie bei.
 
Jetzt ist plötzlich das Gegenteil von alledem wahr. Selbstverständlich weiss die CVP-Bundesrätin, welche die Landesinteressen hinter das Parteienwohl und hinter ihre Wiederwahl stellt, dass die jetzt von ihr in rosigen Farben gemalten Alternativenergieaussichten reines Wunschdenken sind. Sie weiss durchaus, dass sie dem Land einen Bärendienst erweist. Und tut es bei der medial aufgeheizten Volksstimmung gegen die Kernenergie trotzdem, in der Hoffnung auf bessere CVP-Wahlerfolge. Von einer so intelligenten Person hätte ich keine so billige Haltung erwartet.
 
Ihren Meinungsumschwung zwang sie der ganzen Partei auf, also ob so etwas die Aufgabe einer Bundesrätin sein könnte, die ja eigentlich für alle da sein müsste, nicht nur als CVP-Interessenvertreterin. Sie begann, die wankenden CVP-Parlamentarier über den schwachen, labilen CVP-Fraktionschef Urs Schwaller zu bearbeiten. Mit viel direkter Körperarbeit und einer Krisensitzung gelang es dem lobbyierenden Duo, die ohnehin an akutem Profilmangel erkrankte CVP-Fraktion auf den Leuthard’schen Ausstiegskurs zu trimmen und Abschwächungen zu eliminieren. Der geradelinige Berner SVP-Ständerat Adrian Amstutz verstand die Welt nicht mehr – und dabei ist er nicht allein: „Da knicken plötzlich gestandene und von mir geschätzte CVP-Tannen im Wahlkampf wie Streichhölzer ein.“ Wahrscheinlich meinte er nicht die Streichhölzer aus Holz, sondern jene aus weichem Karton.
 
Der Ständerat sprach sich folgerichtig am 28.09.2011 deutlich für den Atomausstieg aus, dem früheren Entscheid des Nationalrats folgend. Im Winter 2012 soll die Energieministerin Leuthard aufzeigen, mit welchen Massnahmen das Ausstiegsszenario angestrebt werden soll – und hoffentlich wird dann auch zu vernehmen sein, wie hoch der Preis in ökologischer und volkswirtschaftlicher Hinsicht sein wird. Jeder normale Mensch würde zuerst die mutmasslichen Folgen abklären und erst dann entscheiden, ob man die Atomenergie behalten oder sich von ihr verabschieden will.
 
Frau Leuthard weiss genau, dass nur dieses Vorgehen sinnvoll gewesen wäre. Im erwähnten Tages-Anzeiger-Gespräch sagte sie vor ihrem Gesinnungswandel: „Man kann relativ locker den Verzicht auf die Kernenergie fordern. Aber zuerst sollte man seriös darüber reden, was das bedeuten würde. Deshalb lasse ich jetzt verschiedene Ausstiegsszenarien durchrechnen. Wie schnell könnte die Schweiz überhaupt auf Atomstrom verzichten? Wie wäre dieser zu ersetzen? Was würde dies für die Klimapolitik heissen? Für die Versorgungssicherheit? Für den Landschaftsschutz? Für das Stromnetz? Vor allem der letzte Aspekt wird unterschätzt.“
 
Das gilt nun auch nicht mehr; Bundesrätin Leuthard hat dadurch ihre Glaubwürdigkeit verloren. Ihr Geschwätz wird man noch weniger als bisher ernst nehmen. Die in Bern zusammengestiefelte Politik ist unüberlegt, überstürzt, geboren aus der Angst vor dem manipulierten Volk, das demnächst die Wahlzettel ausfüllt. Nach den Wahlen werden die Politiker und wohl auch Frau Leuthard wieder atomfreundlicher sein. Sie hat ja Übung im Austausch der eigenen Ansicht, rollt manchmal ihre schönen Augen nach links, dann eine Spur nach rechts und wieder nach links zurück. Und so wird denn selbstredend bei den verbalen KKW-Abschiedszeremonien nichts so heiss gegessen werden, wie es gekocht wurde. Je deutlicher sich die Folgen der KKW-Abschalterei bei steigendem Stromverbrauch herauskristallisieren werden, desto mehr wird die alte Liebe zu unseren braven Kernkraftwerken wieder erwachen, denen selbst Frau Leuthard am Tage nach Fukushima attestiert hat, „sicher“ zu sein.
 
Das CVP-Verhalten wäre für mich im Hinblick auf das Wahlwochenende vom 23. Oktober eine klare Entscheidungshilfe gewesen, falls ich eine solche überhaupt noch gebraucht hätte. Mit geknickten Streichhölzern weiss ich nichts anzufangen. Für mich gilt schon seit Menschengedenken, dass ich die Wahlzettel jener Parteien und Politiker, die statt sachbezogen eben egoistisch politisieren und bereit sind, im rein persönlichen Interesse dem Land beliebigen Schaden zuzufügen, im weiten Bogen auf den Altpapierhaufen werfe. Der daraus hinterbleibende Sondermüll ist weniger bedenklich und schädlich für das Land als jener aus der lächerlichen Windfahnenpolitik, die sich leichtsinnig übers Gesamtwohl hinwegsetzt.
 
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