Textatelier
BLOG vom: 10.09.2013

Lebendige Dorfgeschichte: Betagte Bibersteiner feierten

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Wenn sich alte Leute (wie unsereiner) treffen, ist gleich von Anfang an viel von Krankheiten die Rede – aufgrund des ersten Eindrucks und der abgedroschenen Nachfragefloskel: „Wie geht es dir?“ Der Rücken mit einem Teil des zentralen Nervensystems macht in mehreren Fällen Schwierigkeiten, bereitet Schmerzen, eine wahre Volksseuche. Dazu tragen nicht selten ein gewisses Übergewicht und die Vernachlässigung eines Trainings der Rückenmuskulatur bei. Auch die Augen wollen manchenorts nicht mehr so recht, lassen zu wenig Licht eintreten, zeigen verschwommene Bilder, oder es ziehen gar die Lider abwärts. Die Muskeln der Lidfalte erschweren das Offenhalten. „Mä mues halt öppis ha“, sagte ein bekannter Bibersteiner schicksalsergeben („Unter irgendetwas muss man eben leiden“). Und anderweitig sind es die Hüften, die Schmerzen bereiten, nicht selten, wenn sie operativ verpfuscht wurden, so dass das Gleichgewicht nicht mehr hergestellt werden kann und Stöcke oder ein Rollator zu ständigen Begleitern werden. Beim Treffen von Bibersteiner Jubilaren am 07.09.2013 auf dem mit Tischen und Bänken bestückten Rasen vor dem Kiosk-Restaurant der Biobadi nahm man’s bei sich aufheiternder Stimmung mit Galgenhumor. Und der Spruch, dass der Jurasüdhang, an dem das blumengeschmückte und an sich schon schmucke Dörfchen mit dem massigen Schloss klebt, immer steiler werde, machte die Runde. Einzelne Bewohner, denen alles allzu stotzig wurde, fliehen die zunehmende Abhaldigkeit durch einen Umzug in eine kleinere Wohnung im flachen Mittelland, vorzugsweise in oder rund um Aarau. Nicht zu weit von Biberstein weg.
 
Der hier allenfalls erweckte Schein, die netten Bibersteiner seinen eine krankheitsanfällige Menschenansammlung, trügt. Bei genauerem Hinsehen ist das pure Gegenteil der Fall. Denn auf Einladung der vereinigten Musikgemeinschaft Küttigen-Biberstein (eine „Einfache Gesellschaft“ aus den selbständig gebliebenen Musikgesellschaften der beiden benachbarten Gemeinden) hatten sich diejenigen Urgesteine des knapp 1500 Einwohner zählenden Orts Biberstein nahe bei der gebändigten Aare versammelt – Leute, welche im laufenden Jahr 2013 ein tief in die Vergangenheit des letzten 20. Jahrhunderts zurückreichendes Jubiläum wie eine Diamant-, Platin- oder Goldhochzeit oder ihren 80. oder 85. Geburtstag feierten konnten. Die Aktuarin der Musikanten aus Biberstein und Küttigen, die in festlichen Gewändern mit den Smoking-ähnlichen Revers aufmarschiert waren, Tina Rothacher, und Markus Schaffer, Vorstandsmitglied, hatten im Vereinsauftrag mit netten Worten zu einem kleinen Konzert und zu einem Imbiss eingeladen, und über 50 Personen folgten ihrem Aufruf zu einer gemütlichen Unterhaltung und zum Austausch von Erinnerungen. Der stattliche Aufmarsch liess den Schluss zu, dass die Ehen in Biberstein besonders stabil und auch die äusseren und inneren Umstände zur Erreichung eines hohen Alters hier günstig sind und man deshalb durchaus noch zu Abenteuern in Gestalt von Festivitäten aufgelegt ist.
 
Die Musikanten spielten zum Auftakt auf dem Badi-Rasen einen Marsch aus der Abenteuerfilmserie „Indiana Jones“, der fiktiven Hauptfigur. Die Tambouren Roger Wehrli und Daniel Frei trommelten zwischendurch den Basler Marsch „Binggis“ (so bezeichnet man junge Cliquenmitglieder) und die Schweizer- und Franzosen-Tagwache in den Abend hinein. Der sogenannte Ansatz (Spannung der Lippen beim Anblasen) war gut und vielversprechend. Beschwingte Klänge bis hin zur Bossa-Nova-Leichtigkeit sorgten unter dem gutgelaunten Dirigenten Erich Weber für den Auftakt zu einem heiteren Abend. Wenn man zusah, wie die 2 Zugposaunisten ihre Züge nach den Stücken entwässerten, wurde einem klar, dass das Musizieren Durst gibt. Der bereitstehende Regen, der erst nach Mitternacht einsetzte, mochte kein Spielverderber sein, hielt sich auf Distanz. Na denn: Prost.
 
Ich sass am Tisch vis-à-vis von Walter Bopp (80), meinem Nachbarn von schräg gegenüber, der mehr als 60 Jahre lang in der Bibersteiner Musikgesellschaft mitgeblasen hatte. Und in dieser Atmosphäre schien mir, als ob die jüngere Bibersteiner Dorfgeschichte, die auch als dickes Buch vorliegt, aufleben würde. Walter erzählte mir von einem kuriosen Schlossheim-Bewohner, der jeden Morgen in einen Dorfladen im Rombach (Gemeinde Küttigen) ging, sagte, er habe Geburtstag und die hohle Hand machte. Er zeigte damit auf, dass der Rhythmus der Geschichte nicht unbedingt dem Dezimalsystem oder dem durch die Zahl 5 Teilbaren folgen muss und dass jedem Jubiläum der Aspekt von Willkürlichkeit anhaftet. Und dennoch verströmt ein ähnliches Quantum an Jahren eine verbindende Kraft. Man weiss, wovon man redet.
 
Walter nahm einen Schluck Bibersteiner Wein, wie er ihn bis vor etwa 3 Jahren selber angebaut hatte, und erinnerte sich an die Zeit des legendären Chacheliwagens. Die Ehefrauen brachten für ihre in Aarau und Umgebung tätigen Männer in den sogenannten Chacheli (Gefässen für Speisen) in einem mit isolierenden Stoffen ausgestopften, rechteckigen Körbchen das Mittagessen, das zu ihnen an den Arbeitsort gekarrt wurde. Die umsorgenden Köchinnen nutzten die Gelegenheit des Zusammentreffens bei der Speisenabgabe im Dorf Biberstein zu einem Schwatz, der manchmal noch im Gange war, wenn der Fuhrhalter mit den leeren Gebinden wieder zurückkam, nach 2 oder 3 Stunden also. Wirtsleute hatten den Hausfrauen Stühle an die Strasse gebracht. Die harten Zeiten wurden so etwas relativiert. Und Walter erzählte von einer bösen alten Frau, die immer einen fürchterlichen Migräneanfall produzierte, wenn etwas nicht nach ihrem harten Grind ging. Zu allem Elend sei sie noch sehr alt geworden (92).
 
Doch bei der Biobadi lief alles rund; die Stimmung war ausgezeichnet, die Bewirtung aufmerksam und grosszügig. Das Essen erfüllte alle Anforderungen an die altersgerechten Bedürfnisse: verschiedenfarbige Salate und ein grilliertes Schweinssteak zur Sicherstellung des Eiweisshaushalts, dem eigenen Muskelabbau entgegensteuernd.
 
Einer der Höhepunkte war die Erwähnung der Jubilare, die sich angemeldet hatten und erschienen waren, durch die Bibersteiner Musikanten-Präsidentin Ruth Joho-Siegrist. Mit Applaus, wohl für unser aller Durchhaltevermögen, bedacht wurden: 
Diamanten-Hochzeiter (60 Jahre):
Dora und Paul Heuberger (13.11.1953).
 
Platin-Hochzeiter (55 Jahre, auch Smaragd-Hochzeit genannt):
Jacqueline und Josef Schmid (10.03.1958).
 
Goldene Hochzeitspaare (50 Jahre):
Eva und Walter Hess (09.03.1963)
Alice und Walter Trachsel (22.03.1963)
Hildegard und Arnold Metzger (01.06.1963)
Lisa und Ernst Ott (26.07.1963)
 
85. Geburtstag:
Lisa Amsler (09.04.1928)
Max Affolter (2.05.1928).
 
80. Geburtstag:
Gertrud Widmer (29.01.1933)
Maria Nadler (30.01.1933)
Erika Affolter (19.02.1933)
Ruth Wehrli (07.03.1933)
Dora Heuberger (20.05.1933)
Franz Stöckli (23.06.1933)
Ruth Ott (01.08.1933)
Elisabeth Frischknecht (23.08.1933)
Walter Bopp (18.11.1933). 
Eine blumige Hochzeit (wenn er verwelkt und sie verduftet) war nicht dabei. Noch nie waren so viele Leute an eine Jubiläums- beziehungsweise Jubilarenfeier gekommen. Wir Alten müssen uns das Hochzeitsdatum oder unseren Geburtstag nicht einmal merken. Die Gemeindekanzlei weiss das schon, bietet die Betroffenen auf, und die Gemeinde, als deren Vertreter der Kulturminister René Bircher sprach, unterstützte den Anlass. Summa summarum: Es lohnt sich, in Biberstein reif und alt zu werden. Wenn wieder einige Früchte das Zeitliche gesegnet haben werden – man weiss ja nie! – rücken wieder andere nach.
 
Seien wir zuversichtlich. Jeder Tag ist eine Geburtstagsfeier wert. Gemeinsam oder allein.
 
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