Textatelier
BLOG vom: 18.01.2014

Die Sonne geht auf! Hinführung zum Schönen dieser Welt

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Norddeutschland
 
Der griechische Gott Helios hatte die Aufgabe, den Sonnenwagen, der von 4 Pferden gezogen wurde, über den Himmel zu lenken.
 
Jedes Kind weiss, dass die Sonne im Osten aufgeht. Nicht alle wissen, dass das eine Täuschung ist. In Wirklichkeit zieht die Sonne nicht von Osten über den Süden zum Westen, um dort unterzugehen. Das sieht nur so aus, weil die Erde sich an einem Tag von Westen nach Osten um sich selbst dreht. Und die Sonne bleibt, wo sie ist. Wir Menschen machen die Drehung mit, schliesslich bewegen wir uns auf der Erdoberfläche und so erscheint es uns, als bewege sich die Sonne.
 
Die Illusion beachten wir nicht. Die Sonne geht morgens auf und abends unter, basta! Manchmal, wenn die Wolken nicht die Sicht auf unseren Stern verdecken, können wir das Naturschauspiel grandios erleben. Nicht wenige Menschen wandern auf die Berge oder gehen an den Strand, um es zu bewundern.
 
In meinem Bücherregal habe ich mein altes Lesebuch wieder entdeckt, das mich durch das 4. Schuljahr begleitet hat. Es heisst „Die sieben Ähren“; es gehört zur 6. Auflage, erschienen 1957 im Schwann Verlag in Düsseldorf. Der Buchverlag Schwann ist längst untergegangen, einige seiner Bücher erscheinen noch bei den Cornelsen-Schulverlagen in Berlin, nicht aber dieses Lesebuch.
 
Die erste Geschichte in diesem Buch ist, wie ich im Inhaltsverzeichnis lese, aus pädagogischen Gründen bearbeitet und neu gefasst worden und stammt ursprünglich von Rudolf Kinau. Auch ich habe sie ein wenig verändert. Sie trägt den Titel „Sie kommt!“
 
Kinau erzählt, wie der Vater frühmorgens seinen Sohn aufgeregt weckt und dann den Kopf durch die schräge Decke durch das Dachfenster steckt. Die Wohnung befindet sich also im obersten Stockwerk.
 
Der Junge fragte: „Was ist da, Vater?“„Schnell auf den Stuhl!“ sagt er. „Und fass mit an! Die Sonne – sie kommt allein nicht hoch; wir müssen ihr helfen!“
 
Dabei wird nicht darüber nachgedacht, dass so ein Vorhaben im Grunde richtiger Blödsinn ist, nein, aufregend und spannend war es für den Jungen. Er kletterte rasch auf den Stuhl, beide standen Kopf an Kopf in der engen Dachluke und freuten sich über das schöne Morgenrot.
 
Aber wo war die Sonne? Noch war nichts von ihr zu sehen.
 
„Da drüben muss sie kommen“, sagte Vater und zeigte mit der Hand, „da, beim Michaelturm, wo der Himmel glüht!“ – „Es scheint, der ganze Turm brennt, sagte der Junge. „Ist das wirklich nur die Sonne, Vater?“
 
Es war nur die Sonne. Erst viel später, als er im Unterricht „Das Lied der Glocke“ von Friedrich Schiller auswendig lernen musste, erfuhr er, dass seine Vermutung auch einmal zutreffen könnte: „Hört ihr’s wimmern hoch vom Turm? Das ist Sturm! Rot wie Blut ist der Himmel, das ist nicht des Tages Glut! Welch Getümmel Strassen auf! Dampf wallt auf! Flackernd steigt die Feuersäule durch der Strassen lange Zeile..“
 
Aber der Vater beruhigte heute seinen Sohn. „Doch, ja, das ist die Sonne“, sagte er. Der Junge fragte: „Aber warum kommt sie nicht heraus?“
 
„Vielleicht hat sie sich festgeklemmt zwischen Mauern, Schornsteinen, Masten, Hochhäusern und Brücken“, meinte er. Und dann forderte er den Sohn auf: „Wir wollen ihr helfen, wir wollen die Häuser etwas auseinander ziehen. Platz muss sie haben. Komm her und fasse mit an. Und nun gezogen: Zu-gleich! Zu-gleich!“ Eine grossartige Idee, beide zogen am Lukenrahmen, der Junge in die eine, der Vater in die andere Richtung. Die Sonne musste doch Platz kriegen!
 
Und dann die grosse Freude! Die Sonne erschien, zuerst ein Stück, dann immer mehr.
 
Der Vater dämpfte den Schaffensdrang des Jungen, nur noch vorsichtig sollten sie ziehen, sonst werde die Sonne zu schnell!
 
Und langsam stieg der Feuerball über die Dächer hinaus, stieg über den Turm und hing dann frei in der Luft: „Geschafft! Mit unserer Hilfe geschafft!“
 
Stolz machte sich beim Jungen breit, er hatte der Sonne geholfen. Das musste er der Mutter erzählen, gleich am Frühstückstisch!
*
Ist das nicht eine wunderbare Art und Weise, einem Kind die Schönheit unserer Welt nahe zu bringen? Ich meine, dieses Erlebnis werde er nicht vergessen. Schon bald wird er ihn belächeln, diesen Gedanken, man könne die Häuser verrücken, um der Sonne Platz zu machen.
 
Das scheint verrückt zu sein, aber dennoch – wie würde man das heutzutage nennen: „Pädagogisch (vonursprünglich : pais = Kind, Knabe und ágein = unterweisen, leiten) wertvoll.“ Ganz so wie die Geschichte von Helios und dem Sonnenwagen mit den 4 Pferden im alten Griechenland.
 
Leider weiss ich nicht mehr, was ich von dieser Geschichte mit nach Hause genommen habe, aber ich war beeindruckt!
 
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