Textatelier
BLOG vom: 09.02.2012

Chly Rhy bei Rietheim AG: Unebenheiten im topfebenen Land

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Nordwestlich von Bad Zurzach AG befindet sich seit dem Frühmittelalter das Dörfchen Rietheim, das es inzwischen auf etwa 730 Einwohner gebracht hat. Im Rücken des Dorfs mit seinem betont bäuerlichen Aussehen, das ausser einem landwirtschaftlichen Grossbetrieb keine auffälligen Merkmale geschaffen, sondern vor allem die alterwürdige Bausubstanz gepflegt hat, türmt sich der Achenberg auf. In dessen Fuss haben sich Bahn und Strasse eingefressen. Im Norden dehnt sich das weite Rifeld aus, was wohl Rheinfeld bedeutet. Der Rhein hat in respektvoller Distanz bis zu etwa 1,5 km einen weiten Bogen um das Dorf gemacht – bis unmittelbar an den deutschen Ort Kadelburg auf der gegenüberliegenden Flussseite.
 
Die topfebene Landschaft ist von geradlinigen Feldwegen durchzogen. Zu beiden Seiten sind grobschollig gepflügte Äcker; die weise Pflugschar im Gemeindewappen ist also in Rietheim nicht fehl am Platze. Als ich am 04.02.2012 um die Mittagszeit das ausgeräumte Gebiet wandernd durchquerte, ging eine steife Bise durch Mark und Bein. Die tatsächliche Temperatur mag bei etwa -8 C gewesen sein, die gefühlte Kälte aber erheblich tiefer. 2 Tage vorher hatte ich auch bei einer Wanderung übers Aufeld unterhalb Brugg (im Gebiet Wasserschloss) fast die Ohren abgefroren, und hinter der Stirn froren fast die Gedanken ein, da ich geglaubt hatte, ohne Kopfbedeckung auszukommen. Es dauert, bis man solche Eistage ernst nimmt.
 
Weite, offene Flächen lassen der eiskalten, sibirischen Ostströmung freien Lauf. Sie drang sogar in meine Wildlederhandschuhe vor, mit denen ich die Kamera bediente. Von der kathedralenartigen Landwirtschaftsanlage folgte ich einem Feldweg in nordwestlicher Richtung, unterbrochen von einem nordwärts führenden Zwischenstück. Ich steuerte einen Streifen aus hohen Bäumen, auf denen Mistelkugeln sitzen, und Sträuchern an. Denn dahinter musste er sein: der Chly Rhy, auf der neuen Landeskarte 1:25 000 als Chli Ri bezeichnet: kleiner Rhein. Und tatsächlich war zwischen Ästen wie Haselnusszweigen mit herabhängenden Blütenkätzchen und Weiden, Pappeln, Erlen, Eschen, Sommerlinden ein mit Wasser angereicherter Graben auszumachen, der alle Stufen von beginnender und vollendeter Vereisung präsentierte. Noch nirgends sah ich auf solch engem Raum derart viele von Bibern gefällte Bäume oder angenagte, zur Fällung vorbereitete Bäume wie hier (Biberschäden an Wald und Landwirtschaftskulturen werden gemäss dem Aargauer Jagdschutzgesetz abgegolten). Auf die herumliegenden Stämme und Äste hatte sich eine schneeweisse Pulverschneeschicht gelegt, als ob ein Konditor mit einer riesigen Puderzucker-Streudose vorbeigekommen wäre. Und wo die durch eine leichte Hochnebelschlicht leicht gedämpfte Sonne den von der Natur in der Grisaille-Technik (ausschliesslich Weiss-, Grau- und Schwarztöne) gemalten Bildern zu einer Spur von Farbe verhalf und den Schnee zum Glitzern brachte, hielt man als Betrachter inne, sog die Bilder andächtig auf. Wie schön!
 
Beim etwa 500 Meter langen Graben Chli Ri, der bis zum währschaften Bauernhaus Grienhof reicht, handelt es sich um einen Altarm des Rheins. Der Besitzer dieses gepflegten, ordentlichen Hofes mit dem Krüppelwalmdach und den grünen Fensterläden wollte nicht umsiedeln, was bei dieser idyllischen Lange nahe bei fruchtbarem Land verständlich ist. Ob sich das Weiherhaus hier in der Nähe befand, das im „Historisch-biographischen Lexikon der Schweiz“ (1929) erwähnt ist, lässt sich nicht ausmachen; es soll sich im Besitze der Meier von Rietheim befunden haben.
 
Bis 1910 floss im Chly Rhy noch Wasser, doch dann begann er zu verlanden. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten würde er zweifellos komplett aufgefüllt, überliesse man ihn seinem Schicksal. Zum Glück ist er als eines der Paradestücke ins im Übrigen bereits weitgehend verwirkliche Projekt Auenschutzpark Aargau aufgenommen. Ich nehme an, dass die Bagger auch in Rietheim demnächst auffahren werden, nachdem die widerstrebenden Interessen nach langem Hin und Her unter einen Hut namens Kompromiss gebracht werden konnten. Am 11.12.2010 konnte eine „Vereinbarung über die Realisierung eines Auenprojektes im Rietheimerfeld“ abgeschlossen werden, welche die Gemeinde Rietheim, der Kanton Aargau und die Naturschützer unterzeichnet haben. Der Chly Rhy soll über einen künstlich befestigten Einlauf, mit dem die Wassermenge kontrolliert werden kann, wieder an den grossen Rhein angebunden werden. Und der Rheinuferweg kann bestehen bleiben; denn es geht hier auch um ein aufzuwertendes Erholungsgebiet.
 
So ist das unscheinbare Rietheim immer wieder für eine Überraschung gut. Vieles spielt sich im Hintergrund, eben am Altarm beim Gebiet Neugrüt, oder gar im Untergrund ab. Rietheim und das Rietheimerfeld liegen auf einer mächtigen Salzschicht. 1912 erteilte der Grosse Rat des Kantons Aargau eine Konzession zur Salzausbeutung in den Tiefen des Bezirks Zurzach. Die 1914 gegründete Schweizerische Sodafabrik (heute:Solvay Chemie Schweiz, ein belgischer Konzern, der verschiedene Chemikalien herstellt) begann, die bis unters Dorf Rietheim reichenden Salzlager abzubauen, die sich in 132 bis 320 Meter Tiefe befinden. Für die Sodaherstellung braucht es neben Hilfsstoffen vor allem Salz und Kalk, und Kalk gibt es in der Nähe genug, etwa im Steinbruck Mellikon AG. Mit der sukzessiven Auslaugung der Steinsalzfelsen trug die Oberschicht natürlich nicht mehr – man hätte durch blosses Nachdenken darauf kommen können. Die Deckschicht begann einzubrechen, und es traten Schäden an Gebäuden und Infrastrukturanlagen ein. Im abgesenkten Kulturland kam es vermehrt zu Überschwemmungen. Die Solvay musste mit hohen Investitionen weitere Schäden verhinder, und die Salzausbeutung wurde ins Gebiet Apelöö in der Nachbargemeinde Klingnau AG verlegt.
 
Ohne auf dem gefrorenen Boden einzusinken, wanderte ich ins Dorf zurück. Es stand noch da, und auch mein Auto, das ich vor dem schönen, einfachen Gemeindehaus abgestellt hatte. Glück gehabt.
 
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