Textatelier
BLOG vom: 28.06.2012

Heilpflanzen in der Stadt 2: Wegwarte und Zichorienkaffee

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
In der Nähe der Altstadt von Schopfheim D begegnete ich am Rande eines Zauns über 2 m hohen Pflanzen der Wegwarte (Cichorium intybus L.). In der Regel wachsen diese Pflanzen 50 cm hoch, können aber auch bis 1,50 m in die Höhe spriessen. Sehr schön finde ich die himmelblauen zungenförmigen Blütenblätter mit 5 Zähnchen an den Enden. Es gibt auch Pflanzen mit weissen oder rosa Blüten. Die Wegwarte wurde 2009 in Deutschland zur „Blume des Jahres“ gekürt.
 
Liefert nicht nur Zichorienkaffee …
„Die Wegwarte wartet auf den, der ihn in seine Hausapotheke einheimsen will, auf jedem Wege“, schreibt Sebastian Kneipp in seinem Buch „Meine Wasserkur“. Er empfahl den Tee bei verdorbenem Magen und Auflagen von Blüten oder Kraut bei Magendrücken und schmerzhaften Entzündungen. Über 2 Jahrhunderte vorher waren ein Wegwartenblumenwasser bei Augenbeschwerden und „Conservenzucker“ mit Wegwartenblüten zur Herz-, Leber- und Magenstärkung die „Renner“.
 
Die Wegwarte erreichte schon während der Kontinentalsperre durch Napoleon I. als Pseudokaffee eine grosse Bedeutung. Da der beliebte Kaffee nicht mehr zur Verfügung stand, hatten einige findige Köpfe nach einem Ersatz gesucht. Diesen fanden sie in den Zichorienwurzeln (Wegwartenwurzel). Durch Röstung entstand der Zichorienkaffee, der natürlich ohne Koffein war und bei weitem nicht an den Geschmack des Kaffees herankam. Aber in Notzeiten – auch während der beiden Weltkriege – wurde er reichlich getrunken. In Gaststätten stand damals oft die Bezeichnung „Deutscher Kaffee“. Es war eine elegante Umschreibung und Tarnung für Ersatzkaffee.
 
Nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1950er-Jahre konsumierten wir immer wieder den Zichorien- oder Malzkaffee, den wir „Muckefuck“ nannten. Meist wurde der Kaffeeersatz aus Gerste, Malz, Roggen, Eicheln, Bucheckern, Feigen oder den Wurzeln der Wegwarte oder den Wurzeln des Löwenzahns gewonnen. Die bekanntesten Produkte nach dem letzten Krieg waren „Linde´s Kaffee-Ersatz-Mischung“, „Kathreiner Malzkaffee“ und „Caro-Kaffee“ (letzterer ist ein Instant-Ersatzkaffeegetränk). Caro-Kaffee, der 1954 auf den Markt kam, wurde aus Gerste, Malz, Zichorie und Roggen hergestellt.
 
1976 war Bohnenkaffee in der DDR als Importprodukt kaum zu bekommen. Als dann eine Mischkaffeesorte mit hohem Getreidekaffee-Anteil auf den Markt kam, hagelte es Proteste. Das Produkt wurde spöttisch nach Erich Honecker als „Erichs Krönung“ bezeichnet.
 
Heute ist der Ersatzkaffee wieder im Kommen. In Naturkostläden wird ein solches Produkt angeboten, weil er bekömmlicher ist und kein Koffein enthält.
 
Im Getreidekaffepulver wurden jedoch höhere Werte der krebserregenden Substanz Acrylamid gefunden. Durch Umstellung der Produktion konnte dieser Stoff von 420 bis 2350 Mikrogramm pro Kilogramm auf unter 540 µg/kg gesenkt werden. Normaler Röstkaffee enthält 195 µg/kg Acrylamid. Im löslichen Kaffeepulver sind dagegen 836 µg/kg enthalten.
 
Kulturformen sind Chicorée, Radicchio und die Wurzelzichorie.
 
Rattenwurz und verfluchte Jungfrau
Volksnamen der Wegwarte sind: Weglueger (Schweiz), Wegtreter (Baden), Zigori, Hansl am Weg (Österreich), Sonnenbraut, Sonnenwirbel (die „Sonnen“-Namen entstanden wohl deshalb, weil sich die Blüten stets der Sonne zuwenden), Zichorie, Hindlauf, Rattenwurz, Wegeleuchte, Zgorikraut, Sigorikraut, Zigaari ( Südpfalz, besonders um Bergzabern), Schigori (Pfalz), wilde Endivie, Feldzichorie, Armensünderblume, Kaffeekraut, faule Magd, verfluchte Jungfer.
 
Pulver gegen Fehltritte des Gatten
Früher streuten Ehefrauen dem Gatten gepulverte Wegwarte ins Essen, um ihn vor Fehltritten zu bewahren. Die Pflanze half auch bei bereits Fremdgegangenen, sie brachte wieder die Liebe des Ehemannes zurück. Über die Erfolge wird jedoch in der Literatur nichts erwähnt.
 
„Auf jeden Fall taten die Ehefrauen ihrem Gemahl nichts Böses, da die gepulverte Wurzel lediglich die Verdauung des Geliebten anregte“, bemerkte Dr. Petra Orina Zizenbacher in ihrem Werk „Heilpflanzen − Apotheke aus Feld und Flur“.
 
Werdende Mütter bekamen die Wurzel unters Leintuch, um die Geburt zu erleichtern. Diebe mussten sich vor der Wegwarte in Acht nehmen. Sobald ein Bestohlener eine Wurzel der Wegwarte unters Kopfkissen legte, erschien der Dieb im Traum.
 
In etlichen Märchen tauchte die Pflanze als verzauberte oder als treue Jungfrau auf, die vergeblich auf ihren Geliebten wartet. Weil der Bursche nicht kam, wurde das Mädchen in eine schöne Blume verwandelt. So ist sie auch von Herman Löns im „Kleinen Rosengarten“ besungen worden: „Es steht eine Blume, wo der Wind weht den Staub. Blau ist ihre Blüte, aber grau ist ihr Staub.“ Und am Schluss liest man: „Da stehst Du und wartest, dass ich komme daher, Wegwarte, Wegwarte, du blühst ja nicht mehr!“
 
Inhaltstoffe für Diabetiker
Die Wurzel enthält Inulin, den Bitterstoff Intybin, Gerbstoffe, ätherische Öle und Schleimstoffe. Die Stoffe wirken verdauungsfördernd, stoffwechselanregend, harntreibend, leberstärkend, galletreibend und appetitanregend.
 
In jüngster Zeit wird die Wurzelzichorie als Lieferant von Fruktan angebaut. Fruktan ist die Bezeichnung für eine Gruppe von wasserlöslichen Oligo- und Polysacchariden. Da der Mensch nur bestimmte Oligo- und Polysaccharide abbauen kann, eignen sich die Fruktane als Süssstoff für Diabetiker. Die Lebensmittelindustrie entdeckte den Anbau der Wurzelzichorie wieder, weil sie vermehrt den probiotischen Ballaststoff Inulin für ihre Functional Food-Produkte einsetzt.
 
Hilfreich bei Blähungen
Innerliche Anwendung: Der Tee aus Kraut und Wurzel, auch Frischpflanzentropfen und Trifloris-Essenz: Appetitlosigkeit, Galle- und Leberstörungen, Blähungen, Völlegefühl.
 
Dr. Petra Orina Zizenbacher empfiehlt folgende Tees:
 
Haustee: Zichorienblüten mit Rosen- und Ringelblüten mischen.
 
Tee zur Anregung der Verdauungsdrüsen: Löwenzahnwurzel, Zichorienwurzel und Eibischwurzel 1:1 mischen (Eibischwurzel nicht über 45 °C erhitzen!).
 
Sonstige Anwendung: Die jungen, weichen Triebe geben ein schmackhaftes Wildgemüse; frisch gehackte Blätter auf Butterbrot gestreut, sind eine Köstlichkeit. Ausserdem lassen sich aus den Wegwartenblüten Gelee und Wegwartenwein und aus den Wurzeln Wegwartenkaffee herstellen.
 
Der Presssaft der ganzen Pflanze wird bei Haarausfall in die Kopfhaut eingerieben.
 
 
Literatur
Grau, Jung, Münker: „Beeren, Wildgemüse, Heilkräuter“ (Steinbachs Naturführer), Mosaik Verlag, München 1983.
Künzle, Johannes: „Das grosse Kräuterheilbuch“, Verlag Otto Walter AG, Olten 1945.
Rössler, Helmut: „Die grosse Heilpflanzenpraxis“,  BLV Verlagsgesellschaft, München 1984.
Scholz, Heinz; und Hiepe, Frank: „Arnika und Frauenwohl“, Ipa Verlag, Vaihingen 2002.
Vonarburg, Bruno: „Natürlich gesund mit Heilpflanzen“, AT Verlag, Aarau 1993.
Vonarburg, Bruno: „Energetisierte Heilpflanzen“, AT Verlag, Aarau 2010
Zizenbacher, Petra, Orina: „Heilpflanzen, Apotheke aus Feld und Flur“, Freya Verlag, A-4210 Unterweitersdorf 2003. Hompage: www.zizenbacher.at..
 
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