Textatelier
BLOG vom: 29.07.2012

Auswählend verstehen: Kein Zweifel, Leser sind intelligent

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Liebe Leserinnen und Leser,
 
Sie können sicher sein: Sie sind intelligent! Wieso? Weil Sie lesen! Das Wort Intelligenz kommt aus dem Lateinischen: inter = zwischen und legere = lesen, wählen, zu interlego = dazwischen ablesen/wählen oder: hier und da ablesen/wählen, übertragen in der Bedeutung auswählend verstehen. Sie lesen Blogs bei www.textatelier.com, das heisst, Sie verstehen es, auszuwählen.
 
In letzter Zeit habe ich allerdings Meldungen gelesen, die Zweifel aufkommen lassen könnten: Vor einigen Tagen erfuhr ich, dass dicke Menschen weniger intelligent seien als schlanke; und heute las ich, eine Studie vom Institut für Psychologie der TU Chemnitz habe ergeben, dass intelligente Menschen zur „politischen Mitte“ neigen. Neigen Sie zur „weniger extremen Orientierung“? Damit sind vermutlich die früheren Studien überholt, die unabhängig voneinander erbracht hatten, dass Menschen mit einer ausgeprägten Neigung zu linksliberalen und zu atheistischen Ansichten einen um mehr als 10 Punkte höheren Intelligenzquotienten (IQ) aufweisen als Personen, die sich als ausgeprägt konservativ einschätzen. Schätzen Sie sich als fleissig ein? Intelligenz wird „mit bürgerlichen Einstellungen wie etwa Fleiss in Zusammenhang gebracht.“ Sie sind Raucher? Dann kann Ihre Intelligenz nicht sehr hoch sein, wenn Sie in Australien wohnen, denn von dort kommt die Studie, die das aussagt ...
 
Wenn ich diese Erkenntnisse auf unsere Politiker anwende, komme ich zu folgendem Ergebnis: Früher waren Linksliberale intelligenter als heutzutage, denn die politische Mitte, also der linke Flügel der CDU und der rechte Flügel der SPD, der FDP und der Grünen sind intelligenter geworden, es sei denn, die Politiker sind faul, dick oder sie rauchen. Die Konservativen haben aufgeholt; sie betrachten sich jetzt der „politischen Mitte“ zugehörig. Auch wenn Politiker sich öffentlich und ausdrücklich als Christen ausgeben, darf an ihrer überdurchschnittlichen Intelligenz gezweifelt werden, denn dieser Teil der Studie ist nicht infrage gestellt worden. Linksliberale, der linke Flügel der Grünen und die Linken?? Urteilen Sie selbst!
 
Ich erinnere mich an eine Vorlesungsreihe an der Universität Bielefeld, die während meines Studiums dort im Fach Psychologie gehalten wurde. Eine mir bekannte Studentin nahm daran teil und bekam die Gelegenheit, einen Intelligenztest zu machen. Eines Tages traf ich sie. Sie war völlig depressiv, wollte ihr Studium abbrechen, weil sie nicht mehr daran glaubte, es bis zum Diplom zu schaffen. Der Grund? Der Intelligenztest hatte ergeben, dass ihre Intelligenz nur bei 90 Punkten lag. Da ihr Selbstbewusstsein im zarten Alter von 22 noch nicht sehr ausgeprägt war, hatte ihr der Test „den Rest gegeben“. Sie war jetzt überzeugt davon, dass sie dumm und ungeeignet für ein Studium sei. Ich weiss noch, dass ich auf sie eingeredet habe, dass so ein Test rein gar nichts aussage, dass der Begriff „Intelligenz“ in der Psychologie völlig unterschiedlich behandelt werde, dass so ein Test nicht valide, reliabel (verlässlich) und verifizierbar sei. Wohl vergeblich, denn einige Zeit später habe ich dann erfahren, dass sie ihr Studium „geschmissen“ hat. Ich weiss nicht, was aus ihr geworden ist.
 
Sie haben studiert? Dann sind Sie wahrscheinlich intelligent, denn die Intelligenz korreliert damit bis zu 0.70 (1.00 wäre 100 %). Sie haben Ihr Studium abgeschlossen? Bei einer Metastudie, welche 6 andere Studien zusammenfasste, konnte festgestellt werden, dass es einen Zusammenhang zwischen IQ und Ausbildungs- und/oder Studienerfolg gibt. Intelligente Leute sind erfolgreicher. Die durchschnittliche Korrelation lag bei 0,44. Und wenn Sie dann noch eine intelligente Partnerin haben, können Sie sicher sein, dass Sie es auch sind, denn es lässt sich eine positive Korrelation von Intelligenz und „assortativer Paarung“ feststellen, d. h. mit steigender Intelligenz neigen Menschen zur Begattung mit Individuen, die ihnen in gewisser Hinsicht besonders ähnlich sind. Prof. Dr. Jens B. Asendorpf („Psychologie der Persönlichkeit“) gibt hier eine Korrelation von 0,37 an. Vielleicht sind Sie sogar hochbegabt, denn: „Zusammenfassend können damit die Hochbegabten als im Schulsystem gut integriert und schulisch erfolgreich sowie sozial unauffällig, psychisch besonders stabil und selbstbewusst charakterisiert werden." Wer hätte das gedacht? Dabei war ich immer der Meinung gewesen, Hochbegabung und soziale Unauffälligkeit im Schulsystem passten nicht zusammen, denn Hochbegabte fühlen sich von Gleichalterigen und oft auch von der Lehrperson nicht verstanden.
 
Wie hoch ist denn Ihr Intelligenzquotient? Sie haben vor vielen Jahren einmal einen Test gemacht und 115 erreicht? Nicht schlecht, aber das sagt nichts darüber aus, wie intelligent Sie heute sind! Intelligenz altert nämlich!
 
Zuerst fassen wir einmal zusammen: Wenn alle Kriterien auf Sie zutreffen, können Sie nur überdurchschnittlich intelligent sein: fleissig, Nichtraucher, atheistische Ansicht, ohne extreme politische Ansichten, ein BMI-Wert unter 25, Studium mit Abschluss, ein Partner/eine Partnerin, auf den/die diese Kriterien auch zutreffen, psychisch stabil und selbstbewusst. Sie bekommen öfters Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens? Das ist schlecht, denn dann sind Sie nicht mehr sozial unauffällig!
 
Was ist das eigentlich „Intelligenz“? Darüber streiten sich die Gelehrten. Die Arbeiten von Charles Edward Spearman (1863‒1945) sind immer noch Grundlage der Forschung. Er unterschied zwischen angeborenen und den sogenannten „s“-Faktoren, wie z. B. räumliche Vorstellungskraft, verbale Fähigkeiten etc. Seine Auffassung ist in den letzten Jahrzehnten immer wieder be- und überarbeitet worden, aber noch heute geht man davon aus, dass Intelligenz zu einem bedeutenden Teil ererbt ist.
 
Vor 25 Jahren haben Psychologen dieses Modell gern mit dem Aufbau eines Computers verglichen: Die Hardware ist also die Grund-Struktur des Gehirns, auch Mechanik der Intelligenz“ genannt. Sie leistet grundlegende „Denk“-Operationen wie „Verbinden, Vergleichen, Verdichten, Transformieren und die Geschwindigkeit“. Diese Leistungen lassen im Alter nach. Nicht aber die mit der Software vergleichbare „Pragmatik der Intelligenz“, nämlich der Bestand an Handlungs- und Faktenwissen, das sich im Laufe des Lebens angesammelt hat. Vom Vergessen steht übrigens nichts in den Studien.
 
Natürlich kann Software nicht ohne Hardware und umgekehrt arbeiten. Wenn die Hardware also altert, kaufen wir uns einen neuen Computer, der schneller arbeitet, verbesserte Fähigkeiten wie oben angegeben und einen grösseren Arbeitsspeicher hat.
 
Da wir uns kein neues Gehirn kaufen können, müssen wir mit dem Abbau der Funktionen leben. Das machen wir durch „Kompensation“: Heranziehen von Hilfsmitteln (Medien aller Art), Zurückgreifen auf Ersatz-Aktivitäten oder mittels der Entwicklung alternativer Strategien.
 
Ein hübsches Beispiel davon gab uns der weltbekannte Pianist Arthur Rubinstein (1887‒1982): Er erläuterte, im Alter habe er sein Repertoire verringert, er spiele weniger Stücke als früher, diese aber häufiger. Ferner führe er vor schnellen Passagen ein leichtes Ritardando ein, damit der Kontrast das Nachfolgende schneller erscheinen lasse. Er selektierte, optimierte und kompensierte bei seinen Auftritten.
 
Auf mich übertragen: Ich lasse es langsamer angehen, leiste weniger (Kompensation), arbeite konsequenter mit Hilfsmitteln (Optimierung) und muss nicht immer überall dabei sein (Selektion).  Damit „überliste“ ich „meine Hardware“ und bleibe geistig fit! Natürlich bin ich Nichtraucher, nicht dick, fleissig, halte mich körperlich fit, neige zu atheistischen Ansichten, habe eine intelligente Partnerin, bin psychisch stabil, selbstbewusst und lese auch die Blogs meiner Blogger-Kolleginnen und -Kollegen!
 
Aber Vorsicht: Es gibt eine neue Studie, die sagt aus, dass kluge Menschen sich häufiger irren! Offenbar schütze Intelligenz nicht vor Irrtümern, sondern befördere sie vielmehr. Womöglich seien sich kluge Menschen ihrer geistigen Überlegenheit bewusst und gingen deshalb instinktiv davon aus, dass sie die Denkfallen locker umschiffen, meint der Psychologe Richard West von der James Madison University.
 
Sehen Sie in meinen Ausführungen eine Denkfalle?
 
Quellen
Dokument +Analyse Ausgabe 9/89: „Intelligent im Alter“
Rheinische Post vom 20.07.2012: „Studie: Intelligente Menschen neigen zur politischen Mitte“
 
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