Textatelier
BLOG vom: 18.09.2013

Tafeln in den Zwetschgen-Landschaften des Tafeljuras

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Wer nach 50 bemüht sei, seinen Geist zu trainieren und wachzuhalten, soll degustieren und nicht Kreuzworträtsel lösen. Der Vizepräsident des Slow-Food-Conviviums Basel Stadt und Land (gegründet 1998), Reto Muggli, sagte das als Zitat zu Beginn der Exkursion in die Zwetschgenlandschaften im Tafeljura. Mit diesem Degustieren im Rahmen des Verzehrs von regionalen Landprodukten wie alten Zwetschgensorten von Hochstammbäumen kann man sogar die Struktur und das Aussehen ganzer Landschaften beeinflussen – ein Mehrfachnutzen!
 
Die hohe, segensreiche Kunst des Degustierens ist eine Meisterleistung unserer vom Gehirn gesteuerten vielfältigen sensorischen Systeme, welche die Reize lokalisieren und identifizieren können. 5 Sinnessysteme (Modalitäten), das Fühlen, der Geschmack, der Geruch, das Sehen und Hören, die wiederum in zahlreiche Subsysteme unterteilt werden können, sind im Einsatz. Es braucht eine jahrelange Übung, um hier durchzufinden. Doch ist das Degustieren immer ein Höhepunkt, ein Genuss, nachdem man sich über Herkunft, Anbau und Besonderheiten eines Produkts, ob naturbelassen oder kunstvoll zubereitet, ins Bild gesetzt hat und es von bester Güte ist.
 
Wir prüften hochwertige Lebensmittel am 14.09.2013 im Baselbiet, in der Gegend von Bad Ramsach und Häfelfingen, auf Einladung der regionalen Slow-Food-Organisation mit allen unseren Sinnen gründlich. Im Kurhotel Bad Ramsach (www.bad-ramsach.ch), wo bis zum 26.09.2013 Genuss- und Zwetschgenwochen durchgeführt werden, servierte uns Geschäftsführer Paul Schmutz einige Kostproben wie marinierter Läufelfinger Weissschimmelkäse, Trockenwurst, eine Art Frühlingsrolle mit Zwetschgensauce und Zwetschgen-Truthahnravioli und ein brioche-ähnlicher, duftender Zopf (Züpfe), zubereitet vom offensichtlich talentierten Küchenmeister Joël Beyeler.
 
Unter wolkenverhangenem Himmel breitete sich die sattgrüne Tafeljuralandschaft vor uns aus, in die wir nun als Exkursionswanderer gestärkt einstigen. Gelegentlich schalteten wir einen Halt ein und hörten der Ökologin Dora Meier aus Wenslingen zu, von der die Impulse zur Wiederbelebung der Zwetschgenhochstammkulturen stammten. Dazu gehört auch, dass die Zwetschgen zu einem angemessenen Preis gastronomisch verwertet werden können, worauf noch detailliert hingewiesen werden soll.
 
Frau Meier erzählte, wie auf Geheiss der Eidgenössischen Alkoholverwaltung zur Schonung der Lebern des Volks seinerzeit Hochstämmer ausgerissen wurden, von Subventionsgeldern geschmiert. Die Landschaften, die vorher wie ein Kunstwerk aus dem Tachismus (Fleckenmuster) aussahen, wurden nun kahler, mit verheerenden ökologischen Auswirkungen. Ein ähnlich amtlich inszeniertes Drama spielte sich auch hinsichtlich der Bacheindolungen an ... heute werden die Bäche wieder aus dem Korsett befreit.
 
Umso mehr freute man sich während der Wanderung nach Häfelfingen an den klassischen Hochstammbäumen, unter denen das Vieh neben Rosenbüschen und Schwarzdorn weiden kann – ein doppelter Nutzen. Die Weiden sind oft an Waldrändern gelegen, was die Artenvielfalt (unter anderem Spechte und andere Waldvögel) vergrössert. Daneben finden sich auch Niederstammkulturen, die einer intensiveren Pflege bedürfen, in denen aber die Erntearbeit vereinfacht ist. Den Hochstammbäumen ist es gestattet, alt zu werden; Niederstammkulturen ihrerseits sind nach etwa 20 Jahren verbraucht und müssen entfernt oder durch andere Sorten ersetzt werden; eine gewisse Fruchtfolge muss schon sein. Ein alter, abgestorbener Hochstammbaum oberhalb der nach Häfelfingen führenden schmalen Strasse durfte stehenbleiben und seinen ökologischen Nutzen weiterhin für Flechten, Insekten usf. bewahren.
 
An einem Aussichtspunkt am unteren Rand eines Walds bei der Abzweigung nach Rümligen schauten wir übers Land, das kaum durch unproportionierte Mammutbauten beeinträchtig ist: nach Rünenberg und Häfelfingen, zu den Vogesen und zur Sissacherflue. Die Dörfer sind im Tafeljura mit seinen ausgedehnten Flächen und breiten Tälern, der für Winde gut zugänglich ist, nie ganz oben an den Anhöhen, sondern etwas tiefer unten, an windgeschützter Lage eingebettet.
 
In diesem tafeljurassischen Gebiet wurde bis 1850/60 noch die Dreizelgenwirtschaft (Dreifelderwirtschaft) betrieben. Hier lag immer 1/3 der Fläche brach, d. h. der natürliche Aufwuchs wurde als Weide benützt. Die Ackerfläche wurde von der Dorfgemeinschaft bebaut. Das änderte sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Eisenbahn. Getreide wurde importiert, Obst aber, auf das sich das Baselbiet spezialisierte, exportiert. Der Streuobstbau dehnte sich bis 1950 massiv aus, wie Frau Meier berichtet, bis dann eben die Fällaktionen losgetreten wurden ... und ab 1993 wurden Hochstammbäume wieder gefördert, wozu die Hauszwetschge und die Bühler Zwetschge gehörten. Auch die Siloballenwirtschaft dehnte sich neuerdings aus. Wenn das Gras noch vor der Blüte gemäht und in die Plastikfolien verpackt wird, hat dies katastrophale Folgen für die Insektenwelt.
 
Was immer in der Landschaft geschehen mag – die Konsumenten können darauf Einfluss nehmen. So sah es denn Dora Meier (E-Mail: info@posamenter.ch) als ihre Aufgabe an, zusammen mit einem wachsenden Kreis von Helfern das Presidio „Zwetschgenlandschaften im Tafeljura“ zu initiieren, vor allem in der Nähe von Bächen und in der Talsohle. Presidi sind Projekte von Slow Food. Sie zielen darauf ab, die kleine, bedrohte Lebensmittelproduktionen zu bewahren, die mit hochwertiger Qualität und nach handwerklicher Tradition hergestellt werden – es geht somit um Naturschutz und ebenfalls um die Bewahrung von kulturgeschichtlichem Wissen, das meistens der Selbstversorgung diente. (Bei den Zwetschgentörtchen, die bei Coop zu kaufen sind, spricht man auch von Posamenter-Produkten. Posamenter, also Besatzartikel wie Bänder und andere Schmuckelemente, wurden früher in auf Webstühlen in den Bauernhäusern als Nebenverdienst hergestellt.)
 
Die Herstellung von Produkten aus Zwetschgen erster Güte ermöglicht es auch, für die Früchte anständige Preise zu bezahlen. Galten das Kilo Zwetschgen vor der Förderung noch 23.5 Rappen, wurden dann 1 CHF bezahlt, und heute sind es 1.60 CHF. Die Bauern pflanzen wieder Zwetschgenbäume, weil sich der Aufwand lohnt.
 
Mit all diesem Wissen versehen, genossen wir die Landschaft entsprechend gründlicher. Wir kamen nach dem Spaziergang am Nordwestabhang des Wisenbergs durch das schöne Juradorf Häfelfingen im Bezirk Sissach. Ein traditionelles, mächtiges Bauernhaus beim Eimattbach mit Rundbogen-Scheunentor und landwirtschaftlichem Gerät an der Aussenwand verlockte zum Fotografieren.
 
Alsdann steuerten wir dem Biohof Horn zu, kamen bei einer Weggabelung an einem mit vielen Früchten behangenen, ausgewachsenem Mispelstrauch mit weit ausladender Krone vorbei. Die vielen Früchte, auch Steinäpfel genannt, näherten sich der Reife; vor der Ernte wartet man gern einen Frost ab. Er ersetzt eine längere Lagerung, wobei bittere Tannine abgebaut werden. Dann verarbeitet man die Mispeln zu Konfitüre und Gelees.
 
Unversehens erreichten wir den stattlichen Hof Horn, ein Familienbetrieb, umgeben von Hecken, Obstbäumen, Birken und einem Naturweiher. Wir wurden von Vreni und Peter Wüthrich freundlich willkommen geheissen und in die Geheimnisse dieses Betriebs mit eigenem Hofladen eingeführt. Darin gibt es neben Natura-Beef, Konfitüre etc. auch getrocknete Zwetschgen – in 1 kg sind etwa 210 Früchte vorhanden. Die Trockenzeit beträgt 48 Stunden. In einem Zwetschgentörtli sind 5 bis 6 Trockenzwetschgen als konzentriertes Mus eingebaut.
 
Und unter Bäumen bei zeitweiligem schwachem Regen kam das eingangs besungene Degustieren zum Zuge. Dort waren ein schmackhaftes Holzofen-Buurebrot, das wir mit Butter und einer hofeigenen Zwetschgenkonfi beluden, vorbereitet, ferner Geisskäse und Gruyère und dazu Prune d’Or, ein süss-saures Zwetschgenmus, das Fleisch- und Käsespeisen, Gschwellti, Omeletten oder asiatische Menüs vortrefflich ergänzt – es ist sozusagen ein einheimisches Chutney. Die Bottwenwurst erweckte den Eindruck von Kraft und Saft. Auch Läckerli mit Zwetschgen und Honig, Baumnüssen, Kirsch und Gewürzen trafen wir an. Die früh heranreifenden Fellenberg- und leichter zerfallende Bühler Zwetschgen bildeten für vieles das Basismaterial, auch für ein herrliches Zwetschgenmus, das nicht überzuckert war und den herb-säuerlichen Wohlgeschmack der vollreifen, vitalstoffreichen Früchte zum Vorschein brachte.
 
Fruchtzucker ist natürlich ebenfalls eingebunden, ansonsten sich nicht Wespen in solch grosser Zahl eingefunden hätten. Sie stürzten sich förmlich auf den Kompott in all seinen Abwandlungen, hielten mit, unsere Begeisterung teilend. Man musste immer aufpassen, dass man mit den Zwetschenzubereitungen nicht gleich auch noch eine Wespe verschluckte, weil diese bei drohender Gefahr oft genug an den süssen Dingen förmlich kleben blieben, davon nicht lassen konnten. Die hübschen Tiere, die uns und unsere Teller umschwärmten, zeigten sich nicht aggressiv, und wir nahmen sie so freundlich auf wie die Baselbieter und Aargauer. Es war für alle Lebewesen und alle Sinnesorgane genug da.
 
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