Textatelier
BLOG vom: 02.07.2013

Nachhaltigkeit – nachhaltiger oder unhaltbarer Begriff?

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Auf einer Website, die fremdsprachigen Benutzern die Gelegenheit gibt, deutsche Begriffe nachzufragen (http://dict.leo.org), will ein Schreiber namens „bluehat“ Folgendes wissen (Quelle: „Nachhalten von Ist-Terminen und Störungen“):
 
„Die Hauptaufgabe der Terminplanung ist (...) das Nachhalten von benötigten Ist-Vorgangsdauern gegenüber den vom Terminplaner vorgesehenen Soll-Vorgangsdauern. Kommentar: „What the heck does Nachhalten mean in this context?“
 
Die Antwort darauf könnte lauten:
 
Es bedeutet „erfassen und verfolgen“, also etwa so viel wie „im Auge behalten“, „sich etwas merken“, z. B. beim Skat oder wenn die Tankuhr im Auto nicht funktioniert.
 
Die Uni Heidelberg erweitert diese Antwort noch: „Synonym für: aufpassen, sich aufschreiben, überprüfen; ursprünglich im Deutschen Rechtswörterbuch für: etwas freihalten, etwas aufbewahren, befolgen.“
 
„Nachhaltig“ ist das Adjektiv, das aus „nachhalten“ konstruiert wurde, jemand, der etwas „nachhält“, ist also „nachhaltig“ (Duden: „sich auf längere Zeit stark auswirkend“). Wenn ausgedrückt werden soll, dass „etwas so ist“, kann man aus diesem Adjektiv ein Nomen (Substantiv) mit einem Suffix machen, das „Nachhaltigkeit“ heisst.
 
Dieser Begriff wird in den letzten Jahren gern benutzt. Er soll wiederum eine Übersetzung des englischen Begriffes „sustainability“, häufig auch „sustainable development“, sein, wobei „to sustain“ mit „aufrechterhalten, stützen, erleiden, aushalten, ertragen, unterstützen, Kraft geben“ übersetzt werden kann und „to be able to“ als die Fähigkeit dazu. „Development“ heisst „Entwicklung“.
 
Der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist schwammig und die Definition verwirrend. Die Erläuterungen zum Begriff klingen so wie Fritz Reuters bekannter Ausspruch: „Die Armut kommt von der Powerteh“, also Armut gebiert Armut, denn die UNO schreibt: „Ohne ökologische Nachhaltigkeit können Erfolge im Kampf gegen die Armut nur von kurzer Dauer sein.“
 
Beschreibt der Begriff den Vorgang, etwas im Auge zu halten, sich zu merken, zu überprüfen, zu befolgen oder aufzubewahren – oder etwas, das in die Zukunft weist?
 
Ich versuche mich an ein paar Beispielen:
 
„Die Nachhaltigkeit bei der Erziehung des Kindes ist in dieser Familie aus der Unterschicht notwendig.“ = Das Jugendamt sollte in überschaubaren Zeitabständen das Wohl des Kindes kontrollieren.
„Die Nachhaltigkeit der Diät lässt zu wünschen übrig.“ = Die Diät nützt nichts.
„Die Nachhaltigkeit des Ausstiegs aus der Kernenergie hält an.“ = Die Auswirkungen, die der Beschluss hat, die Kernenergie als auslaufende Energieerzeugung anzusehen, sind über längere Zeit feststellbar.
 
Ob ich dabei richtig liege, will ich wissen und recherchiere weiter:
 
Das Prinzip der Nachhaltigkeit kommt aus dem 18. Jahrhundert. 1713 hat Hans-Karl von Carlowitz den Begriff in seinem Buch benutzt, in dem beschrieben wird, wie eine sinnvolle Forstwirtschaft funktioniert, nämlich, indem man keinen Kahlschlag betreibt, sondern gleichzeitig auch wieder aufforstet. Damit erreicht man, dass der Wald dauerhaft wirtschaftlich genutzt werden kann.
 
Die Suchmaschine im Internet stellt interessante Ergebnisse zusammen: Bei www.nachhaltigkeitsrat.de lese ich: „Nachhaltige Entwicklung heisst, Umweltgesichtspunkte gleichberechtigt mit sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu berücksichtigen.“
 
Wikipedia definiert Nachhaltigkeit als ein „Handlungsprinzip zur Ressourcen-Nutzung, bei dem die Bewahrung der wesentlichen Eigenschaften, der Stabilität und der natürlichen Regenerationsfähigkeit des jeweiligen Systems im Vordergrund steht.“
 
Also: Wenn ich jetzt ein Kind zeuge, bewahre ich die natürliche Regenerationsfähigkeit des Systems; dadurch werden Ressourcen genutzt. Ich berücksichtige Umweltgesichtspunkte gleichberechtigt wie soziale und wirtschaftliche, und die Tat wirkt sich auf längere Zeit stark aus. Ich handle also nachhaltig! Oder etwa nicht?
 
Die Website der Bundesregierung schreibt: „Bildung vermittelt Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nachhaltiges Denken und Handeln. Sie werden befähigt, Entscheidungen zu treffen und abzuschätzen, wie sich diese auswirken.“ Und an anderer Stelle wird das „Leitbild der Nachhaltigkeitsstrategie“ so erklärt: „Generationengerechtigkeit, Lebensqualität, sozialer Zusammenhalt, internationale Verantwortung: Das sind die Leitlinien einer nachhaltigen Entwicklung.“
 
Meines Erachtens sind das keine Leitlinien, sondern leere Begriffe! Es kommt noch schöner, unter der Überschrift „Managementkonzept“ wird erläutert: „Die Nachhaltigkeitsstrategie soll praktische Orientierung zu nachhaltigem Handeln von Politik und Gesellschaft erleichtern. Das Managementkonzept umfasst die Managementregeln, die Indikatoren und das Monitoring.“
 
Dann kann man den „Nachhaltigkeitsstrategiestrategen“ nur viel Erfolg wünschen! Womit eigentlich?
 
Der Chemiekonzern Henkel lässt zu seinen Strategen Folgendes verlauten: „Nachhaltigkeit bei Henkel - In unseren Unternehmenswerten haben wir uns verpflichtet, unsere führende Rolle im Bereich Nachhaltigkeit weiter auszubauen. Als Vorreiter im Bereich Nachhaltigkeit wollen wir neue Lösungen für eine nachhaltige Entwicklung vorantreiben und unser Geschäft verantwortungsvoll und wirtschaftlich erfolgreich weiterentwickeln. Das umfasst alle Aktivitäten unseres Unternehmens – entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Auf Basis dieses Anspruchs haben wir unsere Nachhaltigkeitsstrategie bis 2030 entwickelt: Wir wollen mit weniger Ressourcen mehr erreichen und unsere Effizienz in den nächsten 20 Jahren verdreifachen.“
 
„Mit weniger mehr erreichen“ ist eine neue Auslegung des Begriffs. Das Unternehmen versteht also unter Nachhaltigkeit Gewinnstreben! Oder etwa nicht?
 
Nachhaltigkeit soll unter dem „3-Säulen-Prinzip“ gesehen werden: Über den 3 Säulen „Ökologie“, „Ökonomie“ und „Soziales“ erhebt sich das Dach „Nachhaltigkeit“. Das Modell suggeriert, die Begriffe und was sich dahinter verbirgt, stünden gleichberechtigt nebeneinander. Alles soll unter diesen Oberbegriff fallen. Mein Gedanke ist nicht falsch, wie ich bei Wikipedia unter dem Begriff „Drei-Säulen-Modell“ lese, denn darin wird zwischen „starker und schwacher Nachhaltigkeit“ unterschieden. „Schwach“ sei das „Aufwiegen“ der Ressourcen der 3 Säulen, „stark“, dass „Ökonomie“ und „Soziales“ der „Ökologie“ unterzuordnen sei.
 
Letzteres ist in Deutschland die Politik der „Grünen“, inzwischen aber auch aller Parteien, die selbstbestimmtes, selbstverantwortliches Handeln durch Gesetze begrenzen lassen, was sich am Beispiel des Gesetzes zum Tabakkonsum in der Öffentlichkeit ablesen kann. Begründet wird das unter der Bezeichnung „Nachhaltiger Konsum“, wie das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit erläutert. Aber das ist nur ein Aspekt unter dem schönen Begriff „nachhaltiger Konsum “, der beim „Umweltbundesamt“ gleichberechtigt neben „Umweltbewusstsein und ökologische Gerechtigkeit“ steht.
 
Das sind wiederum schöne Begriffe, unter die sich alles unterbringen lässt, wie in ein Prokrustesbett. Denn Windräder in die Nordsee zu bauen und quer durch die Republik eine Schneise für Hochspannungsmasten zu ziehen, die die erzeugte Elektrizität in den Süden transportieren, ist „nachhaltiges Umweltbewusstsein“, herkömmliche Glühbirnen gezwungenermassen durch andere Leuchtmittel zu ersetzen, die Quecksilber und sonstige Schadstoffe enthalten, ist „nachhaltiger Konsum“, um nur 2 Beispiele zu nennen. Ob das Gesetz zur Freilandhaltung, von den Tierschützern statt Käfighaltung befürwortet, bei dem manchmal mehr als 10 000 Hühner fröhlich aufeinander einhacken, dem Federvieh „nachhaltige ökologische Gerechtigkeit“ bringt?
 
Wenn in unseren Schulen wirklich „nachhaltiges Denken“ durch Bildung vermittelt wird, ist das nur zu begrüssen. Vielleicht kommt ja die Erkenntnis heraus, dass überall mit Phrasen argumentiert wird, ohne die dahinter liegende Ideologie offen zu nennen. Und wenn die jungen Menschen damit befähigt werden, „Entscheidungen zu treffen“, könnte ein begrüssenswertes Handeln auch zur Forderung führen, dass Politik, Organisationen und die Wirtschaft sagen, was sie meinen und nicht nur Phrasen dreschen!
 
Quellen
 
 
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