Textatelier
BLOG vom: 09.11.2013

Der Anruf: Protokoll einer kuriosen Reisebekanntschaft

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Es gibt Erlebnisse im Leben, die können einen Menschen zur Verzweiflung bringen. Sie führen zu Ängsten, Unruhe, nervösem Zittern, Gefühlsausbrüchen, ja sogar zu Weinkrämpfen. Und das wochenlang und länger. Haben Sie schon einmal die absolute Hoffnungslosigkeit erlebt?
 
Aber lassen Sie mich die Geschichte von Anfang an erzählen: Vor einigen Wochen sass ich im Zug von Frankfurt am Main nach München. Ich hatte es mir schon etwas gemütlich gemacht. Die 2 Mitreisenden beschäftigten sich mit sich selbst, der eine mit seinem Laptop, auf dem er etwas schrieb, der andere hatte ein Buch in der Hand und las. Ich versuchte, den Titel des Buches zu erkunden. Mein Nachbar im Abteil las Friedrich Nietzsche. Mir fiel ein Satz aus seinen Unzeitgemässen Betrachtungen ein, den ich mir gemerkt hatte:
 
Niemand kann dir die Brücke bauen, auf der du gerade über den Fluss des Lebens schreiten musst, niemand ausser du allein.
 
Die Tür des Abteils ging auf, und ein etwa 50-jähriger Mann mit grauen Haaren, gekleidet in einen Trenchcoat, fragte, ob der Platz neben mir noch frei sei. Ich bejahte. Er zog seinen Mantel aus, trug einen Rollkragenpullover und einen dunklen Anzug. Seinen kleinen Koffer verstaute er unter seinen Platz. Ich bin nicht neugierig, sondern interessierte mich nur ein wenig dafür, wer denn für die nächste Stunde mein Sitznachbar sein würde. Mir machte er einen etwas wirren Eindruck; seine Hände zitterten leicht.
 
Ich holte mir ein Buch über Problemlösungstechniken aus der Tasche und begann zu lesen.
 
Der Mann neben mir sass keine Minute still, ich bezeichne ihn als sehr nervös.
 
„Darf ich Sie was fragen?“
 
Ich bejahte: „Fragen Sie ruhig!“
 
Er zögerte. „Ich störe Sie auch nicht?“
 
„Ich kann das Buch auch später weiterlesen!“, antwortete ich.
 
„Es geht um eine Problemlösung; ich sehe gerade, dass Sie sich damit beschäftigen.“
 
„Es gehört zu meinem Job. Ich bin Unternehmensberater“, erwiderte ich.
 
„Vielleicht können Sie mir ja einen Rat geben.“
 
Er zögerte, dann fuhr er fort.
 
 „Ich kann Sie aber nicht dafür bezahlen.“
 
Ich bekräftigte, dass ein Honorar nicht in meiner Absicht stünde.
 
„Ich habe gerade einen Anruf bekommen. Besser gesagt, jemand hat mir auf die Mailbox gesprochen. Ich hatte wohl im Lärm auf dem Bahnhof das Klingelgeräusch nicht gehört. Darf ich Ihnen das einmal vorspielen?“
 
Ich sagte: „Wenn unsere anderen Mitreisenden nichts dagegen haben.“
 
Er schaute in die Runde, der Mann am Laptop reagierte nicht, der Nietzsche-Leser nickte zustimmend.
 
Er schaltete die Mailbox an. Die Stimme, die zu hören war, klang dumpf, wie in einem kleinen Raum gesprochen. Der Anrufer sprach leise und abgehackt. Ich musste schon genau hinhören, um ihn, es handelte sich eindeutig um eine männliche Stimme, zu verstehen.
 
„Ich weiss nicht, wer Sie sind, ich habe einfach eine Nummer eingedrückt, weil ich keine auswendig weiss. Helfen Sie mir! Ich liege hier im Dunkeln. Ich glaube, es ist ein Sarg. Es ist ganz still hier. Bitte helfen Sie mir, ich will nicht lebendig begraben werden!“
 
Die Stimme klang verzweifelt. Danach brach sie ab.
 
„Das war’s!“, sagte mein Sitznachbar. „Ich zittere nur noch. Ich weiss nicht, was ich jetzt machen soll.“
 
Im Abteil war es einen Moment ganz ruhig, nur die Geräusche des fahrenden Zuges drangen hinein.
 
Ich fragte: „Haben Sie die Nummer des Anrufers?“
 
„Können Sie einmal schauen, ich bin zu nervös dazu“, erwiderte er.
 
Ich nahm das Handy und drückte die Tasten, die mich zur Nummer des Anrufers führte. Die Nummer war unterdrückt. Ich sagte es meinem Sitznachbarn.
 
„Was soll ich jetzt tun?“, fragte er.
 
„Gar nichts, sie müssen abwarten, ob er noch einmal anruft.“, antwortete ich.
 
Mehr zu mir selbst fügte ich noch hinzu: „Niemand ausser er selbst kann diese Brücke bauen.“
 
„Wie meinen Sie das?“ Er schaute verwirrt und überrascht.
 
Ich erwähnte den Satz von Nietzsche, der mir vor einer halben Stunde eingefallen war.
 
Wenn er nicht noch einmal anruft, wird sein Fluss des Lebens versiegen!“, sagte ich.
 
Das Gespräch stockte. Der eine hing seinen Gedanken nach, ich schaute in mein Buch.
 
Etwa nach einer Stunde klingelte sein Telefon.
 
Der Angerufene bat mich, das Gespräch anzunehmen. Er sei zu aufgeregt dafür.
 
Ich nahm das Handy an und meldete mich.
 
„Konnten Sie etwas für mich tun?“, hörte ich eine schwache Stimme.
 
„Ich kann nur etwas für Sie tun, wenn Sie mir Ihren Namen sagen und aus welchem Ort Sie kommen oder wo Sie jetzt sein könnten. Ich kann Ihre Nummer nicht herausbekommen“, ich versuchte ganz ruhig, deutlich und fest zu sprechen.
 
Ich hatte das Telefon auf laut gestellt und liess meine Nachbarn mithören. Ich holte einen Kugelschreiber aus meiner Jacke, gab ihn meinem Gegenüber und machte ihm ein Zeichen, mitzuschreiben.
 
Der Anrufer sprach stockend mit schwacher Stimme: „Ich heisse Heinz Deutschmann, wohne in Wuppertal.“
 
„Wann sind Sie geboren?“, fragte ich.
 
Die Antwort kam prompt. Der Anrufer war 59 Jahre alt. Dann brach das Gespräch ab.
 
Der Zug fuhr in den Bahnhof von München ein. Der Mann im Rollkragenpullover nahm seinen Koffer und stürzte auf den Bahnsteig. Als ich ausgestiegen war, konnte ich ihn in der Masse der Reisenden nicht mehr ausmachen.
 
Der Vorfall liess mir keine Ruhe. Immer wieder fragte ich mich, ob ich richtig gehandelt hatte, ob ich mehr hätte tun können. Und natürlich, ob der Anrufer aus dem Sarg gerettet werden konnte.
 
Die Wochen vergingen. Ich hatte in Amsterdam zu tun. In einem  Antiquariat stiess ich auf ein Buch mit dem Titel  Waar gebeurd!", übersetzt  „Wirklich geschehen". Das Buch ist eine Sammlung übersetzter Artikel aus den Jahren 1870/71der englischen Wochenzeitschrift „The Days’ Doings“. Es enthält eine grosse Anzahl von glaubwürdigen und ausgeschmückten Ereignissen aus England und der Neuen Welt. Eine Geschichte hat den Titel „Vom Tod auferstanden“. Ganz ausführlich schildert ein Mann einen Bekannten mit Namen Ernst, den er als Gewohnheitstrinker’ bezeichnet, wie er ihn nach Jahren wiedersieht und ganz überrascht von ihm erfährt, dass er verheiratet sei. Einige Wochen später, als der Erzähler zufällig an einem Leichenhaus vorbeilief, hörte er genau diese Worte: „Vom Tode auferstanden“. Als er eintrat, sah er Herrn Ernst in einem Zustand, der ihm wie ein Delirium tremens vorkam, ausgelöst dadurch, dass seine Frau, die auf einem Tisch in der Leichenhalle aufgebahrt war, sich plötzlich aufgerichtet hatte. Danach sei Herr Ernst durch diesen Schreckensmoment tot umgesunken und wurde statt seiner Frau auf den Tisch gelegt. Die Frau sei übrigens nicht mehr zu klarem Verstand gekommen und 9 Monate später gestorben. Der Artikel endet mit den Worten: „Leider! Leider! – Arme Marie Vignon!"
 
Im einem Büchergeschäft stiess ich auf das aktuelle „eos“, ein belgisches Monatsblatt „over wetenschap", das mit  „Scientific American" kooperiert. Die Ankündigung eines Artikels mit der Überschrift „Terechte Angst – Levend begraven", also  „Gerechtfertigte Angst – lebendig begraben"‚ interessierte mich, und so kaufte ich das Blatt. Der Aufsatz beschreibt alte und neue Erfindungen, die es einer versehentlich lebend begrabenen Person ermöglicht, Kontakt aus dem Sarg zur Aussenwelt zu bekommen, nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern auch noch 1980 vom französischen Erfinder Fernand Gauchard mit einem Bewegungsmelder und 1995 einen Sarg mit allerlei Überlebensapparaturen des Italieners Fabrizio Caselli.
 
Es wird von einem Vorfall berichtet, der sich im Jahre 2010 ereignet hatte und der in The Times beschrieben wurde. Ein Imker aus Katowice/Polen, durch Bienenstiche „zu Tode gekommen“‚ wurde zufällig durch den Begräbnisunternehmer, der nur noch etwas aus den Taschen des vermeintlichen Leichnams für die Angehörigen holen wollte, im Sarg noch atmend angetroffen.
 
Die Darstellungen bestätigten bei mir die Glaubwürdigkeit des Vorgangs im Zug.
 
Einige Zeit später blätterte ich beim Friseur eine populäre deutsche Illustrierte durch. Darin fand ich einen Artikel, in dem von der Rettung eines Scheintoten berichtet wird. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass es noch eine Leichenschau geben muss, bevor die Leiche im Krematorium dem Feuer übergeben wird. Bei diesem Vorgang habe man festgestellt, dass der angeblich Verstorbene noch Lebenszeichen zeigte.
 
Überraschenderweise habe auch die Polizei einen Hinweis darauf bekommen, dass der Mann noch gelebt hat, und nach seinem Verbleib gesucht.
 
 
Quellen
De Vries, Ilonka & Leonard: Waar gebeurd! – Sentiment en sensaties uit de oude doos“, Uitgeverij A.W.Bruna & Zoon, Utrecht/Antwerpen 1979. Uitgeverij A.W.Bruna & Zoon, Utrecht/Antwerpen 1979.
 
Sauviller, Raf: „Levend begraven – De ultieme Angst“, in: eos, Maandblatt over Wetenschap, Uitgeverij Cascade nv., Antwerpen/Belgien.
 
Hinweis auf ein weiteres Feuilleton von Gerd Bernardy
13.09.2013: Eine Lebensgeschichte, ein besonderer Leichenschmaus
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