Textatelier
BLOG vom: 09.06.2012

Vorarlberg-Barock oder: Illusion eines besseren Lebens

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Ende Juli vor genau 40 Jahren bekam ich in Freiburg im Breisgau nach Absolvierung der Eignungsprüfung, allgemein auch Begabtensonderprüfung genannt, mit der Zustimmung zum Studium ohne Reifezeugnis an einer Pädagogischen Hochschule des Landes Baden-Württemberg die akademischen Weihen, die ich aus familiären Gründen nicht über die reguläre Laufbahn per Gymnasium bekommen konnte. Die Eignungsprüfung enthielt neben allgemeinbildenden Fächern auch ein Wahlpflichtfach, und ich hatte damals Kunstgeschichte gewählt. Als Prüfungsthema hatte ich mich für den „Vorarlberger Barock“ entschieden. Der Barock und das Rokoko war mir als jemand, der in Nordrhein-Westfalen, vor allem mitten im Ruhrgebiet aufgewachsen war, eigentlich fremd, etwas Neues. Etwas Neues zu entdecken hat mich aber schon immer gereizt und tut es noch heute.
 
Der Barock bezeichnet eine Kunstepoche von etwa 1570‒1750. Sie ist gekennzeichnet u. a. durch eine dynamische Wirkung durch den Reichtum des plastischen und malerischen Schmucks, schraubenförmig gedrehte oder zu Gruppen zusammengefasste Säulen und Durchbrechung der architektonischen Struktur mit Mitteln der Malerei. Das Königsschloss von Versailles ist das bekannteste profane Bauwerk des Barocks. (Das Rokoko ist kein eigener Baustil, sondern eine fantasievolle Weiterbildung barocker Schmuckformen. Es währte von etwa 1730 bis 1770. Das Wort ist vom französischen „rocaille“ = Muschelwerk abgeleitet). Im Deckenstuck des Rokoko spriessen zarte Zweiglein und anmutige Blütenformen aus den Kurven der Rocailles und verbinden sich mit luftigen Blumengehängen zu heiter-bewegten Schmuckformen. Die Innenräume funkeln und sprühen im Glanz einer verwirrend schönen Dekorationskunst. In der heutigen Zeit werden die Ausschmückungen des Rokoko häufig als überladen und erschlagend empfunden.
 
Auf das Vorarlberger Münsterschema kam ich, weil ich irgendwann einmal auf den in der Nähe von Freiburg liegenden kleinen Schwarzwaldort St. Peter gestossen war. Das sich dort befindende ehemalige Kloster mit Barockkirche, Rokoko-Bibliothek und Fürstensaal gilt als eine der schönsten kunsthistorischen Anlagen Süddeutschlands. Diese Bauten unterscheiden sich von Barockkirchen in Bayern, z. B. die Wieskirche in Steinhagen und in Franken die Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen oder die Würzburger Residenz. Dort stösst man auf Namen wie Wolfgang Dientzenhofer (1648‒1706), Dominikus Zimmermann (1685-1766)  und Balthasar Neumann (1687‒1753). Ich empfand die Klosterkirche St. Peter als nicht so überladen wie z. B. die Wieskirche.
 
Was haben die Orte Birnau in Deutschland, St. Gallen in der Schweiz, Ebersmünster im Elsass und St. Gallus in Österreich gemeinsam? Alle diese Orte und noch viele mehr haben mit der Auer-Zunft zu tun, die dort vor allem sakrale, aber auch andere Bauwerke errichtete. Als Zunft bezeichnete man (bis heute, vor allem auch in der Schweiz) einen Zusammenschluss von z. B. Baumeistern, Stuckateuren, Handwerkern und Maurermeistern, hier also aus dem Bregenzerwald, im heutigen österreichischen Bundesland Vorarlberg, mit dem Zentrum in Au. Der kleine, jetzt vom Tourismus lebende Ort liegt im westlichsten Bundesland Österreichs, Vorarlberg, im Bezirk Bregenz im hinteren Teil des Bregenzerwaldes mit Alpenhöhen wie den Kanisfluh und den Korbschroffen.
 
Schon im Zeitraum von 1670 bis 1699 waren mehr als 90 % der erwachsenen männlichen Bevölkerung von Au-Schoppernau im Baugewerbe tätig. Auch im 18. Jahrhundert waren dort mehrere Familien ansässig, aus denen Baumeister erwuchsen: unter anderem die Familien Beer, Thumb und Moosbrugger.
 
Die Baumeister der Familie Thumb waren die Brüder Michael (1640–1690) und Christian (1645–1726) und die Söhne vom Michael, Gabriel (1671–1719) und Peter (1681–1766); aus der Familie Beer waren es Franz Beer (1659‒1722), Johann Michael Beer von Bildstein (1696‒1780), der nach Bildstein einheiratete. Weiterhin machte sich die Familie Moosbrugger einen Namen, besonders Caspar (Andreas) Moosbrugger (1656‒1723). Die Moosbrugger-Familie war über mehrere Generationen hinweg zahlreich als Baumeister, Stukkateure und Maler tätig. Die Familie und der Zusammenhalt der Verwandtschaft waren bei den Baumeistergruppen des Bregenzerwalds selbstverständlich. Manche Baumeisterfamilien standen durch Versippungen in Zusammenhang. Durch Heirat bestanden verschiedenen Verbindungen zwischen den Familien Beer, Moosbrugger und Thumb. Zum natürlichen Erbgang der Begabung kam die praktische Weiterentwicklung in der Lehre und durch Bautätigkeiten. So wurden einmal begonnene Arbeiten bei Tod des Baumeisters in seinem Sinne weiter geführt.
 
Die Auer-Zunft entwickelte das oben genannte Vorarlberger Münsterschema. Es ist eine Form des Kirchengebäudes, bei dem das Langhaus auf ein Schiff reduziert ist, das durch bis zur Aussenmauer verbreiterte Pfeilerreihen getragen wird, auch Wandpfeilerkiche bezeichnet. Zwischen den Pfeilern befinden sich Kapellen. Zusammen mit den darüber liegenden Emporen erweckt das Bauwerk im Innern so den Eindruck einer Emporenbasilika. Die Decke ist gewöhnlich als Tonnengewölbe gestaltet. Das Querhaus ist nur wenig ausladend; der Chor greift meist die Form des Langhauses wieder auf. Eine weitere Errungenschaft der Vorarlberger Baumeister, neben der Grundrissdimensionierung, ist das Flachgewölbe. In Italien finden sich Vorbilder zum Beispiel bei S. Ignatio in Rom oder in vielen Bauten Borrominis. Diese Gewölbe eignen sich besonders für die illusionistische Deckenmalerei. Die Vorarlberger verwendeten die Flachgewölbe vor allem für den Bibliothekenbau. Als Beispiel für diese Gewölbeform im Vorarlberger-Kirchenbau kann die Wallfahrtskirche Birnau am Bodensee gelten, die von Peter Thumb zwischen 1746 und 1750 erbaut wurde. Diese Art der Architektur war zu Beginn des 18. Jahrhunderts sehr erfolgreich. Als berühmtester Profanbau kann die Klosterbibliothek in St. Gallen angesehen werden.
 
Der Blick an die Decke der Kirche fasziniert mich als Besucher dieser Bauwerke immer wieder. Der Barock entwickelte, von Italien ausgehend, die gesamte Decke zu einem einheitlichen Bildfeld, sich in fantastische Landschaften und Architekturen erweiternd oder scheinbar in einen unbegrenzten Himmelsraum öffnend. In Vollendung wurde die illusionistische Deckenmalerei, es wurden eigene Kompositionsprinzipien festgelegt, z. B. mehrere wechselnde Blickpunkte, die Entwicklung aus dem Bezug auf die Mitte hin und nicht von der Basis her. Die Helligkeit der Farben, die Lichtgestaltung und die Luftperspektive vermitteln einen schwebenden, atmosphärisch wirkenden Eindruck. Bei den Rokokokirchen wurde eine solche überirdische Kuppel mit dem realen Andachtsraum verbunden. Dabei spielten der Stuckdekor und die Stuckplastik eine besondere Rolle, weil diese in aller Regel den Rahmen und Übergang vom Kirchenraum zu den weiten Himmelsphären bildeten. Architektur, Malerei und Stuckatur bildeten ein Gesamtkunstwerk.
 
Einerseits ist es eine Repräsentationskunst der römisch-katholischen Kirche, anderseits soll der Stil auf die Gefühle des Betrachters einwirken, soll ihn in Erstaunen, Demut, Ehrfurcht und Bewunderung versetzen.
 
Setzen Sie sich einmal in eine dieser Kirchen in eine Bank, blicken Sie zur Decke und lassen Sie die Malerei auf sich wirken! Wir abgeklärten modernen Menschen, die Bildmedien aller Art gewohnt sind, können sich kaum noch vorstellen, wie das für Menschen des 18. Jahrhunderts war. Sie träumten sich weg von den irdischen Lasten und hin zum Paradies ohne Sorgen um das tägliche Brot, Krankheit und Tod. Dazu kamen noch lateinische Gesänge, vom Grossteil der Kirchenbesucher nicht verstanden, aber so prachtvoll, dass sie auch zu diesen Gefühlen beitrugen. So konnten sich die Menschen damals für eine kurze Zeit der Illusion eines besseren jenseitigen Lebens hingeben.
 
Ich bin für solche Träumereien und Illusionen zu realistisch und weiss nicht, ob ich das bedauern soll oder nicht. Ich fand die Vorstellung faszinierender, dass sich in einem kleinen österreichischen Dorf in dieser Zeit eine vorindustrielle Erwerbskultur entwickelt hat, aus der dann so prachtvolle Gebäude entstanden sind und das über mehrere Generationen hinweg.
 
Mein Studium hat mich dann von der Kunstgeschichte weggeführt, hin zu Geschichte und Deutsch. Vergessen habe ich meinen Ausflug in den Barock nie. Und wenn ich im Süden Deutschlands, in Österreich oder in der Schweiz bin, sind Bauwerke des Vorarlberger Barock immer wieder ein Besuch wert.
 
Internetbezüge:
 
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