Textatelier
BLOG vom: 09.05.2012

Tavernen-Hochgefühl: Vorstoss zu den Innereien von Brugg

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com) 
 
Aus der Zeit wollt ihr einen Strom machen,
an dessen Ufern ihr sitzt und zuschaut, wie er fliesst.
Doch das Zeitlose in euch ist sich der Zeitlosigkeit des Lebens bewusst
Und weiss, dass Gestern nichts anderes ist,
als die Erinnerung von Heute
und Morgen der Traum von Heute.
 
Khalil Gibran, „Der Prophet“
*
Ein italienisches Wirtshaus, auf das Wesentliche reduziert und mit grossen Vollholzrädern versehen: Solch eine kleine fahrbare römische Taverne erwartete am Samstagnachmittag, dem 05.05.2012, etwa 3 Dutzend Slow-Food-Mitglieder auf dem Eisi-Platz in Brugg bei Vindonissa, das als vorerst nördlichste Garnison des römischen Imperiums ab dem Jahr 15 u. Z. ein wichtiges Verkehrs- und Handelszentrum war und nach dem Abzug des römischen Militärs rasch verkümmerte. Bis dahin waren die Römer so erfolgreich, weil sie besser assen als der Rest der Welt, heisst es.
 
Am Vorabend des traditionellen Brugger Römertags stimmte man sich auf die Rückbesinnung der abendländischen Kultur ein, die mit der römischen zwischen dem Hellenismus und dem Mittelalter begann. Es war die Zeit einer reichen und bewegten Geschichte, die über Italien und Europa (was immer das sein mag) hinaus griff. Nach einem ausgeklügelten System umherziehende Legionäre brauchten Lager und Verpflegung. Eine bedeutende römische Aussenstation war Vindonissa (Windisch) bei Brugg.
 
Offensichtlich lebt in der heutigen Zeit der Verwirrungen und der Orientierungslosigkeit der Reiz des Vergangenen, des im geschichtlichen Dunkel Versunkenen, neu auf. Wenn wir schon nicht mehr wissen, wohin wir gehen sollen und welche Reiseziele noch zur Verfügung stehen, wollen wir doch immerhin möglichst detailliert erfahren, wie die Vergangenheit aussah, die unseren Lebensstil beeinflusst hat – kurz: woher wir kommen. Die Esssitten sind ein Teil davon. Und vielleicht ist es ja auch kein Zufall, dass die Slow-Food-(SF-)Bewegung, die einen Kontrapunkt zum modernen Schnellfrass setzt, ihren Ursprung in Italien hat, nicht allein weil alle Strassen nach Rom führen. Als 1986 Pläne für ein Hamburger Restaurant in der Altstadt von Rom auftauchten, rotteten sich Leute zusammen, um die Esskultur nicht unter amerikanischen Einflüssen verkommen zu lassen. Buono, pulito e giusto – also: gut, sauber und fair – sollte die Nahrung sein, und die Genussfreude wurde einbezogen.
 
Unmittelbar dort in Brugg, wo sich die SF-Mitglieder aus den Kantonen Aargau und Solothurn versammelt hatten (auf der Eisi-Anlage), führte eine Römerstrasse vorbei, ein Teil eines allmählich gewachsenen, gigantischen Strassennetzes. Allein die Römerstrassen erster Ordnung würden aneinandergereiht zweimal um den Äquator reichen, wobei nicht alle gepflastert waren, sondern es gab viele befestigte Erdwege mit Kiesaufschüttungen, auch Hohlwege, die Hügel durchschnitten, und von den Metallreifen gezeichnete, eingekerbte Karrenwege wie jener bei Effingen, der über den Bözberg führt.
 
Die fahrbare, hölzerne, zusammengesteckte und mit nur 2 Nägeln versehene Taverne, ein angeblich originalgetreu rekonstruierter Wagen, hätte vor den Distanzen und Strassenzuständen allerdings bald einmal kapituliert. Der Karren war vom Agronomen Robert Obrist, dem geschäftsführenden Präsidenten des Fördervereins Werkstatt Schenkenbergertal (www.schenkenbergertal.ch), der Natur, Tradition und Moderne verknüpft, in Brugg aufgestellt worden. Als dekorative Attrappe machte sich die mobile Taverne gut – und noch gefälliger war, was auf ihr als Apéro zum Auftakt vorbereitet war. Robert Obrist, den man als gross gewachsene sportliche Erscheinung auch als Legionär hätte einsetzen können, servierte Häppchen mit Olivenpaste und aromatische, süsse Aprikosen, die kurz in Weisswein gekocht und dann mit Traubensaft, Honig und Pfeffer angereichert wurden, zumal Honig und Gewürze bei den alten Römern hoch im Kurs standen. Später, beim Salzhaus, wohin der Karren umgezogen war, gab es eine Art Emmerotto (Abwandlung von Risotto bzw. Gerstotto, ein Emmer-Eintopf, „Puls“ genannt), gekochte Eier in Piniensauce (Ova Elixa) sowie eine Paste aus Schafskäse, Knoblauch und Kräutern („Moretum“).
 
An Tranksame standen ein sprudelnder Apfelwein mit Holunderblütenaroma („Sureau & Cidre“) aus dem Schloss Kasteln und Weine aus der Region Brugg bereit – ein Top-Catering also, um es in der Sprache der Moderne auszudrücken. Auf einer Weinetikette war unter einem römischen Mosaik „Defrutum“ zu lesen, der Hinweis auf einen unvergorenen und eingedickten Traubensaft, welcher in der römischen Küche als Süssungsmittel für Nachspeisen verwendet wurde.
 
Der Tavernenwirt schöpfte auch hinsichtlich seines historischen Wissens aus dem Vollen. Er erzählte von den Urgetreide-Arten Emmer und Einkorn, von fermentierten, stinkenden Fischsaucen, und vom Transport recht frischer Fische über die Alpen hinweg. Erstaunliche Leistungen.
 
Altstadt-Rundgang
Nach der lukullischen Stärkung war die Gesellschaft durchaus in der Lage, einen Altstadtrundgang zu bewältigen, der unter der Führung von Johanna Zumstein-Belart stand, die als geschichts- und ortskundige Begleiterin derart gefragt ist, dass sie schon heiser war, als sie ankam. Doch was ihre Stimme dann gleichwohl zustande brachte, begeisterte alle. Das bildungsbeflissene Prophetenstädtchen Brugg, das viele Religionsverkünder hervorbrachte, blühte im grösseren geschichtlichen Zusammenhang bis hin zur Einzelheit neu auf, und kleine Dinge erhielten eine Bedeutung, an denen man normalerweise vorbeigeht, ohne sie zu beachten.
 
„Wo Wasser, da Weg, wo Steg, da Stadt“, sagt eine alte Regel. Frau Zumstein bezeichnete Brugg, dessen Name auf den wichtigen Aareübergang (Brücke) an der schmalsten Stelle des Aarelaufs hinweist, als Vorgängerstadt von Wien, da es ja die Residenzstadt der Habsburger war. Das Dorf erhielt 1284 durch König Rudolf von Habsburg das Stadtrecht. 1415, als es etwa 600 Einwohner zählte, wurde es von den mächtigen Stadtbernern erobert; das Amt Schenkenberg inkl. Bözberger konnten sie erst 1460 einnehmen. Der Bezirk Brugg war nach seiner Eroberung durch die Berner über 350 Jahre lang ein Vorposten der Alten Eidgenossenschaft gegen das österreichische Fricktal.
 
An der Aare wurde als Wächter im 12. Jahrhundert der „Schwarze Turm“ gebaut, der bis 1986 als Gefängnis diente, in dem man vergebens nach Komfort suchte; seine jetzige Funktion ist die eines Wahrzeichens der Stadt. Auch alle übrigen Altstadt-Gebäude haben ihre eigene Geschichte, so etwa das sogenannte Effingerschlössli, das dann zum Salzhaus wurde, später als Bauamt diente und jetzt ein Kulturzentrum ist; in der 1. Etage befindet sich eine Galerie. Das „Haus zum Güggel“ gehört zur Familiengeschichte von Frau Obrist. Dort wohnte Marie Elisabeth Jäger, die von 1840 bis 1877 lebte. Ihr (seiner Urgrossmutter) hat Peter Belart das Buch „Meines guten Willens dürfen Sie versichert sein“ gewidmet, zumal das Familienarchiv noch vollständig vorhanden ist. Gleich daneben angebaut ist das Gebäude, in dem Heinrich Pestalozzi in einer Arztpraxis starb. Der Erzieher, Dichter und Mahner – er verwirklichte die Idee von der Menschenbildung – hatte vor allem auf dem nahen Birrfeld (Neuhof) gelebt und zusammen mit seiner Frau gewirkt. Dort entstand auch das Buch „Lienhard und Gertrud“.
 
Im Heimatmuseum sind unter anderem die Kanonen eingelagert, die jeweils den Jugendfesttag (Rutenzug) lautmalerisch eröffnen. Im gleichen Haus ist auch die Stäbli-Sammlung ausgestellt, die Hinterlassenschaft des Schweizer Landschaftsmalers Adolf Stäbli (1842‒1901), der ein Brugger Bürger war.
 
Das wohl attraktivste Haus in Brugg ist das Lateinschulhaus, dessen Geschichte 1396 begann. Seine informativ bemalte Fassade ist unten in deutscher, weiter oben in lateinischer und ganz oben in griechischer und hebräischer Sprache beschriftet – entsprechend dem Bildungsfortschritt der Schüler, die darin tatsächlich nach oben aufstiegen. Allerdings hatte ausschliesslich der Nachwuchs aus reichen Familien hier Zutritt; mochte ein Kind aus einer ärmeren Familie noch so begabt sein, es wurde nicht zugelassen, nicht gebildet. Die Schule sorgte nach der Reformation vor allem für Nachwuchs für die bernische Kirche (Bern zwang den Untertanen den reformierten Glauben auf).
 
Die Erinnerungen der Brugger an die Herrschaft der Berner sind getrübt; es herrschte eine Art Kastenwesen, das sich auch in der Bekleidung auszudrücken hatte. Die Strafen auch für leichte Vergehen waren hart, und oft musste von einem Missetäter in der Kirche nach dem Gottesdienst vor versammeltem Publikum Abbitte geleistet werden. Der sonntägliche Kirchenbesuch war obligatorisch und wurde auch überwacht.
 
Das führte dazu, dass die derart unterdrückten Brugger 1798 den Einmarsch der Franzosen begrüssten, weil dadurch der Berner Herrschaft ein Ende gesetzt wurde. Auf dem Eisi wurde ein Freiheitsbaum aufgestellt. Doch die Franzosen bauten Heerlager auf, plünderten, saugten die Bevölkerung aus.
 
Und seit 1803 gehört Brugg zum damals entstandenen Aargau, galt gar als sein Herzstück – Napoleon sei Lob und Dank!
 
„Essen’z“
Inzwischen, am 05.05.2012, und nicht etwa 1803, war die abendliche Essenszeit angekommen, wozu man sich ins Restaurant „Essen’z“ an der Fröhlichstrasse 35, ausserhalb der Altstadt, begab. Irene Krebser und Sepp Odermatt aus Holderbank AG hatten den Anlass minuziös vorbereitet.
 
Der Name des ausgewählten Restaurants leitet sich von „Essenzen“ ab, weil in dem schlichten, geradlinig ausstaffierten Haus nur hochwertige Grundprodukte meist nach klassischer französischer Art verwertet werden, sozusagen ein gefundenes Fressen für Slow-Food-Mitglieder mit ihrem Regionalpräsidenten Mauro (Melchiorre) Catana, sizilianischen Geblüts, demnach aus der weiteren Umgebung von Rom.
 
Das Pächterpaar Andri Casanova und Katrin Spillmann hat eine Vorliebe für regionale Produkte und Schweizer Weine. Die Vorspeise leitete in leichter, luftiger Manier die weiteren Höhenflüge ein: Kalbsmilken vom Biokalb mit grünen Villnacher Spargelabschnitten und Morcheln garniert. Das Kalbsbries, wie die Thymusdrüse auch genannt wird, gilt als eines der edelsten Stücke der grossen Küche und ist die teuerste Innerei, war nach dem Wässern in Vollmilch gegart worden. Das betonte die weisse Farbe. Das zerschmelzende Bries behielt seinen ursprünglichen delikaten, leicht an Nussöl erinnernden Geschmack und seine feine Konsistenz. So unverfälscht erhält man die Drüse, die junge Tiere zur Milchverwertung benötigen, sonst kaum serviert. Wahrscheinlich hätte selbst Paul Bocuse, welcher dem Thema „Ris de veau“ in seinem Buch „Die Neue Küche“ mehr als 2 zweispaltige Seiten gewidmet hat, seine Freude gehabt. Der Sauvignon blanc im Lee (2011) vom Rebgut Sternen in Würenlingen war nach meinem Empfinden im gegebenen Zusammenhang etwas überladen; ich hätte einen leichten Genferseewein oder Neuenburger vorgezogen.
 
Der Hauptgang war dem Fleisch vom Wollschwein (wollhaariges Weideschwein) gewidmet, eine Rasse, die vom Aussterben bedroht war und sich nun bei natürlicher Haltung wieder einer grossen Zuneigung erfreut. Schinken und Rippenstück waren saftig, leicht durchzogen, zurückhaltend im Geschmack, auserlesen, fein, zu einem unaufdringlichen Jus und Bratkartoffeln, Bohnen und grob geschnittenen Stückchen von Frühlingsknoblauch. Ein körperreicher Blauburgunder aus Würenlingen („Unicus Cuvée“, 2008) machte sich gut dazu.
 
Zu einem Fest wurde auch der Genuss eines lauwarmen Küchleins aus Villnacher Rhabarber, Erdbeeren, Zwieback und Bourbon Vanille – hohe Schule.
 
Der Slow-Food-Anlass wurde zu einer angenehmen Erinnerung ans Gestern im zukunftsgerichteten Prophetenstädtchen, für jeden Teilnehmer zu einem persönlichen Kapitel Geschichte, die sich in die Zukunft ausdehnen kann, wenn wir zu ihren wichtigen Elementen Sorge tragen.
 
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