Textatelier
BLOG vom: 30.07.2012

Wenn der Tunnelblick aus der Röhre hinters Licht führt

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Gleich 2 × wird in der FASZ (Frankfurter Sonntagszeitung) am 22.07.2012 mit dem Begriff „Tunnelblick“ argumentiert:
 
Der Mensch Michael Schumacher werde erst im 2. Abschnitt seiner Karriere als Mensch wahrgenommen. „Vorher war er Dominator, der Seriensieger, der Fahrer mit dem Tunnelblick.“ („Für immer ‚Schumi’“, Seite 18). Ausserdem taucht der Begriff in einem ganz anderen Zusammenhang auf. Es geht um die Rolle des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck und dem Konkurs der landeseigenen „Nürburgring GmbH“, bei der 330 Millionen Euro zu Lasten der Steuerzahler „in den Sand gesetzt“ wurden. „Es war der Tunnelblick bis zur letzten Runde, in der es Kurt Beck aus der Kurve trug.“ („Das Ende einer trostlosen Geschichte“, Seite 8).
 
Gemeint ist wohl, dass nicht „nach rechts und links“ gesehen wird, sondern nur nach vorn.
 
Das Handelsblatt titelte: „Der Tunnelblick der Wutökonomen“, als Überschrift eines Artikels von Rudolf Hickel gegen die Unterzeichner einer Kampagne gegen den ESM (Prof. Hans-Werner Sinn und Prof. Walter Krämer) meint, diese sähen nur die Mega-Inflation, die dann auf uns zukomme und nicht die mit dem Vertrag einhergehende Lösung der Finanzkrise.
 
Ich assoziiere den Tunnelblick mit einer Fahrt oder, eher seltener, mit einem Spaziergang durch einen Tunnel, und zwar, wenn es nach einer dunklen Strecke hell und das Ende der Röhre erreicht wird. Die Konzentration auf „diesen Lichtblick“ ist enorm, und der Autofahrer muss aufpassen, dass er nicht nur das Licht im Dunkeln sieht, sondern auch die Autos, die vor ihm her fahren. Rechts und links sieht man ja nur die Wände des Tunnels.
 
Die Metapher „Tunnelblick“ wird mit „Scheuklappen“ assoziiert. Ein Pferd mit Scheuklappen kann nur nach vorn sehen und nicht nach rechts oder links. In der Medizin ist der Tunnelblick ein Begriff aus der Augenheilkunde, eine Krankheit, die das Gesichtsfeld einengt. In der Psychologie wird diese Einschränkung nicht auf die Augen, sondern auf das Gehirn bezogen. Es gibt noch weitere Bereiche, die Quantenphysik und eine Software mit diesem Namen.
 
In den oben angeführten Titelüberschriften ist der Begriff „Tunnelblick“ negativ besetzt, im Sinne von „ohne Rücksicht auf Verluste und durch“.
 
Die Metapher „in die Röhre schauen“ mit der Bedeutung „zu spät kommen“ oder „im Nachteil sein“ scheint nicht ganz zu passen, wird etymologisch mit dem Jagdhund in Verbindung gebracht, der nur in die Röhre des Dachses gucken, aber nicht hineinkommen kann, also keinen Jagderfolg hat. Man könnte es aber auf die Bauaktivitäten am Nürburgring anwenden, bei der der Steuerzahler „in die Röhre schaut“, nämlich für sein Steuergeld nichts bekommt, und es sieht so aus, als ob das bei der „Euro-Rettung“ ebenfalls so laufen wird.
 
Man kann beide Begriffe auch im Sinne von „Hoffnung“ benutzen. So wird über Leipzig berichtet: „Die Leipziger dürfen in die ,Röhre' gucken: Am 28. und 29. Juli i2012 lädt die Deutsche Bahn erneut zum ,Tag des offenen Tunnels’ ein. Für 3500 Fahrgäste bietet sich an diesem Wochenende die Chance, den Tunnel und die vier neu entstandenen Stationen zu besichtigen. ‒ Jeweils von 10 bis 18 Uhr wird ein speziell für diese Fahrten hergerichteter Arbeitszug zwischen dem Hauptbahnhof und dem Bayerischen Bahnhof pendeln und entsprechend langsam fahren, um den Besuchern einen Rundumblick zu ermöglichen. Die Züge starten am Hauptbahnhof, Zugang City-Tunnel, Gleis 3-5. Die Bahn freut sich auf ihre Gäste und will die Tage nutzen, um möglichst viel Einblick zu geben und viele Fragen zu beantworten.“
 
Diese Veranstaltung ist eine Konsequenz der Deutschen Bahn auf die Probleme mit dem Neubauprojekt des Hauptbahnhofes in Stuttgart. Die Bürger sollen sehen, was mit den Bauarbeiten erreicht wird, damit der Deutschen Bahn nicht „der Tunnelblick“, hier wieder negativ besetzt, vorgehalten wird. So hofft sie, dass alles ohne Bürgerproteste abläuft.
 
Bei der Setzung von (Lebens-) Zielen sehen viele junge Leute nur das Ende des Tunnels. „Ich will Koch werden,“ berichtete mir der Sohn eines Nachbarn vor einigen Tagen, „ich gehe nur noch 2 Tage in der Woche in die (verhasste) Schule, mache 3 Tage ein Praktikum in einem (Döner-) Restaurant. Nach einem Jahr kann ich dann eine Ausbildung beginnen und dann werde ich Koch. Als Koch kann ich viel Geld verdienen.“ Obwohl es nicht so aussieht, auch Mert hat den Tunnelblick. Er weiss zwar, wie der Tunnel beschaffen ist („ein Jahr Praktikum“), sieht aber in erster Linie nur, wie er in seiner Vorstellung ohne grosse Anstrengung dahin kommen kann, „viel Geld“ zu verdienen, denn, so sein Eindruck, „das Praktikum mache ich ‚mit links’“. Er sieht nicht, dass er in diesem Jahr doppelt gefordert wird, er sieht nicht, dass er sich verpflichtet, für ihn ungewohnte Arbeitszeiten einzugehen, er sieht nicht, dass eine Ausbildung nicht nur praktische, sondern auch theoretische Anforderungen mit sich bringt. Also, das Ziel wird gesehen, aber nicht der Weg dorthin, jedenfalls wird dieser in all seinen möglichen Widerständen nicht genügend gesehen oder als läppisch beurteilt.
 
Es geht auch umgekehrt. Nicht das Ziel sei das Erstrebenswerte, der Weg sei das Ziel. „Der Ursprung dieses geflügelten Wortes ist unklar. Man fand in Zitatdatenbanken Konfuzius (um 551-479 v. u. Z.), aber keine genauere Quellenangabe. Erling Weinreich, der die ausgezeichnete Konfuzius-Website pflegt, schreibt darüber: „Die Aussage: ,Zhi yu Dao’ (Konfuzius, Lunyu 7.6. Kapitel Shu Er) kann man übersetzen als: Ich habe meinen Willen auf das Dao (Weg) gerichtet. In freierer Übersetzung wird daraus wohl: ,Der Weg ist das Ziel’. Doch bei Konfuzius hat dieses Dao, Weg, eine völlig andere Bedeutung" http://de.wikipedia.org/wiki/Dao.
 
Also eher „das Lebensmotto orientierungsloser Zeitgenossen, die in Ermangelung eines klar gesteckten Zieles kurzerhand den Weg dahin als eigentlichen Sinn ihres Daseins postulieren.“
 
Das „Licht im Dunkeln“ als Lösung eines Problems oder gar als Endziel – auch bei Nahtoderlebnisberichten spielt es eine Rolle – ist eine Metapher für den Ausweg aus einer bedrohlichen Situation. „Licht ins Dunkel bringen“ bedeutet eine Sache, die undurchsichtig ist, aufzuklären. Ich halte viel von meiner Metapher: „Es sollte Licht ins Dunkel bringen, aber das Dunkel nahm das Licht nicht auf.“ So sehe ich oft die Berichterstattung. Das angeblich aufklärende Licht erhellt das Dunkel nicht, es wird uns mehr verschwiegen als gesagt wird, wir werden „hinters Licht geführt“.
 
Vor einigen Jahren machten wir einen Urlaub in der Cinque Terre in Italien. Zwischen La Spezia und Vernazza, direkt in Strandnähe, gab es einen Tunnel. Er interessierte mich, und wir gingen hinein. Wir „schauten in die Röhre“ und konnten nach einer Biegung wegen der Dunkelheit nur ein paar Meter nach vorn und nach links sehen. Rechts war der Felsen der Röhre. Nach einigen Minuten hörten wir Geräusche eines Zugs, die näher kamen. Wir konnten aber keine Gleise erkennen. Die Geräusche kamen immer näher, wurden lauter und entfernten sich in die andere Richtung. Es war ein unsichtbarer Geisterzug. Der Blick in den Tunnel brachte keine Erkenntnis. Nach einiger Zeit sahen wir in der Ferne Licht. Wir konzentrierten uns auf diesen Lichtblick. Der Weg durch die Tunnelröhre führte uns immer näher zum Licht. Wir hatten „den Tunnelblick“, rechts und links von uns blieb im Dunkeln, nur das Licht war wichtig. Wir erreichten eine Bretterwand, in der es eine Holztür gab. Sie liess sich öffnen. Das helle Tageslicht blendete uns. Links von uns sahen wir die Geleise, die parallel in einen anderen Tunnel mündeten. Die Geräusche hatten uns „hinters Licht geführt“. Nicht „der Weg war das Ziel“, es gab einen Lichtblick, dem wir zustrebten.
 
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